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Pater Kolbe

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Die Nachmittagsstunden dehnten sich bis in die Unendlichkeit.

Pater Kolbe fiel der Sonnengesang des heiligen Franziskus ein, jener Hymnus auf die Sonne, unsere Schwester. Ihm war, als ob niemals soviel bittere Ironie in diesen Worten gelegen hätte wie eben heute. Und dabei drückte doch der Hymnus auf die Sonne, unsere Schwester, zugleich die allerhöchste Verehrung Gottes aus.

Heute erschien ihm die Sonne wie eine Strafe Gottes.

Der Himmel war ungeheuer blau und unendlich, aber die Augen der Menschen waren grau, wie mit Staub überzogen, und erschöpft. Hinter den geschwollenen Lidern verkrochen sie sich wie zum Tode verurteilte Tiere. Wenn man in die Augen des Nachbarn blickt, gewahrt man darin nichts, als nur ein Verlangen, alles möge schon zu Ende sein. Wäre doch alles zu Ende! Die Qualen des erschöpften Leibes und auch die Todeserwartung, dieses langsame, dieses schreckliche Warten auf den Tod, und die niederträchtige Angst, unwürdig des Menschen, und all das, was den Menschen mit dem Leben verbindet, mit seinen Allernächsten, mit seinen Erinnerungen, seinen Gedanken, mit dem ganzen Dasein auf Erden.

Die Stunden dehnten sich bis in die Unendlichkeit.

Wenn man sie hätte zusammenzählen sollen, von gestern bis heute, so schienen es nicht viele gewesen zu sein. An den Fingern könnte man sie abzählen, mit Zahlen darstellen, mit diesen lächerlichen Zeichen ohne jeden Inhalt und Ausdruck, und die dennoch den Hauch des abgrundtiefen Leides atmen. Denn es geht darum, daß man sie durchleben muß. Jeder Bruchteil der Zeit ist eingeschlossen zwischen festgelegten Grenzen, jeder noch so kleine Bruchteil wächst hier, auf dem Appellplatz, an zu ungeheuren Dimensionen ohne Anfang und ohne Ende. Er wächst sich aus zur Unendlichkeit.

Der schmerzliche Gedanke klammert sich an jenen Begriff der Endlosigkeit und bemüht sich, einem Geschoß ähnlich zu werden, das hinausgeschleudert wurde in den Raum. Er versucht, die Unendlichkeit zu durchdringen, bis an ihr anderes Ende zu gelangen und dort verwundert innezuhalten. Denn er hält unmittelbar zu Füßen Gottes. Entsetzen klammert sich an den Gedanken und zieht ihn wieder zurück zur Erde. Reuig kehrt der Gedanke zurück, gänzlich des Stolzes entäußert, ein demütiger Büßer, eingehüllt in einen Sack und mit Asche bestreut.

Aber die Gedanken ziehen sich ebenfalls bis in die Unendlichkeit, die Sonne am Himmel ist eine Strafe Gottes, die Augen der Menschen verblassen immer mehr, und die Gedanken verwandeln sich in eine dichtgedrängte Schar vom Wahnsinn

Margarita half ihr, den Mantel abzulegen, und sah ihrer Mutter erstaunt ins Gesicht.

„Aber du siehst wirklich so aus… Du bist einfach außerordentlich. Gehst fort, um ein Weihnachtsgeschenk zu machen und kommst mit einem Gesicht zurück, als hättest du den Stein der Weisen gefunden ᾠ Nicht wahr, Julio?“

„Ja, so ist’s", sagte Julio ernst und sah seine Schwiegermutter an. „Es hat dir also gefallen?“

Wie herzlich die Stimme von Julio klang. Isabel war gerührt.

„Ja, und ich glaube, ich habe wirklich den Stein der Weisen gefunden. Ich muß jetzt immer daran denken, damit ich ihn nicht wieder verliere. Und bildet euch nur nicht ein, ich scherze", sagte Isabel heiter, während sie auf den Kamin zuging, um ihre Hände über den Flammen zu wärmen. Weder ihre Tochter noch die anderen hörten ihr aufmerksam zu, wohl aber ihr Schwiegersohn, und sie wußte es: ihr Schwiegersohn lauschte ihren Worten. Ihr Schwiegersohn kam zu ihr und stocherte in der Glut. ..

