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Pädagogik mit schleifenden Zügeln
In den letzten Tagen des März legte Schwedens Sozialminister Torsten N i I s s o n einen Gesetzentwurf über den Ausbau der Jugenderziehungsanstalten vor, der einer Bankrotterklärung des bisher gehandhabten Systems gleichkommt. Der Versuch, die wachsende Jugendkriminalität nicht durch Strafen und die Pflicht zur Wiedergutmachung, sondern durch freundliches Zureden und durch die Erziehung zum sozialen Verantwortungsbewußtsein bekämpfen zu wollen, kann heute als gescheitert angesehen werden. Mit tiefer Sorge betrachten alle politischen Parteien und Regierungen in den nordischen Ländern eine Entwicklung innerhalb der Jugend, deren letzte Konsequenz eine tödliche Bedrohung der Gesellschaft sein muß.
Schwedens Jugend genießt ein Ausmaß an Freiheit, wie es keine Generation vor ihr gekannt hat. In den Grundschulen sind alle Lehrmittel frei, in den Werkstätten verfertigte Gegenstände können mit nach Hause genommen werden, alle Kinder erhalten freie Schulmahlzeiten, eine fortschrittlich gesinnte Lehrerschaft bemüht sich um die bestmöglichsten Resultate, und die Gemeinden opfern Riesenbeträge für die Ausbildung, und das Wohlbefinden, der Kinder. Die schwedischen Kommunajsteuerju sind nicht zuletzt aus diesem Grunde die höchsten der Welt.
Die schulentlassene Jugend wird während der Ausbildungszeit entlohnt. Siebzehn- und Achtzehnjährige haben einen höheren Lebensstandard als verheiratete Arbeiter. Jugendheime und Bildungsverbände bemühen sich um eine sinnvolle Freizeitgestaltung — auf Kosten des Staates und der Gemeinden. Es ist eine Jugend, die über alle denkbare Freiheit verfügt und der alle echten sozialen Probleme fehlenl
Als die Arbeiterparteien und Gewerkschaften des europäischen Nordens sich im Herbst 1959 zu einer interskandinavischen Konferenz in Malmö trafen, war einer der ernstesten Vorträge jener, in dem gesagt wurde, daß die soziale Gesellschaft den Griff über diese Jugend verloren hat und daß jeder verantwortungsbewußte Politiker nur mit tiefer Sorge diese Entwicklung betrachten kann. Die soziale Sicherheit der Menschen konnte man schaffen, die Jugend für diese soziale Gesellschaft zu interessieren aber ist keiner Partei gelungen. Zitieren wir einige schwedische Stimmen.
„Die Auflösung der Disziplin frißt sich immer tiefer und erfaßt immer jüngere Altersklassen“, schreibt die schwedische „Lehrerzeitung“. „An vielen Stellen im Lande ist die Situation — gelinde ausgedrückt — dunkel, und eine Änderung zum Besseren ist unbedingt notwendig, wenn die Lehrer überhaupt noch eine Möglichkeit haben sollen, ihre Arbeit fortzusetzen. Die Lehrerschaft hat bei wiederholten Gelegenheiten einmütig vor der Entwicklung gewarnt, die nun für alle sichtbar geworden ist. Das Schuldirektorium jedoch verweigert den Lehrern jede Stütze! Die Situation ist nicht nur unhaltbar“, fährt die schwedische Lehrerzeitung fort, „sondern direkt grotesk! Keine andere Berufsgruppe wird gezwungen, unter solchen Verhältnissen zu arbeiten. Der Lehrer wird ständig beobachtet, und jeder Eingriff von seiner Seite — mag er noch so dringend notwendig sein — kann für ihn gefährliche Folgen haben!“
Das Verbot der Strafe gilt schon für die Schule. So wurde das, was als Freiheit gedacht war, zur Zügellosigkeit, und an die Stelle der erhofften vertrauensvollen Zusammenarbeit trat in vielen Fällen der blanke Terror der durch keine Ordnungsregeln gebundenen Kinder Das kann in den höheren Klassen zu Vorfällen führen, wie sie die Zeitung „Aftonbladet“ berichtete : *
„Die Polizei in Söderhamn mußte in der Samstagnacht fünf Schuljungen im Alter von 14 und 15 Jahren aus einer Waldhütte herausholen und nach Hause schaffen. Alle fünf waren nach dem Genuß von einigen Flaschen Branntwein und Brennspiritus bewußtlos betrunken. Ein sechster Vierzehnjähriger mußte in das Krankenhaus in Söderhamn eingeliefert werden.“
Mißbrauch von Alkohol, Nikotin und sexuelle Ausschreitungen gehen oft Hand in Hand. So meldet „Dagens Nyheter“ aus Norrköping, daß sich dort die Fälle von Geschlechtskrankheiten im Laufe eines Jahres auf das Doppelte erhöht haben.
„Das Infektionskrankenhaus der Stadt ist ständig überbelegt, und leider handelt es sich ausschließlich um Jugendliche. Die Krankheit verbreitet sich ganz offenbar gruppenweise. Es geschieht oft, daß ein Mädchen fünf Jungen als denkbare Quelle der Ansteckung angibt. Von Neujahr bis Mitte Februar hatte Doktor Ljungberg 88 verdächtige Fälle. In 42 Fällen handelte es sich um fortgeschrittene Gonorrhöe. Im Vorjahr waren es weniger als die Hälfte!“ Die Zahl der Autodiebstähle ist in den letzten Monaten etwas zurückgegangen, ist aber immer noch erschreckend hoch.. Es handelt sich fast immer um jugendliche Autodiebe. Werden sie erwischt, dann erhalten sie eine Verwarnung. Nach einigen Verwarnungen werden sie an ein Jugendheim verwiesen. Dort ist jedoch gewöhnlich kein Platz freil Die wartenden Jugendlichen — es handelt sich hier nur um wirklich schwere Fälle mit oft 50 bis 80 Vergehen und Verbrechen — können nun, praktisch genommen, risikolos neue Verbrechen begehen, da ihnen nichts mehr passieren kann. Nur zehn Prozent der kriminell Belasteten werden an die-Schulen verwiesen, die übrigens „Pflegeheime“ genannt werden. Eine Kontrolluntersuchung ergab nun, daß von den im Jahre 1951 „Erzogenen“ nicht weniger als 73 Prozent die kriminelle Laufbahn weiterverfolgten! Staatsminister Erlander deutete vor kurzem an, daß der Prozentsatz der Rückfälle jetzt noch höher ist. Mit anderen Worten: Die Methode der „Erziehung und Pflege“ hat vollständig versagt!
In den jetzt geplanten Schulen ist eine Abteilung mit „intensiver Behandlung“ vorgesehen, es handelt sich um eine Art Schockbehandlung, die man als letzten denkbaren Ausweg versuchen will. Die. Einführung von Jugendarresten und Jugendgefängnissen wird sich wohl auch kaum vermeiden lassen. Aber., alles„ zusammen wird viele hunderte Jugendliche, die gefährliche Gewohnheitsverbrecher geworden sind, nicht mehr zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft machen können. Diesem Problem steht man in Schweden ratlos gegenüber I
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