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Paris morgen macht Sorget

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irtnäckite' ElsSsdei ist manchmal iran, ob der unmenschlichen Größe iner Aufgabe zu verzweifeln. Et :nnt sich Marcel Diebolt, ist bald ) Jahre alt und trägt den Titel eines oben Kommissars für den Aufbau td Städtebau für die Pariser Region. Was ist seine Aufgabe? Sie kündigt ch erschreckend einfach an: Es han- :1t sich darum, jedes Jahr eine ge- mte Stadt von 150.000 Einwohnern i errichten.

Diese Zahl ist in der Tat die 'achstumsrate in der französischen auptstadt und ihren Vorstädten, und t Jahre 1960 zählte man eine Million nwohner mehr als im Jahre 1954. 'ährend in ganz Frankreich die Be- ilkerung auch recht geschwind zu- mmt, man zählt jeden Morgen )00 Einwohner mehr, so beträgt dei nteil der Pariser Region an diesem uwachs allein 500. Das bedeutet, daß eser Sektor sich bevölkerungsmäßig hr viel schneller aufbläht und sich isammenballt als der Rest des Lan- :s. So zählte die Bevölkerung in dient Landesteil, der weniger als fünf •ozent der Gesamtoberfläche Frank- ichs umfaßt, am Ende dieses Jahres ehr als neun Millionen Einwohner, is sind 20 Prozent der französischen esamtbevölkerung.

Dieser Zustand ist sowohl durch e ständig ansteigende Geburtenzahl :dingt als auch dadurch, daß Paris :genüber dem restlichen Land als lugpumpe wirkt. Das hat seiner rund in der wirtschaftlichen, sozia- n, geistigen und politischen Konzen- ation der Hauptstadt.

Es ist kaum möglich, einen wirk- imen Deich gegen diese Flut zu er- chten, die aus den Provinzen auf die tadt zuströmt und jeden Tag in dei Ville-Lumiėre“ an die Ufer schlägt .n Anstrengungen in dieser Hinsichi at es nicht gefehlt. Insbesonden urden Versuche einer weitgehender idustriellen Dekonzentration ver acht. Diese Versuche haben die Be regung ein wenig verlangsamt, es is inen aber nicht gelungen, sie zun tillstand zu bringen.

So sehen sich die verantwortliches teilen ungeheuer schwierigen Auf aben gegenüber, sowohl was die Ver raltung als auch die Organisation um Ausrüstung dieses ungeheuren um

maßlosen „Kopfes“ angeht. In den Jahren nach dem Kriege wurden große Anstrengungen für den Wiederaufbau unternommen, aber man hatte damals keinen Gesamtplan aufgestellt, und die großen Wohnbezirke mit mehreren tausend Wohnungen wurden etwas zufällig auf freien Plätzen errichtet, die sich in Paris selber oder in seiner Umgebung vorfanden. Bei diesem anarchischen Wachstum konnte die Ausrüstung nicht mithalten, und das hat viele Enttäuschungen und Vorhaltungen zur Folge gehabt. Insbesondere die Transportmittel wurden nicht den neuen Bedürfnissen atigepaßt. Hunderttausende von Arbeitern verlieren jeden Tag drei bis vier Stunden ihrer Freizeit in Zügen und Autobussen, die in unzureichender Zahl vorhanden und schlecht ausgerüstet sind, um den Zustrom der arbeitenden Bevölkerung zweimal täglich zufriedenstellend bewältigen zu können.

Wohin mit der „Markthalle“?

Die öffentlichen Gewalten sind sich der Gefahr, die dieser Zustand für die Gesundheit und die Moral der Einwohner der Pariser Region darstellt, voll bewußt. Großzügige Pläne werden ausgearbeitet, und einige von ihnen befinden sich im Augenblick in Ausführung. An der Spitze einer glänzenden Equipe von Architekten, Urbanisten und Verwaltern koordiniert Marcel Diebolt, nicht ohne Mühe, dieses große Werk.

In der Tat kostet ihn seine Arbeit einige Mühe, denn die Straße, die er zu begehen hat, ist voller Hindernisse. Einige dieser Hindernisse sind die Frucht einer seit mehr als einem Jahrhundert auf gehäuften Verwaltungsroutine in Fragen des Aufbaues und des Urbanismus. Andere erklären sich aus den Interessen, die sich um den Status quo herum angesiedelt haben und schwer zu beseitigen sind, da sie Gewinn bringen. Um nur ein Beispiel zu geben: Seit einem Vierteljahrhundert bemühen sich die öffentlichen Gewalten, den großen Hallenmarkt aus dem Herzen der Stadt zu entfernen. Die Zu- und Wegfahrten, die durch ihn bedingt sind, blockieren den Verkehr der Hauptstadt während mehr als der Hälfte des Tages und füllen die Straßen mit Bergen von verschiedenen Abfällen, die die Luft im Sommer verpesten. Hinzu kommen die be-