„Ich möchte gern einmal mit dir sprechen, Julio.“

„Darum sind wir ja an diesen Festtagen zusammen, Mutter, um von allem zu sprechen, um uns zu verstehen ᾠ“ Er machte eine Pause. „Du hast mit Manuela gesprochen, nicht wahr?“

Isabel nickte schweigend. So melancholisch sie noch vor ein paar Stunden gewesen war, so unendlich glücklich fühlte sie sich jetzt in diesem behaglichen Raum, unter all diesen Menschen, die es wert waren, geliebt zu werden .. . Zum erstenmal liebte sie die Verwandten ihres Schwiegersohnes. In ihrem Innern hatte sich wirklich ein kleines Wunder vollzogen. Sie hätte sich gern an die Worte Manuelas erinnert, um zu wissen, ob sie soviel Kraft hatten, auch ihr eigenes Leben segnen zu können. Aber es waren nicht die Worte, sondern es war der Mensch, der sie gesagt, und wie er sie gesagt hatte. Sie wußte nicht, was ihr geschahᾠ Ja, sie würde mit Julio sprechen müssen, und mit Margarita, mit allen. Vielleicht auch wieder mit Manuelaᾠ Vielleicht nur ein wenig mit Gott, wie die arme Manuela es so viele Jahre hindurch getan hatte, um ihr Leben leben zu lernen.

„Welch herrlicher Schnee, wie weihnachtlich ist es!“ sagte sie mit lauter Stimme, als sie ihre Augen von den Flammen löste. Und alle sahen zum Fenster, hinter dem das weiße Wunder des Schnees schimmerte. Zeichnungen von Wolfgang Erbens geschlagener Wesen. Sie drängen sich in großen Haufen, schweigend, genau so grau wie die Augen der Menschen, befallen von versteinertem Entsetzen, wie einst der schmerzensreiche Hiob vom Aussatz.

Unter den Füßen blaut der zusammengekrümmte Schatten, die Menschen atmen nur mit Mühe, ein um das andere Mal bricht einer von ihnen zusammen und fällt auf die Erde, in den eigenen stinkenden Kot und wartet auf den Schlag oder den Tritt mit dem Stiefel. Da hört man schon Schritte, beschlagene Schritte. Sie nähern sich, wachsen an, verwandeln sich in entsetzliche Angst.

Jetzt sind sie stehengeblieben.

Heran dringt der heisere Schrei des Soldaten, seine Flüche dringen heran, sein beißendes Verhöhnen des menschlichen Elends, und die Fußtritte beschlagener Stiefel gegen wehrlose Körper auf der Erde. Dann hört man noch ein Hinundherzerren, noch einmal Schreie, irgend jemandes Stöhnen und das Geräusch eines über die Erde geschleiften Körpers.

Jeder in der Reihe weiß nur zu gut, daß dies die ganz gewöhnliche Reihenfolge des Schicksals war. Man darf sich nicht umsehen, man darf nicht einmal mit seinem Blick den gequälten Kameraden hinter sich berühren. Und jeder weiß, daß hinter der Reihe der Haufen menschlicher Leiber ständig anwächst. Daß die einen noch zuckend daraufgeworfen wurden, die anderen bereits erstarrt, daß der Tod an der Seite hockt und ganz ruhig zusieht. Nein, das ist nicht der Tod. Das ist nur irgendein Soldat, der sich auf eine Kiste setzt, die Zigarette im Mundwinkel, und der wie ungewollt mit dem Ochsenziemer den Schaft eines Stiefels peitscht. Der Schaft funkelt in der Sonne im schwarzen Glanz, und auch die Augen des Soldaten funkeln in der Sonne, in blutiger Grimasse. Jetzt steht der Soldat auf, die Sonne auf den Stiefelschäften zerbricht in schwarze Streifen. Die Mütze aus der Stirn geschoben, die Binden mit dem aufgestickten Totenkopf über dem Schild. Unter dem Schild hervor weiden sich die kalten Augen am Anblick eines schwachen Menschen.

Pater Kolbe erinnert sich an jene anderen Augen. Früher einmal, in Japan, hatte er in solche Augen geblickt, auf einem einsamen Weg durch die Schilfrohrwüste. Er erinnert sich nicht mehr, ob das damals die Augen einer Schlange oder irgendeines anderen wilden Tieres waren. Er weiß nur, daß sie kalt waren, glitschig und hart, voller Verachtung und Hochmut, wie bei jenen Soldaten dort. Und er erinnert sich noch, daß dann unvermutet ein Pfeil heransauste, und die kalten Augen verschwanden wie ein ausgeblasenes Licht.

