Ordnung ins Chaos der Zeit

Werbung
Werbung
Werbung

Peter Galisons Wissenschaftsbuch über die Revolutionäre der Zeit: Albert Einstein und Henri Poincaré.

Doppelbiografien bieten die Möglichkeit, Parallelen aber auch Unterschiede zweier Personen darzustellen. Das Buch über Henri Poincare und Albert Einstein, zwei führende Physiker des 19. bzw. 20. Jahrhunderts, stellt sich der Aufgabenstellung mit der Frage: "Kannte Einstein den Artikel von 1889 oder eine andere wichtige Abhandlung Poincares, als er 1905 seinen Artikel über die Spezielle Relativitätstheorie schrieb?"

Mit diesem Artikel Albert Einsteins wurde die Physik zu Beginn des vorigen Jahrhunderts völlig revolutioniert und das scheinbar sichere und solide Fundament der Newton'schen Physik nachhaltig erschüttert. Einstein war sich der Tragweite seiner Veröffentlichung sehr wohl bewusst. Er bat sozusagen Isaak Newton um Verzeihung: "Newton, verzeih' mir; du fandest den einzigen Weg, der zu deiner Zeit für einen Menschen von höchster Denk- und Gestaltungskraft eben noch möglich war." Behalf sich Newton mit einem Konstrukt der Absolutsetzung der Zeit in der Physik, revolutionierte Einstein das physikalische Normensystem, indem er das traditionelle Verständnis von Relativität in der Mechanik, das bereits seit Galilei bekannt war, auch auf andere physikalische Effekte der Elektrizität, des Magnetismus, des Lichtes und vor allem der Zeit ausdehnte. Er postulierte in seiner Relativitätstheorie, dass sich Licht immer gleich schnell ausbreitet - nämlich mit etwa drei- hundertausend Kilometern pro Sekunde - unabhängig von der Geschwindigkeit, mit der sich die Lichtquelle bewegt.

Hier trifft sich die wissenschaftliche Einzelleistung Einsteins - der Mythos des Genies, der ohne Umfeld agiert - mit den Erkenntnissen des zweiten "Vaters" der Relativitätstheorie, dem damals bereits weltberühmten Mathematiker und Physiker Henri Poincaré, der zu ähnlichen Ergebnissen gekommen war. Breiten Raum wird in dem Buch den praktischen Problemen der Synchronisierung der Zeit gewidmet. Präziseste mechanische Uhren, weltweit verbundene Kabel und elektrische Steuerungen waren die Grundvoraussetzungen, mit denen sich die Physiker im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dem Problem der exakten Zeit genähert hatten. 1905, als Einstein seine Spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte, waren die technischen Probleme der Synchronisation weitestgehend gelöst, nicht jedoch die damit neu aufgetretenen Fragestellungen.

Peter Galison glückt die Verknüpfung der beiden Biografien, wobei ihm die Beantwortung der eingangs gestellten Frage, inwieweit Einstein auf die Erkenntnisse Poincarés aufbauen konnte, nicht endgültig und schlüssig gelungen ist. Leider kommt - das mag vor allem an dem sehr komplexen Thema Relativitätstheorie liegen - der renommierte Wissenschaftshistoriker Peter Galison, Universitätsprofessor in Harvard, nicht ohne Formeln und Diagramme aus. Abbildungen historischer Apparate und Instrumente erleichtern zwar das Lesen des Buches, eine gewisse physikalische Grundbildung und Interesse an der Materie werden vom Leser jedoch vorausgesetzt.

Faszinierend ist die Darstellung der Grund -lagenarbeit, um ein Ordnungssystem der Zeit zu erhalten. Knapp 100 Jahre später im Zeitalter funkgesteuerter, vereinheitlichter und genormter Uhren ist es schwer nachvollziehbar, welche Probleme die Definition von Standards wie die Lage des Nullmeridian oder die Verwahrung des Nullmeters als Längeneinheit ausgelöst haben. Persönliche Befindlichkeiten unter Wissenschaftlern spielten hier genauso eine Rolle wie nationale Überlegungen.

Erst grenzüberschreitende Trans- portmittel wie die Eisenbahnen sorgten dafür, dass sich verbindliche Zeitsysteme, unabhängig von lokalen und regionalen Normen, durchsetzen konnten und Übersichtlichkeit in das Chaos verschiedenster Zeitsysteme brachte. Man stelle sich nur den heutigen internationalen Flugverkehr ohne eine weltweit vereinheitlichte Zeit vor. Ein Personenregister und ein ausführliches Literaturverzeichnis komplettieren dieses Wissenschaftssachbuch.

Einsteins Uhren, PoincarÉs Karten

Die Arbeit an der Ordnung der Zeit

Von Peter Galison

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003

382 Seiten, geb., e 25,60

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung