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Operation,Götterdämmerung‘

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Es gibt in Paris zwei Nonkonformistenorgane: das satirische Wochenblatt „Le Canard enchain ė“ und die viermal im Jahr erscheinende Zeitschrift „Crapouillot“. Sieht man näher zu, so merkt man allerdings, daß es auch für das „Gefesselte Entchen“ Tabu-Themata gibt, bei denen es stur wird: etwa sein Antikleri- kalismus oder sein Antimilitarismus, mit denen es zuweilen arg übers Ziel schießt. So bleibt denn im Grunde als einziges Organ von Bedeutung, in dem wirklich jede Meinung zum Worte kommen kann, der „Crapouillot".

Schlägt man im Wörterbuch nach, so findet man als Übersetzung für dieses Wort: „Böller“. Dieser Knall erinnert daran, daß diese Zeitschrift im ersten Weltkrieg von „Grabenschweinen“ gegründet wurde, denen draußen an der Front allzuoft der Kragen platzte, wenn sie lasen, was die Presse des Hinterlandes an allzu leichtfertigem' Hurrapatriotismus fabrizierte. Es hat damals viele solche Grabenblätter gegeben. Aber nur der „Crapouillot“ dauerte von damals bis heute weiter — nur mit der Unterbrechung der Besetzungszeit im zweiten Weltkrieg — und ist zu einer öffentlichen Macht geworden.

Das ist in erster Linie das Verdienst seines Herausgebers Jean G a 1- tier- Boissiere, der als „letzter Boulevardier“ die Fauna des „Tout- Paris“ (der „Pariser Gesellschaft, auf die es ankommt“) bereichert und sich in seiner Zeitschrift ironischerweise als „der verehrte Direktor“ betiteln läßt. Es gibt keine installierte Macht, der er nicht am Zeug zu flicken wagte. Und es gibt keinen Verfolgten (oder Totgeschwiegenen, was meist schlimmer ist), dem „le vėnėrė Directeur“ (abgekürzt „le V. D.“) nicht beistünde. Dabei ist es ganz egal, ob das schwarze Schaf sich durch seine politischen Überzeugungen, durch philosophische oder theologische Häresien oder einfach durch seinen Lebenswandel unbeliebt gemacht — im „Crapouillot“ findet es auf jeden Fall seine Tribüne. Und die Zeitschrift hat ihre Gemeinde, die durch dick und dünn unerschütterlich zu ihr hält. Gibt es Dinge in Paris, von denen niemand zu sprechen wagt, so kann man sicher sein, daß der „Crapouillot“ als

Vierteljahresschrift oder unter dem Titel „Le Petit Crapouillot“ als monatlich erscheinender, nur Abonnenten zugänglicher „vertraulicher Brief“ davon zu sprechen wagt.

Die Nummer dieses Sommers ist ein besonders vergnüglicher Knall mit einigen saftigen Volltreffern. Das siebzig Seiten starke, reich illustrierte Heft in Folioformat, Preis fünf Neue Francs, ist „Falsche Genies, Bauernfänger und echte Verkannte“ (faux Genies, faiseurs et vrais mėconnus) betitelt. Es unternimmt in vergnüglicher Weise, einige literarische und künstlerische Urteile zurechtzurücken. Das Heft setzt bei dem Unternehmen früh an — schon in der Renaissance. Aber diese einleitenden historischen Abschnitte liest man zuletzt, denn sie rekapitulieren ja nur die Umwertung der Werte, die die Geschichte bereits für uns vollzogen hat. Hingegen wird diese Operation Götterdämmerung, von einer Reihe unabhängiger Kritiker vollzogen, immer explosiver, je näher man der Gegenwart rückt.

„Ein erfolgreicher Kaufmann"

Der deutsche Leser beginnt wohl am besten mit einem relativ harmlosen Fall — dem von Andrė M a u r o i s. Wie groß der Ruf dieses geschickten Fabrikanten von „biographies romancėes“ im deutschen Sprachraum ist, läßt sich etwa an Eppelsheimers „Handbuch der Weltliteratur" ablesen, das wohl eine Bibliographie des Mauroisschen Werkes enthält, nicht jedoch eine des folgenreichsten Dichters dieses Jahrhunderts, nämlich von Pėguy. Unter dem Titel „Ein erfolgreicher Kaufmann" enthüllt der „Crapouillot“ das Fabrikationsgeheimnis von Maurois, der ursprünglich Textilindustrieller war: Man nehme die grundlegende ausländische (und deshalb in Frankreich nicht bekannte) Monographie über den zu schildernden Heros und setze sie in glatten Feuilletonismus um. „Die Franzosen gelten zwar als das frivolste Volk der Welt, aber sie lieben nichts so sehr wie ein .gut gemachtes Produkt’. Maurois ist genau, was sie brauchen: er ist leicht, oberflächlich und wirkt doch seriös." Und was den Inhalt seiner Heldenleben betrifft: „Gepflegter Rasen überwächst die sorgfältig eingeebneten Abgründe .. . Die gewagtesten Vorgänge erwecken nicht mehr als eine dezente Erregung; die Skandale sind so konstruiert, daß sie den alten Jungfern der Provinz die Illusion der verbotenen Frucht verschaffen.“