Das war vor sehr langer Zeit.

Das war vor so langer Zeit, daß es schwerfällt, sich das vorzustellen. Und doch war ihm so, als sei es gestern gewesen.

Jetzt nähern sich die Augen da, wachsen, verdecken mit ihren kleingewordenen Pupillen die ganze Welt.

Auf den Rücken, den Nacken, den Kopf flammen schmerzhafte Hiebe nieder. Dicht hintereinander, hart und schnell.

Der Soldat schlägt mit dem Ochsenziemer. Er schreit etwas. Was schreit er? Er weiß es schon. Er steht nicht gerade, er schwankt, er läßt den Kopf hängen.

Schon gut, schon gut!

Der Soldat geht weiter, aber die brennenden Striemen bleiben auf dem Rücken zurück, auf dem Kopf. Und die Stunden dehnen sich unendlich, die Sonne brennt feurig auf die Menschen nieder, die Gedanken jedoch verwandeln sich in demütige Pilger, die rastlos über die glühheiße Straße wandern und wandern und jede Fußspur im Staub mit ihrem Blut zeichnen.

In den Reihen entstehen Lücken, hinter den Reihen wächst der Stoß von Menschenleibern. Die Gedanken stolpern wie Büßer auf glühendheißem Weg. Es ist schon so lange, daß sie alle hier stehen und stehen. Wohl schon vom frühen Morgen an, und das ist lange her. Auch gestern standen alle, aber nur drei Stunden.

Jene drei waren wie ein Wimpemschlag im Vergleich zu den heutigen Stunden. Vielleicht gelingt es dem unbekannten Kameraden, die Verfolger zu täuschen, vielleicht gelingt es ihm, irgendwo im Walddickicht der Beskiden unterzutauchen, vielleicht können ihn weder Hunde noch fpöskj whr aufspüren. Niemand weiß, wann er floh. Beim Aberjdappell.-zählt der Blockälteste und flucht. Nachher erstattet er kapport. Er sagt, dieser und dieser da fehle. Was heißt: fehlt?ᾠ Ganz einfach, er ist ausgerissen? ᾠ Aber wann, wohin? ᾠ Durcheinander, Hin- und Hergelaufe, Flüche!

Pater Kolbe schließt die Augen und sieht jenen Ärmsten. Irgendwo im Gehölz verbirgt er sich und zittert vor Angst. Sein Herz hat sich in ein kleines Küken verwandelt, das rastlos im Gras piept, weil es die Mutter nicht mehr neben sich hört, über sich aber den kreischenden Räuber gewahrt. Die vergangenen Stunden waren auch für ihn eine Ewigkeit, und die fernen, blauschimmernden Beskiden gaukeln ihm Ruhe und Rast vor, Freiheit und Freude, die Aussicht, sich in unbegangenen Gebieten zu verlieren.

„Großer Gott, erlaube ihm, sich in den Beskiden zu verbergen. Möge sein armes Herz Ruhe finden.“

Die ungeheure Menge der Gefangenen steht blockweise in Reihen aufgestellt und wartet. Wartet eine Stunde, wartet die zweite Stunde, die dritte. Soldaten treiben sich überall herum und fluchen. Sie schlagen mit den Ochsenziemern zu, treten gegen Schienbeine, ohrfeigen. Rund um das Lager strahlen Reflektoren wie riesige Totenlichter neben einem Sarg. Schwarz droht der Himmel über den Köpfen, es nieselt kleine Sterne. Auf der Erde breitet sich die stinkende Nacht aus, voll von Angst und Entsetzen. Der Mensch sieht sich von Tieren umzingelt. Hier kommt er nicht mehr lebend heraus, hier kommt er nicht 'raus, niemals. Da kommt der Tod gekrochen, der niederträchtige, der gemeine, räuberische, trunken von Menschenleid. Er bleckt die fauligen Zahnstummel, höhnt mit seinen schwarzen Augenhöhlen und kommt immer näher und näher.

„Alle Mann in die Blocks zurück!“ fällt das Kommando im leichenfahlen Licht der Reflektoren. Jene Stimme zerfällt in viele kleine, sich wiederholende Echos, die Reihen lösen sich auf, zu Fünfen treten sie ab vom Appellplatz.

