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Paris im Herbst

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Paris ist eine Stadt der Horizonte. Es ist durchflutet mit Licht bis zum Horizont. Seine Avenuen führen bis zum Horizont. Die Bauwerke erstrecken sich bis zum Horizont und auch sein Einfluß, den es seinen großen Männern verdankt, deren Tatendrang noch über den Horizont hinausging.

Paris ist ein großer Staubsauger. Man hat das Gefühl, jeder Stein im ganzen Land wurde benötigt, es zu erbauen, jeder Mensch gebraucht, um es zu bevölkern. Denn auf dem Weg nach dieser gigantischen Insel fährt man oft stundenlang durch ein Meer von Mais, Getreidefeldern, Wiesen und Buschwäldern, ohne auch nur einem Haus oder einem Menschen zu begegnen. Paris wird immer als die Stadt der Lebensfreude, als eine junge, romantische Stadt, eine Stadt für Verliebte beezeichnet. Ich kenne keine Stadt, die so feierlich ist, so ernst, so würdig und pflichterfüllt. Natürlich wird das den Fremden nie zu Bewußtsein gebracht. Man gibt einem jungen Hund zum Zerbreißen auch nicht gerade das beste Paar Schuh. Der alte Pantoffel, den die Pariser den Fremden ruhig zum Zerkauen überlassen, ist der Montmartre. Dort finden sie die Lebenslust, dort die Plätze für Verhebte, dort die Romantik. Daß diese Romantik aber schon vollsynthetisch ist, wird kaum einem jener klar, die 20 Franc bezahlen, um sich von einem der „Künstler“ porträtieren zu lassen, und die bei den Tönen der Valse d'amour, von einem hochbezahlten Harmonikaspieler georgelt, glauben, typisch pariserische Stimmung zu erleben.

Ca c'est Paris, sagen sie beseligt beim Anblick des nächtlichen Lich-tergewoges von oben, das sich kaum von eineml anderen nächtlichen Lichtergewoden von oben unterscheidet.

Ca c'est Paris, wenn sie ehrfürchtig einem Maler über die Schulter schauen, der mit schmissigem Pinsel-schleudern Sacre-Coeur in lila oder Paris in knall-orange taucht und Ca c'est Paris, in einer Vorführung der Folies Bergeres, die dem „Variete-Zauber' aufs Haar ähnelt, einer Fernsehsendung, der sie zu Hause vielleicht nur ein halbes Auge schenken.

Das soll nicht heißen, daß Paris keine leichte Stadt ist, denn die Luft in Paris ist hellbau. Sie nimmt den Gebäuden die Erdenschwere, löst endlose Häuserreihen in ihrem zarten Dunst auf und läßt kilometerweit entfernte Bauwerke wie in einer Fata Morgana greifbar nah werden. Sie kommt aus der ile-de-France, verweht Düfte von Seine und kleinen Bistros und läßt einen, trotz der enormen Entfernung, die man zu durchwandern hat, wie auf Watte gehen. Und so bewältigt man leicht alle Bauwerke, die einem der Fremdenführer vorkaut, und die man erst wieder von ihren angedichteten Eigenschaften befreien und sich zu eigen machen muß: In Nötre-Dame muß man zuerst den Glöckner wegdenken, um mit ganzem Gemüt die Frömmigkeit aufzusaugen, die diese Kirche auskleidet. Im Louvre schlagen sich vor dem Lächeln der Mona Lisa die Massen ihre Ellenbogen ein, während man drei Schritte weiter von Leonardos Madonna in der Felsengrotte mit ihrer viel innigeren Schönheit viel mehr bezaubert wird. Beim Betrachten des Eiffelturmes von unten (seine Besteigung ist nur für Städteplaner und Selbstmörder wichtig) hat man einen weitaus tieferen Eindruck von Größe und menschlichem Genie. Im Invalidendom blickt man ohne jede nationale Ehrfurcht zu Napoleons Sarkophag hinunter, der einer kalten Chaiselongue ähnelt, und besichtigt dann die Kirche Saint-Louis-des-Invalides mit ihrem historischen Dunst und einer Kollektion schlaff-modriger Fahnen.

