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Paris — in dieser Zeit

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NACHDEM DREI MILLIONEN Pariser die französische Hauptstadt verlassen haben — allein in den letzten Juli- und ersten Augusttagen suchten zwei Millionen das Weite — ist die grauenhafte Zeit angebrochen, vor der sich die zum Bleiben gezwungenen Ausländskorrespondenten so sehr fürchten: die Periode, in der sich eine Weltmetropole vom Tumult des Alltags ausruht und ihre treuesten Bürger gnadenlos ihrem Schicksal überläßt. Die Politiker weilen am Mittelmeer oder bei ihren Wählern auf dem Lande.

Die meisten Theater, zahlreiche Geschäfte und Restaurants haben geschlossen; selbst die Zeitungskioske auf den belebten Boulevards zeigen das traditionelle Plakat „Fermeture anuelle” — alljährliche Sommerpause.

ICH HABE ES NUN JAHR FÜR JAHR erlebt, daß Paris im August sein Leben einmottet und verbannt, daß es renoviert und repariert, Baugerüste errichtet und Straßen aufreißt — und trotzdem fühle ich mich jedesmal angesichts dieser periodisch wiederkehrenden brutalen Unbekümmertheit überrascht und verloren. Ich kann den amerikanischen Kolumnisten Art Buchwald durchaus verstehen, wenn er vor einiger Zeit, ebenfalls im August, kummervoll schrieb, er habe nach vielen vergeblichen Versuchen, eine Wäscherei ausfindig zu machen, seine schmutzigen Hemden nach London geschickt,. um sie dort waschen zu lassen. Mein Restaurateur ist nach Spanien gefahren und meine Zeitungsfrau in die Auvergne. Weit und breit gibt es kein offenes Papiergeschäft, keinen Elektriker, keinen Schuster, keinen Installateur. Die Untergrundbahnen fahren in größeren Abständen.

An den Ministerien werden Bauarbeiten vorgenommen; Hotels, Bahnhöfe, Privathäuser werdep einer Waschprozedur unterzogen, die sie ihrer jahrhundertealten Patina beraubt und sie meist in einem fürchterlichen Ockergelb von der dunkelgrauen Umgebung abstechen läßt. Es plätschert den ganzen Tag, und Wasserlachen ergießen sich über Bürgersteige und Fahrwege. Der Nordbahnhof, ein architektonisches Ungetüm aus dem vergangenen Jahrhundert, steht nun, gleich einer kunstvoll verzierten Marzipantorte, hellglänzend da und gemahnt in seiner Aufgefrischtheit an eine alte Frau, die durch Aufträgen von Puder und greller Schminke die Illusion mädchenhafter Frische zu erwecken sucht, ohne zu ermessen, daß sie das Häßliche gerade noch betont, daß sie sich der Lächerlichkeit der Masse preisgibt. Aber damit nicht genug: Auch das Grand Palais, dieses Gemisch von Tempel, Bahnhof und Odeon, wird demnächst, anstatt der gnädigen Spitzhacke anheimzufallen, als weißer Albdruck eine geschmacklich von allen Göttern verlassene Bauepoche anklagen!

ZU SPÄTER STUNDE GEHE ICH über den Boulevard Saint-Michel, der von jungen Leuten aller Herren Länder wie eh und je belebt ist — Weißen, Schwarzen, Braunen, Gelben. Doch Englisch und diverse Negerdialekte erscheinen als die beiden Hauptsprachen. Soweit die Kinos keine amerikanischen Filme spielen, kündigen sie „Untertitel in englischer Sprache” an. Bis nach Mitternacht bieten fliegende arabische Obsthändler Weintrauben, Birnen, Pfirsiche und Wassermelonen an, die verführerisch auf ihren zweirädrigen Karren aufgeschichtet sind. „Peaches” rufen sie, oder ,-sweet pears” und nur wenn man verwundert stehen bleibt, geben sie die französische Übersetzung. Die Kuppel des Pantheons ist magisch beleuchtet und die Fassade der Notre-Dame erstrahlt königlich im Lichte ungezählter Scheinwerfer. Anläßlich der diesjährigen 800-Jahr-Feier der berühmten Kirche wird jeden Abend zweimal ein grandioses Schauspiel von Licht, Farbe und Ton aufgeführt, das man für 3 Francs vom Seineufer aus, für 10 Francs an Bord eines Schiffes erleben kann: Abwechselnd richten sich die Scheinwerfer auf einzelne markante Teile der Kathedrale, die große linke Seitenrosette glüht von innen auf und vermittelt den staunenden Zuschauern ein phantastisches Bild vielfältiger Buntheit. Und immer wieder erscheint das ganze Monument in verschwenderischer Lichtfülle.

Namhafte Schauspieler, deren Stimmen auf Tonband aufgenommen sind, lassen Zitate von Klassikern und Herrschern lebendig werden. Orgelklang braust auf und hallt mächtig durch die Straßen und Plätze der Cite-Insel wider. Selbst am geräuschvollen Place Saint-Michel kann man es noch wahrnehmen. Zum Schluß steigen Raketen auf und beenden die Darbietung, mit der Paris unter dem Motto „Les Fėeries de Notre-Dame” die vor 800 Jahren erfolgte Grundsteinlegung seines größten Gotteshauses feiert. Lange noch, nachdem das weiße . Motorschiff, das die Ausländer zum Lichtfest der Kathedrale brachte, unter den Seinebrücken fortgeglitten ist und sich die Zuschauer am Ufer verlaufen haben, schwimmen tausende kleiner Kerzen in roten und gelben Plastikfassungen auf der Seine. Es haben sich Leute gefunden, die mit Eimern und langen Stöcken den seltsamen Sport der Kerzenfischerei betreiben — vermutlich weil ein Spaßvogel das Gerücht verbreitete, daß sich in einigen Behältern Geldscheine befänden …

NATÜRLICH KANN MAN ÜBER DIESE ART, durch routinemäßige Attraktionen, die an zweimal täglich ablaufende Filme erinnern, den Geburtstag einer Kathedrale zu begehen, geteilter Meinung sein. Aber es ist nicht die Aufgabe dieses Berichts, den guten Willen der Stadt Paris, die Fremden für den trostlosen Anblick der Baugerüste und für die geschlossenen Theater und Museen zu entschädigen, wegen einer Geschmacksfrage zu schmälern. Wer das Spiel kitschig und abgeschmackt findet, kann ihm ja fernhleiben und sich die Zeit nach eigenem Gutdünken vertreiben. Einhundertfünfzig Meter vom Lichtschauspiel entfernt, in einem Cafe gegenüber dem Justizpalast, erlebt eine offensichtlich angeheiterte deutsche Touristengruppe von zwei bis drei Dutzend Menschen Paris auf eigene Weise: Sie haben sich auf den Sitzbänken untergehakt und singen dröhnend Schunkellieder — zunächst „Schnaps, das war sein letztes Wort” und später „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen . .

Sie werden später berichten, daß ihnen Paris ein „unvergeßliches Erlebnis” gewesen sei. Manche werden sich vielleicht über die Primitivität sanitärer Anlagen, die Erdnußschalen auf den Cafe-Terrassen und die friedlich auf der Straße schlafenden Clochards erregen, nachdem das Küssen in der Öffentlichkeit und das freie Benehmen der Liebespärchen längst nicht mehr zu den spezifischen Privilegien der Lichtstadt an der Seine gerechnet werden kann. Gewisse Formen der Integration beginnen sich über die Köpfe der Politiker hinweg anzubahnen, die jedoch nur ein ständiger Beobachter wahrzunehmen vermag: ln Frankreich wächst, mit dem Blick auf den Nachbarn, die Lust an der Organisation und einer disziplinierten Planung — in Deutschland beginnt man mehr und mehr die Lebenskunst des laisser-aller, des dolce farniente, der gelockerten Existenz zu schätzen. Dieser von Kabinetten und Ministerien nicht diskutierte Vorgang wird zur Koordinierung der Wettbewerbsbedingungen weit mehr beitragen, als es die umstrittene Angleichung des Getreidepreises zu tun vermag.

ABER KEHREN WIR ZU PARIS

ZURÜCK. Ein deutscher Freund, der mich kürzlich besuchte und hier 14 Tage blieb, schreibt mir soeben, wie sehr ihn das Wiedersehen mit der Seinemetropole enttäuscht habe. „Es war niederschmetternd”, schreibt er, „den 14. Juli zu erleben, der im Gegensatz zu früheren Jahren alles andere als ein wahres Volksfest war. Die motorisierte Parade auf den Champs- Elysee war ebenso wie die angestaubten Trikoloren an den Rathäusern, Ministerien und Polizeirevieren eine lustlose und erzwungen wirkende Konzession an die Historie. Früher tanzte man tagelang auf der Straße und die Nächte waren erfüllt von Musik, Lampions und lebendig-bunter Heiterkeit. Diesmal habe ich nur zwei oder drei von den Behörden organisierte Straßenbälle gesehen. Der Frohsinn war in den Straßen nicht zu spüren. Stattdessen wurde von Halbwüchsigen durch Explosion von Knallkörpern und ohrenbetäubende Hupkonzerte auf den Champs-Elysee und der Place de la Concorde für Lärm gesorgt. Alles erinnerte an einen Jahreswechsel in Chicago. Wir fragten uns immer wieder: Ist das noch Paris? An den Türen der kleinen Hotels fanden wir Aufschriften ,pull’ und ,push’. Auf den Speisekarten stand .breakfast”, und Worte wie .barmaid”, ,show”, shopping”, .parking”, .standing”, ,city”, .business centre”, ,shirt- service’ verfolgen uns bis in den Schlaf hinein. Lieber Freund, wir suchten Paris, das wir einst zärtlich liebten — doch wir fanden es nicht…”

1ST PARIS WIRKLICH TOT? Ich wage es nicht zu entscheiden. Für mich gibt es immer noch Quellen der Hoffnung und Ermutigung — beispielsweise in den Morgenstunden, wenn ich mich in den Schatten der Kastanien neben der Medici-Fontäne im Luxembourg- Garten setze. Hier, im ewigen Garten der Jugend, habe ich mich schon vor Jahrzehnten auf meine Prüfungen vorbereitet. Wie damals nehmen die Tauben gemeinsam mit den Spatzen ihr Bad. Wie damals ziehen die zu Karpfengröße angewachsenen Goldfische ihre Bahn durch das rechteckige Becken. Wie damals dringt von den Wegen und Spielplätzen Kinderlachefl in diese Einsamkeit. Das regelmäßig- zarte Plätschern der Fontäne versöhnt und beruhigt. Wenn man die Augen schließt, glaubt man meilenweit von Paris zu sein. Gestern fragte mich ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren, ob es neben meinem Stuhl Ball spielen könne. Ich meinte, daß dies gefährlich sei und wies mit der Hand auf das Wasserbecken. Die Kleine legte einen Augenblick nachdenklich ihren Kopf auf das Eisengitter und sagte dann ernsthaft, als sei ihr eine Erkenntnis gekommen: „Ach ja, Monsieur, Sie haben recht. Es könnte die Goldfische erschrecken ..

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