„Vielleicht, vielleicht.. .*, denkt so mancher ängstlich und klammert sich hartnäckig an den Gedanken.

Am nächsten Morgen bei Tagesgrauen wiederum Appell. Wie gestern, wie vor Ewigkeiten und wie in endlosen Morgendämmerungen. Die Sonne geht auf und entzündet die Wolken. Die Wolken überziehen sich mit Gold und Rosa, nachher verwandeln sie sich zu Silber und ertrinken endlich im noch dunklen Himmelsblau.

Am nächsten Tag also, am frühen Morgen — Appell. Wie gewöhnlich. Wie jeden Tag, unveränderlich, ohne Ende, bis ans Ende. Und wieder Abzählen, Flüche, Rufe. Schreien und die dummen, lächerlichen Gedanken von Hoffnung leicht überhaucht. Wie die Wolken da von Silber.

„Aber vielleicht wurde dieser Unglücksmensch schon längst gefaßt?“ Alle ziehen in Gruppen zur Arbeit, von Soldaten und Hunden umringt; sie werden überwacht von bösen Augen und schußbereiten Karabinern. Daneben Kapos mit Augen wie Räuber. „Und was wird mit uns?“

„Block zwölf bleibt auf dem Platz!“ ruft mit verhohlener Genugtuung der Wachposten.

Also ist er doch noch nicht gefaßt. O Christus, lieber Gott. Wenn er entkommt, erwartet den ganzen zwölften Block die Rache des Lagerkommandanten. Kommandant Fritsch behauptet, das sei eine Strafe. Aber es ist keine Strafe. Es ist Rache und das Verlangen, seine Begierden zu stillen. Was das für Begierden sind, ist schwer zu sagen, vielleicht verbrecherische, vielleicht sexuelle. Der Mensch versteht es, derlei Begierden zu analysieren, wissenschaftliche Schildchen daraufzukleben, in Schubladen einzuordnen und gescheit in Büchern darüber zu schreiben. Doch das menschliche Herz bringt das nicht fertig. Das menschliche Herz, dieses unsagbar dumme menschliche Herz ist tausendmal klüger als der menschliche Verstand. Das menschliche Herz sagt gerade heraus, daß der Lagerkommandant kein Mensch ist. Daß Fritsch eine Frucht des Satans ist, desselben Satans, den das Mittelalter in der Sünde sah und den es in Gestalt von steinernen Chimären auf dem Gesims der gotischen Türme dargestellt hat.

Block zwölf bleibt weiter auf dem Appellplatz.

Um drei Uhr nachmittag erlaubte Kommandant Fritsch, für ein paar Minuten in die Baracken zu gehen, damit die Leute eine halbe Schüssel fauliger Karotten oder nicht gargekochten Kohls hinunterschlingen konnten. Und nachher wieder im Galopp auf den Appellplatz.

Gott im Himmel, wie ziehen sich die Stunden endlos dahin! An ihrem Ende lauert der Tod, ausgeklügelt durch satanischen Zwang. Jedoch der Tod ist nicht schrecklich. Jemand wird sagen, er sei doch nur wie ein Übergang aus einem Zimmer in das andere, er sei wie ein Zurseiteschieben eines schweren, schwarzen Vorhangs, der einem den Eintritt versperrt. Man überschreite nur die Schwelle, und schon sei alles gut. Doch ehe man dabin gelangt, bis zu diesem Vorhang, muß man durch die Hölle hindurch.

Pater Kolbe lächelt, denn er denkt nicht so.

Pater Kolbe lächelt, denn er nennt jene Weisheit des Herzen sein eigen, die sehr gut weiß, daß man, um die Schwelle mit dem schwarzen Vorhang zu überschreiten, nicht zuvor die Hölle durchmessen muß. Nein.

Pater Kolbe weiß, daß man über jene Schwelle auf ähnliche Weise gelangen kann wie ein Kind, das über eine Wiese geht. Und daß man dabei ähnlich lächeln kann wie jenes Kind. Und er weiß noch mehr. Daß hinter jener Schwelle, hinter jenem schwarzen Vorhang, ein unendlich großes lichtblaues Glück auf ihn wartet, so groß, daß es für die menschliche Sprache keinen Ausdruck gibt. Die herrlichen Hymnen der Psalmisten Gottes und die herrlichsten Worte der Propheten Gottes und die Visionen der Heiligen des Herrn, und die Gedanken der Kirchenväter — all das ähnelt nur dem ungelenken Gestammel eines Stummen. Nur das menschliche Herz, wiederum nur das scheinbar doch so ungemein törichte menschliche Herz, ahnt, was des Menschen jenseits des Vorhangs wartet.

