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Orpheus am Naschmarkt

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Das Theater Kaleidoskop ist nicht nur das kleinste, sondern auch das sympathischeste unter den kleinen Theatern Wiens. Bei keiner anderen Bühne findet man soviel Opferbereitschaft, Idealismus und Hingabe an die Arbeit wie hier. Alle diese Tugenden zusammen machen freilich noch kein gutes Theater aus; aber sie gehen eine sichere Grundlage dafür. Das ganze Ensemble hat mitgeholfen, sich im neuen Quartier im Souterrain des Cafe Dobner einzurichten. Die Kündigung durch die Secession und der Verlust der alten Räumlichkeiten, die gerade erst neu adaptiert worden waren, bedeutete für das „Kaleidoskop“ einen schweren Rückschlag. Die Uebersiedlung in die ehemaligen Lokalitäten der „Literatur am Naschmarkt“ ist aber Glück im Unglück und auf weite Sicht vielleicht nur zu begrüßen. Der neue Kellerraum ist. wie schon der erste Abend bewies, vielseitiger verwendungsfähig als der alte. Aber nicht nur das ganze Ensemble, auch die Eltern einzelner junger Schauspieler und Regisseure, haben mitgeholfen, und auch die Besitzerin des Cafe Dobner hat ihre Unterstützung nicht versagt. Nun war es so weit, und die erste Premiere im neuen Haus konnte stattfinden. Man hatte Jean Cocteaus „Orpheus“ gewählt.

„Orpheus“ von Cocteau ist nicht nur ein nichtssagendes. • es ist auch das unsympathischeste unter den gescheittuenden heutigen Theaterstücken. Der einzige Grund, warum man es spielen kann, ist der, daß es gute, ja großartige Rollen enthält, die den Schauspielern zu vielerlei Aktionen Möglichkeiten bieten. Aber es sind eben nur Aktionen; zu sagen hat keiner etwas. Orpheus ist Lettrist geworden oder Automatist, und schreibt das Wort „sauer“ an eine schwarze Tafel, weil er es aus den Hufschlägen eines Pferdes herauszuhören glaubt. Das Theaterstück ist leichter zu durchschauen als der seinerzeitige Eilm, bei dem immerhin die technischen Mittel faszinierten Hier, auf der Bühne, entlarvt sich nun alles, was im Film wirkte, als übler Trick, selbst der Blick in den Spiegel, der uns von Mal zu Mal der Todesgöttin näherbringen soll. Das alles wäre wohl kaum erträglich, wenn nicht Cocteau gegen Schluß hin alles zugeben würde, und sich nicht nur über sein Publikum, sondern über sich selbst und seine kleinen Zaubereien und Einfälle lustig machenm würde. Und doch hat der Abend auch etwas Positives zu geben: Die Begegnung mit der jungen Darstellerin der Eurydike, Hildegard Klotz, die alle Chancen ihrer Rolle zu nützen versteht. Sie geht =o schlicht und lieblich durch das Spiel, als wäre es tine Dichtung.

Harald Z u s a n e k. vielleicht der bekannteste junge österreichische Dramatiker und — das will etwas heißen — heute bereits einer der meistgcspiel-ten deutschsprachigen Bühnenautoren, hat die Aufführung seines Stückes „Mutter Europa“ im Kleinen Theater im Konzerthaus nicht gewünscht. Wir können ihn verstehen. „Mutter Europa“, 1952 in Graz uraufgeführt; war seinerzeit das große Versprechen einer Begabung, die die Erfüllung in anderen Stücken geben mußte. Heute erscheint uns diese politische Allegorie, in der Mutter Europa einerseits die Mutter, die ihren Sohn durch die Weltkriege verloren hat und über alle Grenzen hinweg sucht, und anderseits auch den ganzen alten Kontinent mit all seiner Substanz und seinen Ingredienzien zu verkörpern hat, bereits überholt; vor allem deswegen, weil Mutter Europa so geschwätzig geworden ist; mit Europa-Gerede werden wir auch außerhalb der Bühne hinneiciend versorgt. Poch hat das Stück, das eigentlich ein Hörspiel ist und den Rundfunkmann Zusanek in keiner Szene verleugnen kann (warum aber dann, so fragt man sich ernsthaft, nun wirklich eine Aufführung?), auch dichte, poetische Stellen. So die Zwiesprache Mutter Europas mit dem Mond, der ihr Stille in eine kleine Papiertüte schüttet. Der Mond ist überhaupt die angenehmste Figur; er ist als Vagabund gekleidet und verbreitet einen milden Glanz um sich; seit Garcia Lorca ihn einmal in seiner „Rluthochzeit“ als Holzfäller auftreten ließ, haben wir uns mit seinem leibhaftigen Erscheinen auf der Bühne ja schon befreundet. — Die Inszenierung von Otto A. Eder (in einem abstrakten Bühnenbild von Robert Hofer-Ach) ist um einen lebendigen Zusammenhalt der vielen kleinen Szenen bemüht. Erna Korhel als Mutter Europa und Karl Mittner als Mond geben dem Abend — über alle Allegorie hinaus — menschliche Wärme.

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