Nun, über Maurois sind sich schon manche Auguren einig. Der „Crapouillot“ wagt sich jedoch auch an solider installierte Größen, etwa an den von Vancouver bis zu den Philippinen hochverehrten Sartre. Der Kritiker erkennt gut den Charakter des Sartris- mus als eines Gesellschaftsspieles; er weiß, wie sehr er eine Schöpfung aus zweiter Hand ist: nämlich eine bloß oberflächliche Neudrapierung des „ranzig gewordenen Gidismus“ (so ganz nebenher wagt er auch festzustellen, daß fast das gesamte Werk von Gide bald nach seinem Tode schon unlesbar geworden ist). In einer Untersuchung, die in ihrem scheinbaren Ernst köstlich den sturen Tief sinn der Essayistik Sartres persifliert, leitet er die Ideen Sartres aus ihrem Ursprungsort, dem Cafe, ab und kommt in Paraphrasierung Rivarols zu dem Schluß: „Heute werden die sozialen und intellektuellen Revolutionen von denen gemacht, die sich im Cafe wohler als bei sich zu Hause fühlen und über diejenigen triumphieren. die lieber bei sich sind als im Cafe am Ort zu treten.".

Die Attacke jedoch, die am meisten Aufsehen erregt, hat der „Crapouillot“ gegen den Schauspieler Jean- Louis Barrault geritten — einen heute von offiziellen Ehren überhäuften Mann, dem der gaullistische Minister für die „Ausstrahlung Frankreichs“, der Dichter Andrė Mal- raux, unter dem pompösen Titel „Theater von Frankreich" ein eigenes Theater (das der Comėdie Franęaise weggenommen wurde) zur Verfügung stellte. Der Kritiker zieht ein bitteres Fazit der Barraultschen Herrschaft in dem Bau an der Pariser Place de l’Odėon: alle ambitiösen Inszenierungen, ob Claudels „Tėte d’Or“, Shakespeares „Caesar“ oder Ionescos „Rhinozeros“, waren so gigantische Reinfälle, daß Barraults Truppe längst zu den harmlosen Schwänken Feydeaus zurückgekehrt ist, die sie wirklich reizend zu spielen versteht. Der Kritiker ist übrigens nicht ungerecht; er sieht wohl, daß Barrault ein begabter Mann ist. Aber er hebt hervor, daß dieser Schauspielerdirektor sich jedesmal mit tödlicher Präzision diejenige Rolle eines Stückes zuschanzt, der er nicht gewachsen ist. „Das Schlimmste an unserem Manne ist der totale Mangel an Natürlichkeit und Einfachheit. Er hat sich so in die Rolle des Mimen hineingesteigert, daß er sich nicht mehr menschlich überzeugend bewegen kann. Bei der kleinsten Gelegenheit stemmt er die Waden raus, spielt er mit den Hüften, verzerrt den Mund und zieht die Augenbrauen bis zu den Haarwurzeln hoch. Und das alles auf angespannte, nervöse, künstliche Weise; die Expressionen des Körpers und des Gesichtes vermögen nicht den geringsten seelischen Ausdruck wiederzugeben. Nur wenn er sich zwischendurch einmal herabläßt, mit Liebenswürdigkeit zt , spielen und ein alltägliches Individuum darzustellen, wird et recht erträglich und sogar vergnüglich.“

Auch Nobelpreisträger Saint- John Perse* kommt in die Schußlinie. Von seinem „totalen Museum“, in dem „Belanglosigkeiten zu mythologischer Würde erhoben werden“, wird gesagt: „diese hohe Verzückung durch die Welt“ (die bei ihm ursprünglich echt war) „wird mehr und mehr der Redseligkeit geopfert und verläuft sich in eine hohle, monumentale, großtönende Didaktik, kurzum: in den Akademismus“. Aber

Saint-John Perse alias Alexis Leger teilt ja ohnehin mit Saint-Exupery das Schicksal, im Ausland viel berühmter zu sein als in Frankreich, wo man seinen Worträuschen stets mit einiger Skepsis begegnet ist.