Pater Kolbes Herz weiß ganz sicher, daß jenseits des schwarzen Vorhangs die Allerheiligste Unbefleckte Muttergottes seiner wartet, lächelnd, mitleidig auf den armen Menschen niederblickend, der durch sein ganzes arbeitsames Leben von einem Ende der Welt bis zum anderen nur zu ihr gepilgert ist.

Pater Kolbes Herz ahnt dies nicht nur, sondern er weiß dies, weiß es ganz sicher. Denn sein Herz ist ähnlich dem Herzen eines kleinen Kindes, das glücklich durch die Wiesen springt, denn am Rand der Wiese, auf dem hellen Weg, da steht die Mutter und wartet.

Die Sonne ist keine Strafe Gottes mehr, sie ist ein glühender Hymnus zu Ehren der Allerheiligsten Jungfrau Mąria. Sogar der „blutige Kapo", Krott, ist jetzt kein blutiger. Kapo mehr, sondern eini armer, elender, verirrter Mansch, ,wert , unseres ;Mib: gefühls und unserer Liebe. Was mpcht es ..schon aus, daß dieser zwei Wochen lang versucht hat, ihn zu erledigen, daß er zwei Wochen hindurch sich an seiner Qual geweidet hat, daß er persönlich ihm dreimal so schwere Lasten auf die Schulter oder auf den Schubkarren lud wie den anderen und daß er ihn durch Schläge zwang, hin und her zu laufen? Das alles ist nichK. Das alles ist nur unsagbar lächerlich und klein. Und was ist schon dabei, daß am letzten Tag der bewußten zwei Wochen Pater Kolbe unter der Last zusammenbrach und der „blutige Kapo Krott ihn mit Füßen trat, daß er einen Knüppel auf ihm in Stücke schlug, daß er ihn endlich über einen Pfahl warf und ihn von seinen Gehilfen schlagen ließ, schlagen, schlagen, bis zum äußersten. Und daß er den Ohnmächtigen in den Sumpf schleppen und ihn mit Zweigen zudecken ließ und am Abend auf sein Ende lauerte. Das ist alles nichts. Anscheinend ist der „blutige Kapo" Krott ein berufsmäßiger Verbrecher, vielleicht leidet er an irgendeiner Krankheit, die an Wahnsinn grenzt. Zweifellos aber hat er Minderwertigkeitskomplexe, und das Bewußtsein darum wächst sich beim Anblick der stillen, ruhigen und doch so starken Augen Pater Kolbes zu einer schmerzhaften, fürchterlichen Raserei aus.

„Ich muß diesen verdammten Pfaffen fertigmachen!" beschloß er, so oft er dessen Blick begegnete. Er muß diese Augen auslöschen, sonst wird er verrückt! Um dieser Demütigung willen muß er sich rächen, daß das langsame Sterben Pater Kolbes, von Stunde zu Stunde gemessen, in ihm die ungeheure Leere ausfüllt, diese schwarze Leere, in der er sich als elender Wurm sieht, verlassen von allen, verflucht von Gott und den Menschen.

Pater Kolbe stirbt aber nicht im Sumpf unter den Zweigen. Als die Kollegen ihn ins Lager bringen, geht der „blutige Kapo" nebenher und freut sich an seinem Sieg. Denn da schleppen sie einen lebenden Leichnam, der morgen, übermorgen verenden wird. Und mit ihm werden vielleicht auch diese Augen sterben!

Pater Kolbe lächelt in Gedanken diesen merkwürdigen Erinnerungen zu. und betrachtet sie als einen mühsamen Weg, der iRh W Allbthefligsten-Jübgfi'AMäWa'HHfuhrt. Ja.What® ganze Welt dufchWandert, -Vdri- ė¥nem Eride zum anddreri,!Tįkom polnischen Unbefleckt'bis zürn fapariischen Unbefleckt, aber dieser Weg war gerade, sanft und hell. Die letzte Strecke, die durch das Lager von Auschwitz führt, könnte manchem als die schwierigste erscheinen. Pater Kolbe erscheint sie nicht als die schwerste. Im Gegenteil. Steil, gewiß, steil, steinig und sehr heiß, ohne Wasser und schmerzhaft, doch wie voller Freude zugleich.

