6685945-1962_16_20.jpg
Digital In Arbeit

OSTERN DER PFERDE

Werbung
Werbung
Werbung

Krapp kommt auf mich zu, zäh, mager, mit Augen, die voller Unruhe sind. Er starrt mich witternd an, schickt mich zu den Pferden. Ich gehe durch den Hof dieses Mannes, ich, ein Stück Arbeitskraft auf zwei Beinen, vierzehnjährig, plötzlich müde zum Umfallen, weil die Welt mir trostlos vorkommt, und ich versuche zu erfassen, wie es kam, daß Krapp, der einst als Taglöhner in das Dorf kam, Bauer wurde, daß er sich Bauer nennt, seitdem er Hochzeit machte.

Ich nähere mich dem Stall, der warmen, dunstigen Höhle. Die beiden schweren Pferde hören auf, ihr Futter zu malmen, sie haben meinen Schritt vernommen, den Schritt eines Fremden, sie bewegen die Ohren und wenden mir ihre Schädel zu, aus denen mich große Augen dunkel anblicken. Ich kraule die Kruppen, die Mähnen, ich erteile leise unnachgiebige Befehle, fahre mit offener Hand über die Hälse und fühle entzückt die Wärme und Zuverlässigkeit der großen Körper. Heute, als Tierarzt, dreißig Jahre darnach, weiß ich, was ich damals nur ahnte: daß Pferde voller Fragen sind, sobald ein Fremder ihren Lebensbereich betritt.

Für Krapp sind die Pferde Arbeitsvehikel, sonst nichts, er verschwendet keinen Gedanken daran, was in den stummen Kreaturen vorgehen mag. Er hat den Gäulen die im Dorf sonderbar klingenden Namen Cäsar und Nero gegeben, vielleicht um sich in seinem neuen Stolz für erlittene Unbill früherer Jahre zu rächen. Wie wenig er von Pferden versteht, zeigt sich, als Cäsar während der Frühjahrsbestellung krank wird. Seine Flanken sind über Nacht hitzig geworden, seine Augen sind voll. unentzifferbarer Trauer auf mich gerichtet, er bettet seine weiche Schnauze wie schutzsuchend in meine Hand. Mich erschreckt die Veränderung, die an ihm geschah. Sein Fell sieht im Tageslicht stumpf und glanzlos aus, seine Nüstern zittern, die Ränder seiner Augen sind trüb.

Ich steige bedrückt auf den Kutschbock, wir fahren zum Acker am Fluß, der vor Nässe fettigschwarz glänzt. Ein Tag voller Mühsal beginnt, ich werde bang unter dem Anblick der Kraftlosigkeit des stets so eifrigen Tieres, dem es niemals in den Sinn kam, sich vor einer Arbeit zu drücken, ich leide mit an den Schmerzen, die ich in ihm vermute. Auch Nero sucht, noch heute finde ich kein anderes Wort dafür, voller Zartgefühl die richtige Einstellung zu der merkwürdigen Verfassung seines Gefährten. Er stemmt sich mit aller Kraft ins Geschirr, die Schwäche des anderen wettzumachen, er sieht sich verpflichtet, für zwei zu arbeiten. Ich sehe, wie seine Schnauze bei jeder Gelegenheit nach dem Schädel Casars tastet, tröstend in einer Sprache, die keine Worte kennt, und male mir aus. daß die beiden sich einer Sache gegenüberbefinden, die sie nicht begreifen. Jedesmal, wenn eine Ackerfurche gepflügt ist. halten wir, und die beiden wuchtigen Gestalten stehen aneinandergelehnt da als Inbild irdischer, kreatürlicher Not und Verlassenheit, zwei hilflose Einsame, die ihre Angst vor dem Unbekannten tapfer gemeinsam zu tragen versuchen.

Krapp wird schreien, sobald ihm die geringe Leistung auffällt, weiß ich, trotzdem gewähre ich dem Gespann immer längere Pausen. Nero hat entdeckt, daß sein allzu kräftiger Zug für Cäsar keinen Vorteil, sondern eine Qual bedeutet, also verlangsamt er sein Tempo bis zu einem Schritt, der unter solchen Umständen noch am besten taugt. Das war sicherlich keine Sache einer Überlegung, zu der Tiere nicht fähig sind, denke ich heute, sondern das Ergebnis eines reinen Instinkts, der sich ganz auf den Gefährten einzustellen vermag. Plötzlich erscheint Krapp.' - “ ' ' ■

Er entreißt mir die Zügel, treibt die Pferde, was ich niemals tat, mit der Peitsche an. Ich stehe abseits und muß zusehen, wie er, brutal und dumm, sein Ziel mit Gewalt zu erreichen sucht. Die Geschwindigkeit des Pflügens verdoppelt sich, das stimmt. Doch die Tiere sehen jetzt nicht mehr wie lebendige Wesen aus, sondern wie Maschinen, die einzig durch den Mechanismus ihrer Angst vorwärtsgejagt werden. Nach kurzer Zeit bedecken sich Casars Flanken mit schaumigem Schweiß, seine Augäpfel rollen entsetzt, lassen das Weiße sehen als Signal einer nahenden Katastrophe. Er keucht bei jedem Schritt. Auch Nero beginnt zu schwitzen, er arbeitet wie besessen, in einer Panik, die ihn vergessen läßt, daß Cäsar diesem heftigen Zug auf die Dauer nicht gewachsen ist.