Angriff auf die Zitadelle

Wagemutiger ist darum der Angriff, den der „Crapouillot“ gegen die Zitadelle gerichtet hat, die seit einem Halbjahrhundert die französische Literatur beherrscht: die „N o u v e 11 e Revue Franęaise“ und den Verlagstrust G a 11 i m a r d. Die drei Größen der N. R. F., Gide, C 1 a u- del und Valėry, haben sich ja im Leben nicht immer besonders gut verstanden. Der „Crapouillot" glaubt aber in ihrer Verschiedenheit eine raffinierte Arbeitsteilung erkennen zu können: „Die verwirrte Jugend und dip intellektuelle Anarchie waren die Domäne Gidės. Für die braven Kinder hingegen und für die Verfechter der Tradition einer lateinischen Kultur, die vor allem römisch sein wollte, gab es den paradoxalen und. so unkatholischen Romantizismus Claudels. Es sind jedoch die Salons, welche jenen guten Ruf schaffen, der von Akademien konsekriert wird. Die ,Nouvelle Revue Franęaise“ durfte auch dieses Gebiet nicht vernachlässigen und setzte drum hier Paul Valėry ein.“ Über diesen selbst finden wir folgende ätzende Kritik: „Seine Dichtung besitzt die Grazie und Einfalt eines im Mondlicht zu Eis erstarrten Springbrunnens. Das könnte an sich ja schön sein, aber der Bogen ist eine Illusion, er hat sich nie verwirklicht, alles blieb unter der Eisdecke des Brunnenbeckens. Seine Gedichte erwecken den Eindruck, so groß angelegt gewesen zu sein, daß diese Größe sich verflüchtigt im Verlauf der Worte, die zu bloßen Elementen wohlklingender Leere werden.“

So wäre noch vieles zu zitieren. Etwa die Demontage des „Großen Kameraden“ von Alain-Fournier mit seiner „allzu systematischen Verwendung von Weihern und Nebel“ und dem „ständig zwischen dem Traum und der Wirklichkeit hin und her sausenden Lift“. Hübsch ist auch die Übersicht über die Preisträger des höchsten französischen Literaturpreises, des „Prix Goncourt“, der seit seiner Erstverleihung im Jahre 190? der Prämiierung von Mediokritäten vorbehalten zu sein scheint. In der langen Liste von Prämiierten finden sich ganze vier Prämiierte von Rang: Proust. Malraux, Alphonse de Chäteaubriant, B ė r a u d …

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Bleiben noch die Kategorien der „Bauernfänger“ und der „wirklich Verkannten“. Die ersteren, etwa D a- n i n o s oder die Sagan, werden, verglichen mit den Attacken auf die „falschen Genies“, verhältnismäßig glimpflich behandelt: es muß eben auch „Monoprix“, Konfektion, geben. Wie aber steht es mit den „Verkannten",* deren Schilderhebung der „Crapouillot“ vorschlägt? Bei einigen von ihnen, etwa dem Zeichner-Schriftsteller Rouveyre oder dem Pamphle- tisten P a r a z, scheint es sich doch ein wenig um persönliche Spleens der betreffenden Kritiker zu handeln. Vialatte wiederum ist zweifellos eine hohe, aber verkauzte schriftstellerische Begabung. Von Herzen zustimmen kann man im Grunde nur einer der Schilderhebungen: der von Lucien Rebatet, des YErfassers des 1951 bei Gallimard in zwei dicken Bänden erschienenen Romanwerkes „Les deux Etendards“. Dieses hinreißende, Gott und die Welt umfassende Epos von zwei Jünglingen und einem Mädchen ist von dem später begnadigten Rebatet in der Todeszelle geschrieben worden (weshalb er zum Tod verurteilt wurde, wollen wir hier getreu dem Geiste des „Crapouillot“ nicht enthüllen — sein Buch von den „Zwei Fahnenträgern hat auf jeden Fall mit seinem Verbrechen nichts zu tun). Es wird von manchen für den größten Roman gehalten, der in den letzten dreißig Jahren in französischer Sprache veröffentlicht wurde; für die offizielle Kritik aber existiert es nicht, und Sartre hat gar seinen begabtesten Schüler (Etiemble) verstoßen, weil dieser, über alle weltanschaulichen Gegensätze hinweg, das Lob dieses „theologischen Romans“ zu singen wagte. Ein Grund mehr für den „Crapouillot“, diesem verfemten Buch drei Seiten (mit drei Photos des Verfassers verziert) zu widmen …

Mag der „Crapouillot“ da und dort über das Ziel schießen, mag er mitunter allein des Rauches und des Spektakels wegen abgefeuert werden — wohl dem Land, in dem eine solche Zeitschrift geschrieben werden kann.

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