Pater Kolbe liegt im Lazarett mit einer Lungenentzündung. Herrliche Augenblicke kamen. In den Fieberphantasien blickte er in die unsagbar gütigen Augen seiner über alles geliebten Allerheiligsten Jungfrau Maria, der Muttergottes. Nachher mußte er wieder auf die Erde zurück, das Fieber fiel allmählich; und die Kranken ringsum waren so sehr unglücklich. Ihre kranken Herzen und ihre kranken Seelen kann nur das Wort Gottes heilen. Pater Kolbe verteilt das himmlische Wort Gottes, und die Kranken lauschen und lauschen, als ob sie dies alles nicht glauben könnten. O Gott, so ist das?ᾠ Ja, so und nicht anders. Bruder, lastet eine Sünde auf dir, dann komm zu mir zur Beichte, komm an mein Bett, denn ich kann mich noch nicht bewegen. Aber komm so. daß niemand merkt, daß du beichten willst. Es gibt unglückselige Menschen, die würden es verraten, um sich anzubiedern, so wie ein geschlagener Hund durch Kriecherei die Gunst seines Henn zu erlangen sucht, und dann würden sie dich fertigmachen! Komm also unauffällig zu mir, tu so, als ob du mir zum Beispiel von deinem letzten Brief erzählen willst, den du von zu Hause bekamst, und dabei bereue und bekenne deine Sünden.

„Und vor allem glaube unerschütterlich an den Schutz der Allerheiligsten Unbefleckten Jungfrau Maria“, sprach er jedem voller Liebe zu.

Da kommen schon die Kommandos von der Arbeit zurück, stellen sich blockweise auf dem Appellplatz auf. Alle sehen mitleidig auf die Gefährten von Block zwölf. Vom Morgen an stehen sie schon. Hinter ihren Reihen ein großer Berg von Leichen und Verendenden. Übereinandergeworfen liegen sie da, wie Sandsäcke. Das ist nicht weiter verwunderlich, setzt sich doch Block zwölf aus lauter Invaliden und Genesenden zusammen, die auf halbe Ration gesetzt sind, da sie nicht arbeiten können.

Alle sehen daher voller Mitleid auf die Gefährten von Block zwölf und schauen voller Entsetzen auf die blutige Ernte des Tages, erstarrt bereits in der Qual oder hinter den Reihen zuckend verendend. Den geflohenen Gefährten hat man alsoanscheinend noch immer nicht gefunden. Was wird daraus noch werden? O, Herr Jesus!

Der Abendappell wurde abgehalten, die Blockältesten erstatteten Meldung über den Stand ihrer Blöcke, nun stehen alle schweigend da und warten.

Aus der Gruppe der SS-Unterführer löst sich Kommandant Fritsch. Ihm folgen der Rapportführer Palitsch und einige SS- Männer. Sie alle gehen langsam auf die Leute von Block zwölf zu. Jeder ihrer Schritte ist abgezirkelt, jeder ihrer Schritte drückt Hochmut aus. Sie fühlen die Blicke von Tausenden und aber Tausenden von Menschen auf sich, entsetzte Blicke, und das erfüllt sie mit satanischer Lust. Welch göttliches Erlebnis, sich in diesem Augenblick als allmächtigen Herrn über jenes elende Gewürm zu fühlen! Geld vermag nicht eine solche Wollust zu schenken, nicht einmal eine Frau vermag soviel Wollust zu geben wie das Bewußtsein der Überlegenheit über die Masse der Menschen mit- den entsetzten Herzen, die in den äußersten Abgrund des Elends hinabgestoßen sind. Nur ein einziger Gedanke, ein einziges Wort, und man kann von oben herab auf das zertretene Menschenleben blicken.

Dort naht also Kommandant Fritsch und weidet sein teuflisches Herz an der Angst der Menge. Endlich blieb er vor Block zwölf stehen, schob seine Hand hinter das Koppel und begann durch die Zähne zu zischen:

„Da der entlaufene Häftling nicht gefaßt wurde, bestimme ich zehn Häftlinge aus Block zwölf zum Hungertod durch Bunker. Als Strafe und Warnung für die Zukunft!"

Also doch.

Tausende und aber Tausende von Häftlingen erstarrten auf dem Appellplatz in Schweigen. Nur das beschleunigte Hämmern der vor Angst fast sterbenden Herzen und der jagende Atem.

Doch Kommandant Fritsch durchlebt höchste Wollust. Da hat er die Worte hervorgezischt, und jedes Wort ist wie die Handbewegung eines allmächtigen Königs, eines römischen Imperators. Bei jeder Handbewegung erlischt ein menschliches Leben. Welch eine satanische Lust, welch, unaussprechliche Wollust! Er tritt an die erste. Reihe heran und deutet mit einer kaum merklichen Bewegung der Hand auf den Auserwählten.

„Du gehst!"

Das tut er so leichthin, fast ohne zu wollen. Der ersten Reihe befiehlt er, drei Schritte weiterzurücken, er überfliegt nun die zweite Reihe. Und wieder deutet er auf einen. Dann in der dritten Reihe, in der vierten und den weiteren. Der Rapportführer Palitsch schreibt eilfertig die zum Tode Verurteilten auf. Fritsch geht langsam von Reihe zu Reihe und weidet sich noch immer am Anblick der ohnmächtigen Augen, weidet sich an der menschlichen Angst.

„Alle Ausgewählten vortreten und am Ende des Blocks aufstellen!“ fällt das Kommando.

Aus den Reihen treten völlig gebrochene Menschen, junge und alte, die mit ungläubigen Augen auf ihre Gefährten blicken und heilige Worte flüstern, und ihre Herzen würgt eine erbärmliche, ganz entsetzliche Angst, die preßt ihnen den Atem zusammen, verwandelt ihre Gedanken in einen hochgepeitschten stummen Schrei.

Das Los war auf Pater Kolbes Nachbar gefallen. Das ist ein Junge mit grauen Augen.

„O Jesus!“ stammelt er flüsternd. „Zum Hungertod! .. . Und zu Haus . .. wartet die Mutter auf mich. Ich bin jung ᾠ ich will nicht sterben!“

Pater Kolbe durchleidet die Qual des Verurteilten.

Pater Kolbe durchleidet mit aller Intensität die Qual seines jungen Nachbarn. Er blickt ihm in die Augen, und da hat er sich schon entschieden. Er tritt aus der Reihe und geht auf den Kommandanten Fritsch zu.

„Was ist los?“ schreit der Rapportführer und will ihn zur Umkehr zwingen.

Pater Kolbe tritt an Fritsch heran und sagt ruhig:

„Ich will an Stelle dieses Jungen in den Tod gehen! Bitte, mich an seiner Statt zu bestimmen."

Die Fünferreihen der Massen stellen sich auf die Zehenspitzen, sie betrachten verblüfft diese Szene.

„Das ist Pater Kolbe! Pater Kolbe! - Er meldet sich freiwillig zum Tod für seinen Leidensgenossen!" läuft es flüsternd durch die Reihen.

Der überrumpelte Kommandant schweigt. Er mißt mit ungläubigen Augen Pater Kolbe, den Poverello Gottes, er starrt ihn verwundert an, einen Augenblick erwägt er etwas, dann beherrscht er sich und wirft die kühle Frage hin:

„Beruf?“

„Katholischer Priester."

„Warum willst du für ihn gehen?"

„Seine Mutter braucht ihn, mich braucht niemand."

Der Kommandant kann es noch nicht fassen, und wieder denkt er nach, dpnn er kann diesen seltsamen Menschen nicht begreifen. Irgend etwas bricht in ihm, zerspringt. Doch schon hat er sich wieder in der Hand.

„Einverstanden!" stößt er endlich mit Mühe, doch erleichtert hervor.

Pater Kolbe tritt hinter die letzte Reihe von Block zwölf. Er steht inmitten der Verurteilten, den jungen Menschen schickt er auf seinen alten Platz zurück, blickt zu seinen früheren Leidensgefährten hinüber, lächelt ihnen ruhig zu.

Ein SS-Mann führt sie in den unterirdischen Bunker ab.

Pater Kolbe spricht ein Gebet für die Sterbenden, für seine neuen Lebensgefährten und für sich selber.

Deutsch von Gerda Hagenau

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