Spielende Kinder, Palmsonntagsbräuche nachahmend, ziehen mit Weidenruten vorbei, bleiben stehen, deuten, rufen, schreien, hüpfen. Krapp in seiner Pflügewut kommt ihnen komisch vor. Sie lachen. Plötzlich wandern sie, verlegen und wortlos, als habe etwas Unheimliches sie angerührt, eilig weiter. Krapp, dampfend in zorniger Kraft, wirft mir höhnisch die Zügel zu. Ich soll weitermachen.

Vor der Wildheit seines Blicks habe ich nicht den Mut aufzubegehren. Ich höre noch, wie er sagt muß ist muß, und die Frucht müsse vor Ostern in den Boden! Ich schnalze mit der Zunge. Nero und Cäsar setzen sich in Bewegung, langsam, wissend, daß ich sie nicht antreiben werde. Wir biegen in die nächste Ackerfurche ein.

Heute lege ich mir darüber Rechenschaft ab, daß meine Gedanken und Empfindungen in jener Zeit unklar und vage waren. Dennoch enthielten sie etwas, das mein späteres Leben bestimmte. Ich hatte auf meine Weise darüber nachzudenken begonnen, daß die Tiere, die ich kannte, eine Botschaft auszurichten hatten, die ich zwar nicht verstand, von der ich aber wußte, daß sie sehr wichtig war. Ich glaubte an den freien Tieren des Waldes, an Hasen und Füchsen, an Insekten und Vögeln wahrzunehmen, daß sie geheimnisvoll gelenkt wurden, ihr Leben in einer Gebundenheit zu verbringen, die ihre ganze Freiheit ausmachte und sich in nichts mit dem Zwang vergleichen ließ, die der Mensch über jegliches Wesen, das zu unterjochen er versteht, auszuüben gewohnt ist.

Diese und ähnliche Überlegungen haben ihre Wirkung getan. Krapp reißt mir zum zweitenmal die Zügel aus der Hand, treibt die Pferde neuerlich an. Ich habe auch jetzt nicht den Mut, ihm entgegenzutreten, und bleibe beschämt und gedemütigt, vor Empörung gelähmt, zurück, und starre dem Gespann nach, einem Stück Schicksal, das sich nie wieder einholen läßt. Cäsar taumelt bei; jedem Schritt.

Alle Szenen aus dem Leben der Pferde, die ich-jemals sah. verdichteten sich in diesen Minuten zu einem einzigen Bild, ich sehe das Pferd, hingewiesen auf den Menschen und angewiesen auf ihn, ich sehe es dem Menschen arglos Gehorsam zollen, sich mit jedem Schritt von ihm führen lassend, sich mit jeder Regung seiner höher sein sollenden Einsicht beugen. Mir erscheinen alle die redlichen Dienste, die ich Pferde jemals leisten sah. Die Bilder ihres mutigen Ehrgeizes vor Pflug oder Wagen, ihres verspielten Mutwillens an seltenen Tagen auf freier Weidekoppel regen sich in mir. Die zahllosen Fäden des Verständnisses und Einverständnisses zwischen ihnen und mir, die unvergeßlichen Bilder ihrer Heiterkeit, mit der sie abends in den Stall strebten, ihrer anspruchslosen Zufriedenheit vor der Futterkrippe, die Töne ihres fröhlichen Wieherns, ihres Schnaubens und Prustens, die ehrlichen Gerüche ihrer Körper und die scharfen Aromata ihrer Ausscheidungen, der Schlag ihrer Hufe, stets ihre Stimmung verratend, der offene Blick ihrer Augen — dies stürmt jetzt auf mich ein als Herausforderung zur Treue, als Herausforderung, der ich nicht gewachsen bin. Angst und Ekel würgen mich, schluchzend renne ich hinter Krapp her, von dem Antrieb gepeinigt, ihn, der, gleich einem Dämon, in die Zügel verkrallt hinter dem Pflug einherspringt, von den Tieren fortzureißen, obwohl ein einziger klarer Gedanke hätte sagen müssen, wie aussichtslos mein Unterfangen war. Ich komme, zum Glück für mich, zu spät.

