Pandämonium von Zeitgenossen

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Die Geldgierigen, die Rhetorik-Meister, die Sentimentalen, die Liebesschwärmer, die Faulen ...: Matthias Zschokke beschreibt sie mit der Sachlichkeit des Illusionslosen.

Ich liebe Menschen, die alles um sich herum vergessen und nur an die eine Sache denken, die sie gerade tun." Ein weiser Grundsatz. Auch fürs Lesen. Bei der Lektüre des neuen Buches von Matthias Zschokke sollte die vollkommene Konzentration nicht schwer fallen, besitzt es doch die verführerische Qualität, vom Leser unaufdringlich Stellungnahme einzufordern.

Beobachten und Denken

Der Ich-Erzähler des Romans "Maurice mit Huhn" ist ein Mann mit Zeit. Als Verfasser von Behörden-Schriftverkehr für des Deutschen nicht mächtige Ausländer in Berlin, einem selbst kreierten Beruf, hat er nicht übermäßig viel zu tun. So gibt er sich dem Beobachten und Denken hin.

Ein Roman im klassischen Sinn mit einer Handlung, die auf einen Höhepunkt zuläuft, und mit Charakteren in Konflikten ist "Maurice mit Huhn" nicht. Eher ein Gedanken-Gemälde, entsprechend dem Umschlag des Buches, das den Ich-Erzähler als kleines Kind mit einem Huhn in den Händen zeigt, ein Bild, das der Vater des Ich-Erzählers gemalt hat. Maurice malt mit Worten, aus denen ein tristes äußeres Panorama Berlins entsteht und ein subtil getöntes vom Innenleben eines Unbestechlichen.

Was fesselt die Leserin, wenn es keine Handlung, keine Konflikte, ja nicht einmal das übliche Erzähltempus, die Mitvergangenheit, gibt, sondern nur das Präsens? Eine feines Gewebe unerhörter, erschreckender, erheiternder, frecher, trauriger, ironischer Gedanken. Von Anfang an spürt der Leser: Hier schreibt einer ohne Schere im Kopf. Er räsoniert ohne Schaum vor dem Mund, mit der Sachlichkeit des Illusionslosen: "An sich geht es mir gut, wenn da nur nicht Tag für Tag dieses Leben wäre."

Illusionslos

Man kann nicht aufhören mit dem Lesen, denn dieses Buch weckt von Thema zu Thema mehr die Neugier: Was hat dieser 1954 in Bern geborene Schriftsteller, Theaterautor und Filmemacher, der seit 30 Jahren in Berlin lebt, über den Zeitgeist zu sagen, über das Alter, die Liebe, das Geld, die Freundschaft? Also eine Sammlung von Aphorismen, eingekleidet in ein bisschen Ort und Zeit? Nein, dieses Buch drückt die Sehnsucht nach einem Zustand aus, in dem das Innere mit dem Äußeren in Einklang ruht.

Das Äußere

Das Äußere, das sind Freunde, deren hohles Geschwätz der Erzähler schon auswendig kennt. Aber wer hat den Mut, mit alten Freunden zu brechen? Maurice. Das Äußere ist die Greisin, die Mutter des Ich-Erzählers, deren Ende der Sohn beiwohnt, um zu erkennen, dass von Sterbenden keine "erhellenden Mitteilungen" erwartet werden dürfen. Das Äußere, das sind die Macher, denen Zögern und Zweifeln fremd ist und die aus dem Leben hinausstolpern, noch immer durchdrungen von der eigenen Wichtigkeit. Die Geldgierigen, die Rhetorik-Meister, welche mit ihrer Beredtheit ihre Gedankenknappheit vertuschen, die Sentimentalen, die Liebesschwärmer, die Künstler, die Faulen, die Politiker und ihre Redenschreiber, die politisch korrekten Pädagogen - was für ein Pandämonium von Zeitgenossen: "Die Strahlungen, die heutzutage auf den Menschen einwirken, sind so vielfältig und stark, dass man in Bleianzügen herumlaufen müsste, um vor ihnen gefeit zu sein. Ganz besonders von oben dringen sie, durch die Schädeldecke, in uns hinein und bringen den Organismus durcheinander. Man muss sich das vorstellen wie Mikrowellen aus dem All. Sie bringen unser Hirn in Schwingungen und erwärmen es, wodurch es zu Mus verkocht."

Kein Nörgler-Buch

Ein Nörgler-Buch? Mitnichten. Der Ich-Erzähler erhebt sich nie über die anderen, er schaut nur, hört, notiert, denkt, z. B. warum es heute so wenige Genies gibt. Und antwortet, indem er Schiller zitiert: "Gelegenheitlich muss ich anmerken, dass ich nunmehr der Meinung bin, dass Genie, wo nicht unterdrückt, doch entsetzlich zurückwachsen, zusammenschrumpfen kann, wenn ihm der Stoß von außen fehlt."

Dieses Buch ist ein Stoß von außen. Es wird keine Genies aus den Lesern machen, aber ihnen helfen, ihr tägliches Leben mit dem nötigen inneren Abstand zu betrachten. Soeben hat Zschokke für dieses leise Buch mit viel Sprengkraft den Solothurner Literaturpreis 2006 erhalten.

Maurice mit Huhn

Roman von Matthias Zschokke

Ammann Verlag, Zürich 2006

239 Seiten, geb., e 18,90

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