Daneben gibt es natürlich auch Gebäude, die man nimmt, wie sie sind, und deren Eindruck immer gleich bleiben wird: Conclergerie, Sainte Chapelle, Are de Triomphe, Pantheon, Place de la Concorde und die Oper. Und schließlich findet sich jeder seinen eigenen Winkel, der für ihn sein Paris ist, wie für mich die Place des Vosges, dieses abgeschiedene Refugium voll Harmonie und Ruhe.

Einen Vorgeschmack der Metro bekommt man, wenn plötzlich auf der Straße aus den übergitterten Tiefen ihres weitläufigen Tonnenlabyrinthes warme Waschküchendämpfe aufsteigen Aber gar so gemütlich wie in einer Waschküche fühlt man sich nicht. Und wer einmal nach Mitternacht einen der letzten Wagen genommen hat, sich beim Aussteigen alleine findet in den ausweglosen, hellen Gängen, ausgeliefert den Schildern, Gittern und Mechanismen, macht sich mit Schrecken klar: Jeder der zufälligen Pariser Passanten, den er um Hüfe rufen würde, und das nicht in fehlerlosem Französisch, würde ihn zuerst verbessern, bevor er ihm durch Auskunft oder Tat helfen würde.

Die Metro mit ihren Jugendstil-Waggons wie die Bouquinisten, die Schlepper auf der Seine und.die unausrottbaren Baskenmützen (schon beinahe zu einer nationalen Charaktereigenschaft geworden) gehören zu den stimmungsvollsten Einrichtungen. Sie helfen dazu, von Paris ein klassisches Bild zu malen und nicht ein mit Dutzend-Augen gesehenes, fadenscheinig-romantisches Kitschbild.

Aber die wahre Ode auf Paris ist Versailles. Nach der Besichtigung des Schlosses ist man mit „Bewunde-derung“ bis zum Rande voll, obwohl man historisch über nichts anderes informiert wurde als über die hygienischen Zustände zur Zeit Ludwig XIV. (die Trinkgeld-Geschichte der Fremdenführer) und läßt sich mit der Masse in den Park spülen. Dort stehen Sessel bereit, von wo aus Millionen schon das gleiche Photo geschossen haben. Aber das will man nicht, und man wendet sich ab.

Es ist ein klarer Tag. Leicht und etwas rauchig verschleiert ist die Luft. Die weiten Wasserflächen am Ende der großen Allee scheinen sich dadurch ins Unermessliche auszudehnen. Eine warme zarte Vormittagssonne liegt auf den Wegen, die Bäume sind ruhig und schon etwas herbstlich rot, und es duftet nach warmen Kastanien und frischgeschnittenem Buchs. Von der Hauptallee biegt man ab in eine Seitenallee, unberührt und menschenleer. Der Boden ist dunkel und schon mit gefallenen Blättern wattiert, die Sonne sickert durch die Blätterspalten und malt weiche helle Flecken auf den Kies. Links eine Steinbank, rechts zwei weiße Säulen, die zu einem Pavillon gehören und die wie eine sonnige Oase durch die Baumstämme leuchten. Kaum ein Laut eines Vogels, nur von weither das mechanische Schnappen einer Hek-kenschere. Der Weg ist zu Ende, die Dämmerung erweitert sich zu einem helleren Rondeau, von dem weitere endlose dämmerige Alleen wegführen.

An einem kleinen Bassin mit zwei Putten ein Maler, dann ist man wieder alleine. Legt im Gehen den Kopf in den Nacken und läßt über sich Blätter und Licht wie ein Mosaik wandern. Man gelangt zu einem großen Platz, auf dem die Sonne wie ein Teppich liegt. Verstreut über den Platz einige schon etwas kahle rötliche Kastanienbäume, in einer Ecke ein kleiner grüner versperrter Kiosk. Kein Mensch. Nur drüben auf einer Leiter ein trällernder Franzose, der eine Statue wäscht.

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