trächtlichen Kosten für Umladung und Aufbewahrung der Waren, die täglich durch Lastwagen von der Peripherie der Stadt herangeführt werden müssen. Es bestehen seit langem Pläne für die Errichtung neuester Großmärkte in der Peripherie von Paris, in der Nähe von Eisenbahnknotenpunkten. Die Verwirklichung derartiger Pläne aber hat sich stets an der mächtigen Koalition der Privatinteressen gestoßen, die natürlich auf die Unterstützung der Abgeordneten aus der Hauptstadt rechnen konnten, denen wenig daran gelegen ist, sich bei ihren mächtigen und begüterten Wählern unbeliebt zu machen.

Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, daß die Regierung schließlich doch noch den Sieg davontragen wird — mit 20 Jahren Verspätung. Viele Pariser bedauern es sicher, daß die Deutschen während der Besatzungszeit nicht mit dem Hallenviertel ebenso verfahren sind wie mit dem Marseiller Hafenviertel. Dieses Viertel wurde im Laufe einer Woche in die Luft gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht. Heute ist es mit seinen modernen Gebäuden einer der schönsten Marseiller Stadtteile.

Satelliten-, Parallelstadt oder „Faden“?

Aber die Verlagerung der Hallen ist nur eine der Fragen, mit denen sich Herr Diebolt beschäftigen muß. Im Vergleich mit anderen ist das sogar eine recht nebensächliche Frage. Die Unterbringung der 150.000 Neuankömmlinge der Pariser Region ist wirklich ein viel härterer Brocken. Die Urbanisten sind der Meinung, daß

unter Aufrechterhaltung der augenblicklichen Strukturen die Stadt und die Region bevölkerungsmäßig gesättigt ist. Man muß also etwas anderes und anderswo unternehmen.

Ein heftiger Streit ist unter den Spezialisten über dieses „etwas andere“ entbrannt. Die offiziellen Pläne sehen die Schaffung von Satellitenstädten in einem Umkreis von 30 Kilometern um die Stadt herum vor. Sie würden etwa 200.000 Einwohner enthalten und mit der Hauptstadt durch Autostraßen und Schnellbahnen verbunden sein. Aber diese Pläne werden durch eine Gruppe junger Architekten heftig angegriffen, die einfach vorschlägt, ein neues Paris von zwei Millionen Einwohnern zu errichten, eine Parallelstadt, die

außerhalb der augenblicklichen Peripherie liegen würde. Diese Lösung, so sagen ihre Verfechter, würde eine große Konzentration der Konstruktionsmittel erlauben, und sie bietet den Vorteil, daß man eine ganze Stadt im vorhinein planen könnte. Brasilia läßt viele Urbanisten träumen.

Ein drittes Projekt wird von den Schülern Le Corbusiers verfochten, die Anhänger einer „linearen Stadt" sind. Ihrer Meinung nach ist die Stadt der Zukunft fadenförmig, würde sich entlang einer mächtigen Kommunikationsader erstrecken, die eine Autobahn, Schienen und einen Kanal enthält. Das Seinetal böte Paris die Möglichkeit, sich mehr als 200 Kilometer lang zu erstrecken. Warum diese Möglichkeit nicht ausnutzen?

Welche von diesen drei Lösungsmöglichkeiten — eine Satellitenstadt, ein Parallelparis oder ein fadenförmiges Paris — wird schließlich in Angriff genommen werden?

Niemand weiß es, und niemand kann voraussehen, ob eine derartige Wahl überhaupt getroffen wird. Denn bis jetzt noch beherrscht der Empirismus der Teillösungen die Lösungen von Tag zu Tag. Man beeilt sich so schnell wie möglich, man baut in alle Richtungen, denn zuerst muß denen ein Dach gegeben werden, die noch keines haben.

Jedoch ist der erste Spatenstich für eine neue Metro schon getan. Sie wird sich tiefer in den Boden der Hauptstadt graben als ihre Vorgänger — die Züge werden 15 bis 30 Meter unter dem Erdboden fahren —, und sie soll

eine schnelle Verbindung zwischen dem Osten und Westen der Hauptstadt heistellen. Die „Metro regional Express“, deren erste Linie 50 Kilometer lang sein wird, ist vielleicht ein erstes Element für ein zukünftiges Paris nach den Vorstellungen von Le Corbusier.

Das Paris von heute, das dem Paris von gestern und vorgestern sehr viel entlehnt, scheint nichts zu fürchten zu haben — zumindest im Augenblick nicht. Man wird also weiterhin — und wer sollte sich darüber beklagen — auf den Kais der Seine und in den alten Straßen des Zentrums flanieren können, auf der Suche nach jener Zeit, als die Stadt noch mit Menschenmaß gemessen werden konnte.

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