Eben noch höre ich einen Schrei Krapps, da sehe ich Cäsar stolpern und vernehme das dumpfe Geräusch, mit dem er zu Boden stürzt. Der Anblick des verstörten, tödlich erschöpften Tieres, das, die Beine merkwürdig unter dem schweren Leib verkeilt, das Maul durch den Anprall gegen einen Steinbrocken blutig geschlagen, plötzlich verwahrlost wirkt, hat sich unauslöschlich in meiner Erinnerung eingegraben, Symbol der Erniedrigung des Tieres und des Menschen zugleich.

Nicht der Zusammenbruch aus tiefster Entkräftung, nicht die Besudelung des Tieres, das ich nie anders als glänzend sauber hatte denken können, waren es, sondern sein inneres Chaos, das jetzt den Eindruck der Verwahrlosung hervorrief und mir den Atem raubte. Heute erkläre ich mir diesen Eindruck damit, daß Cäsar in der letzten halben Stunde der irren Pflugarbeit in seiner Beziehung zum Menschen, die die Grundlage seines Daseins ausgemacht hatte, gescheitert war. Ich näherte mich ihm, ich kniete neben ihm, ich streichelte ihn. Er hatte nicht die Kraft, den Schädel zu heben. Ich schaute mich um. Krapp war verschwunden. Ich haßte ihn.

Eine Stunde mochte vergangen sein, ehe Cäsar sich soweit erholt hatte, daß ich ihn in den Stail führen konnte. Sein Fell warf Falten, sein Körper war mit klebrigem Erdbrei verschmutzt, die Trübung seiner klugen Augen hatte zugenommen. Die Kinder mit den Pahnbuschen, die an einer nahen Quelle gespielt hatten, begegneten uns abermals, ihre Gesichter sahen alt aus, versteinert, während sie uns betrachteten. Nero zockelte mit dem Leiterwagen hinter uns her, mutlos, mit hängenden Ohren und zögernden Schritten.

Der Tierarzt kam gegen Abend und schüttelte den Kopf. Cäsar bekam eine Medizin, vor deren Geschmack ihm graute, und die er, ich glaube fest daran, allein mir zuliebe gehorsam aus der Flasche trank, die ich in sein fieberheißes Maul schob. Das war am Gründonnerstag. Es blieb dabei: Cäsar nahm kein Futter an. Wann immer ich konnte, war ich in seiner Nähe. Seine Flanken fielen weiter ein, es gab Augenblicke, in denen er mich nicht erkannte. Die Anmut seiner Formen schmolz im

Fieber dahin. Am Karsamstag rannte Krapp zum Metzger, doch der war gerade ins Nachbardorf geradelt. So kam es, daß Cäsar erst am Ostermorgen, während er bereits in der Agonie lag, geschlagen wurde. Wenigstens der Fleischnutzen sollte nicht verlorengehen.

Krapp trieb unaufhörlich zur Eile an, denn er wollte, daß zum Hochamt alle in der Kirche seien. Er, sein Weib, der Großknecht, die Mägde und ich verließen den Hof, während Casars Blut noch zun? Himmel rauchte. Heute frage ich mich: Kommt es auf das. Tier oder kommt es darauf an, was das Tier im Menschen bewirkt?

Der Tag damals war sonnig, die roten Teile der Kirchenfenster warfen einen feurigen Schein auf die nordwestliche Kirchenwand. Ich blinzelte erschrocken und seltsames Glück genießend, denn mir war, als käme, wie im Märchen, eine Flut angerauscht, den Übeltäter zu holen, eine rote Flut, die sich aus dem geöffneten Leib des Pferdes hervorwälzte und Krapp verschlingen würde. Ich erkannte meinen Irrtum, ferne, halb-vergessenc Geschichten an Heilige, die mit Tieren geredet hatten, flogen flüchtig durch mein Bewußtsein, zum erstenmal empfand ich den Wunsch, ein Arzt für Tiere zu werden. Später gelang das. ich habe seither vielen Tieren geholfen.

Mein Verstand ist zu klein und mein Blick zu schwach, der schaurigen Kluft bis auf den Grund zu schauen, die sich an jenem Ostersonntag auftat, als das Dorf die Auferstehung des Herrn feierte, während das Blut eines gewöhnlichen Zugpferdes im Schlamm des Hofgevierts zu einem süßlich riechenden Teppich gerann, der die ersten Schmeißfliegen des Jahres anlockte. Ich glaube daran, daß es zwischen Mensch und Tier gottgewollte Beziehungen gibt, deren Natur schwer zu durchschauen ist. Wessen erweist sich der Mensch würdig, wenn er sich des Tieres würdig erweist? Sicherlich lebt einer unter uns, der etwas darüber weiß und auch sagen darf. Eines Tages werde ich ihn finden, ganz bestimmt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung