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Paulo und die „Gorillas”

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Was ist eine Affäre in Frankreich? Zu ihren Kennzeichen scheint zu gehören, daß sie im Privaten beginnt, aber über die Bühne des Pariser Gesellschaftsbetriebes sich bis in die Politik hinein erstreckt. Ein zweites Kennzeichen einer richtigen Affäre ist, daß sie kuriose Beziehungen zwischen Unterwelt und Halbwelt auf der einen und der Geldaristokratie auf der anderen Seite ans Tageslicht bringt. Drittens wird eine Affäre nie ganz geklärt: ein Großteil ihrer Verzweigungen bleibt in mysteriösem Dunkel, ein paar Kleine werden gehenkt, und über das Ganze wächst allmählich das Gras der Zeit. Und viertens ist die Beschäftigung mit einer Affäre eine nicht unbedenkliche Geschichte. Die Affäre Walter-Lacaze-Guillaume ist natürlich nicht mit den Spitzen der Fünften Republik verknüpft; verwickelt wurden jedoch in sie „Paras” und außerdem Männer, die zu den Stoßtrupps und teils sogar zur Prominenz des Gaullismus gehören. Und außerdem scheint die Affäre zum Prozeß jener Großbourgeoisie — oder sagen wir besser: Geldaristokratie, denn von den alten bürgerlichen Tugenden ist in dieser Schicht nicht mehr so oft die Rede — zu werden, welche so erheblich zur zweiten Machtergreifung de Gaulles beigetragen hat, um ihre Positionen zu retten. Früher setzte sie eher auf die traditionellen Mittelgruppen und schwenkte erst nach deren Ausfall zur „autoritären Demokratie” über.

Die Affäre ist so kompliziert, daß wir nicht darum heruijikommen, zuerst die Hauptdarsteller dieses Schauspiels vorzuführen, bei dem wir vorerst noch schwanken, ob wir es als Familiendrama oder als Tragikomödie mit Geheimdienstkulissen klassieren wollen.

ZWEI DAMEN

Beginnen wir also zunächst mit den beiden Damen. Zu jedem Sensationsroman gehört die Rolle des schönen, aber gefallenen Mädchens. In unserem Stück hat sie die 23jährige Marie- Thėrese Godenėche inne. Sie hat vor dem Untersuchungsrichter geplaudert, damit eine Lawine ins Rollen gebracht und durch die Widerrufung ihrer Aussage dem ganzen Skandal eine neue Wendung gegeben.

Die andere Dame, die eine Hauptrolle spielt, ist alles andere als ein verschüchtertes Häslein von zweifelhaftem Ruf. Frau Domenica Walter, geborene Lacaze und verwitwete Guillaume, ist seit den zwanziger Jahren eine Fürstin der Pariser Gesellschaft. Als sie um 1925 in diese eintrat, war sie nicht nur. schön, wovon ein berühmtes Bildnis von Andrė Derain zeugt; sie war auch bereits vermögend und außerdem intelligent, was man nicht von allen Schönheiten der Pariser Salons behaupten kann. Sie heiratete den Kunstkritiker Paul Guillaume, der zu einem der führenden Pariser Kunsthändler wurde und ihr eine berühmte Sammlung von Gemälden Picassos, Modiglianis, Derains und anderer hochkotierter Meister hinterließ. (Der Louvre steht zur Zeit mit Madame Walter in Unterhandlungen, die ihm die Sammlung nach dem Ableben der Besitzerin sichern soll.) Die immer noch schöne Witwe, deren Vermögen bereits auf Milliarden französischer Franken geschätzt wird, heiratete 1941 einen der reichsten Franzosen, Jean Walter, von dem noch die Rede sein wird. Kurz vor dieser Heirat aber adoptiert sie den von ihr aufgezogenen Knaben Jean-Pierre Guilla u m e. von dem niemand weiß, wessen Kind er ist. Auf jeden Fall war diese Adoption für die bevorstehende Ehe eine -Stärkung der Stellung von Madame Walter bei allfälligen Erbschaftsstreitigkeiten mit dem Sohn und der Tochter Walters aus dessen erster, geschiedener Ehe.

DER BOSS DES „NEOKOLONIALISMUS”

Die männliche Hauptfigur der Affäre ist — auch das paßt gut in die mysteriöse Roman- atmosphäre der Affäre - ein Toter: der zu Pfingsten 1957 von eiribn Automobilisten überfahrene Wirtschaftsmagnat Jean Walter. Er war nicht nur einer der reichsten Franzosen dieses Jahrhunderts, sondern auch einer der mächtigsten. Sein Leben ist ein Bilderbogen inamerikanischem Stil: aus bescheidenen Verhältnissen kommend, wurde er in Marokko zum „König des Bleis und Zinks”, wovon das von ihm geschaffene Industriekombinat der „Minen von Zellidja” zeugt. Walter hatte den Ruf eines „schrulligen Milliardärs”.

EIN MYTHOMANER ARZT UND ZWEI „PARAS”

Von den übrigen männlichen Rollen sind zuerst die beiden Männer zu nennen, die nach Walters Unfalltod dank einem heute in seiner Echtheit bezweifelten Testament von dessen Hand in dem hinterlassenen Wirtschaftsimperium in Zusammenarbeit mit der Witwe die Zügel ergreifen konnten. Der eine davon ist ihr 57jähri- ger Bruder Jean L a c a z e, der heute nicht nur das Kombinat von Zellidja lenkt, sondern auch in unzähligen Aufsichtsräten sitzt. Der andere ist eine sehr pittoreske Gestalt: Doktor L a c o u r, der eine Zeitlang in Paris eine von Damen der Gesellschaft frequentierte Arztpraxis führte, aber sich bei diese? Tätigkeit langweilte. Er soll sich mit Vorliebe in mysteriöse politische Intrigen und Spionagephantastereien gestürzt und so sein Leben mit aufregenden Kulissen ausgestattet haben. Er gilt als der Geliebte von Madame Walter. Im Gegensatz zu Lacaze und Lacour hat jedoch der bereits erwähnte Jean- Pierre Guillaume, genannt „Paulo”, längst die Gunst seiner Adoptivmutter verloren. Er spielt den Taugenichts aus reichem Hause in diesem Stück. Schon daß er notorisch schlechter Schüler war, scheint Madame Walter erbittert, zu haben. Und als sie ihm in der Wut einmal sagte, daß niemand wisse, wer sein Vater und seine Mutter sei (er hielt sie bis dahin für seine richtige Mutter), scheint sein Kompaß endgültig die Orientierung verloren zu haben. Er wurde von der Familie verstoßen, nur Jean Walter selbst scheint eine Schwäche zu dem von ihm selbst so verschiedenen Jungen gehabt und ihm bisweilen geholfen zu haben. Die Eltern von Schulkameraden nahmen ihn auf, er suchte seine Ausbildung abzuschließen, ging dann zur Armee und wurde Fallschirmjägeroffizier. Es gibt ein Zeugnis über ihn von General Massu: „Guter Soldat. Ausgezeichnete Haltung im Kampfe. Aber undiszipliniert. Würde gut in die Fremdenlegion passen.” Der gut aussehende, heute 25jährige „Paulo” hat sich nach seiner Entlassung auf mannigfache Weise durchzuschlagen versucht. So suchte er unter anderem Steward bei einer Flugfirma zu werden. Aber das Odium des „Entgleisten” haftet ihm an; vor allem ist von einer Reihe ungedeckter Šėlieclcs dib fede, die er ausgegeben habe.

„Paulo” ist nicht der einzige „Para” in der Affäre. Da ist vor allem noch der 46jährige Camille R a y o n, ein reichdekorierter Resistanceheld von legendärem Ruf. Auch er hat einen „nom de guerre”, und zwar „Archiduc” (Erzherzog). Rayon ist zur Zeit stellvertretender Bürgermeister in Antibes und soll nach Behauptungen der Linksblätter einer der Hauptverantwortlichen der gaullistischen UNR (Union für die neue Republik) im Süden Frankreichs sein.

DER UNBEQUEME ADOPTIVSOHN

Damit wären diej Hauptdarsteller aufgezählt. Was hat sich nun abgespielt? Wir können das unseren Lesern nicht in allen Einzelheiten erzählen — es würde ein Fortsetzungsroman daraus, gespickt mit Treffen an geheimen Orten, Aufspringen auf fahrende Autos, von Unbekannten überreichten (Zetteln mit Telephonnummern, von der Polizei gestellten Fallen und an bestimmte Telephonapparate „angehängten” Abhörapparaten. Nur in sehr abgekürzter Weise können wir berichten. Der sozusagen „private” Ausgangspunkt der Affäre ist der Haß des Klans um Madame Walter gegen den „verlorenen Sohn” Paulo. Nach Meinung Paulos und seiner Freunde hat dieser Klan zweimal auf sehr massive Weise versucht, den lästigen Erben loszuwerden. Der zweite Fall, der sich um diese Jahreswende abspielte, ist durch „Malte” bekanntgeworden. Diese eröffnete nämlich einem Richter, daß ihr Jean Lacaze eine große Summe versprochen habe, wenn sie Paulo berichtige, ihr Zuhälter zu sein. Das hätte eine Verurteilung Paulos und damit die Aufhebung seiner Adoption erlaubt. Die Polizei stellte daraufhin Lacaze, dessen Advokaten Maltre Jais und der Lacaze- Sekretärin Madame Richard eine Falle, in welche die drei denn auch prompt hineintraten. Statt Paulo kam sein „Onkel” ins Gefängnis, der nun eine Klage wegen Anstiftung zu falschem Zeugnis zu erwarten hat. Allerdings: auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses wurde der einflußreiche Lacaze bereits provisorisch freigelassen.

Eindeutig politisch durchsetzt ist jedoch der erste, bereits Anfang 1958 geführte Schlag gegen Paulo, der nun nach monatelanger Vertuschung durch eine Art von Kettenreaktion bekanntgeworden ist und im Mittelpunkt der Affäre steht. Paulo behauptet nämlich nichts Geringeres, als daß der ihm feindliche Klan ihn damals durch bezahlte Mörder habe umbringen wollen. Er kann sich dafür auf das Zeugnis des Majors Rayon berufen. Dieser behauptet folgendes: Damals sei Armand Magescas, Mitarbeiter des Resistancegenerals und UNR-Abgeordneten Guillain de Benouville, des Herausgebers der gaullistischen Illustrierten „Jours de France”, an ihn herangetreten. Er habe ihm erklärt, daß ein „Lump” umgebracht werden müsse, der seine Familie und die Armee entehre. Durch Magescas sei er mit dem Doktor Lacour bekannt gemacht worden, der ihm Paulo als das Opfer bezeichnet habe. Zum Schein sei er auf das Angebot eingegangen und habe den von ihm und „seinen Leuten” auszuführenden Mord besprochen, der als Aktion des FLN getarnt werden sollte. Er habe das aber nur getan, um den ihm sympathischen Paulo zu warnen und zu ..verstecken. Rayon und Paulo setzten im Februar 195 8 den Advokaten Maitre M o a 11 i (der inzwischen UNR-Abgeordneter geworden ist) von dem Komplott in Kenntnis, und dieser gab die Angelegenheit ans Gericht weiter, ohne daß diese Anzeige jedoch greifbare Folgen gehabt hätte. Die Angeschuldigten — Lacour, Lacaze, Magescas — bestreiten Rayons „Geständnis” aufs heftigste, und es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen, ob der Klan der Madame Walter wirklich versucht hat, deren Adoptivsohn umzubringen.

DER PATRIOTISCHE MORD

Einige politische Schlüsse können jedoch jetzt schon gezogen werden. Die „Aurore”, also ein ausgesprochen rechtsbürgerliches und gar hurrapatriotisches Blatt, hat dem Major Rayon folgende Fragen gestellt: „Warum hat man sich an Sie persönlich gewandt? Warum hat man Sie aufgefordert, einen Totschläger zu stellen? Schließlich verlangt man doch nicht von irgend jemandem, irgend jemand anderen umzubringen.” Darauf gab Rayon die erstaunliche Antwort: „ Veil man versucht hatte, uns glauben zu machen, daß Jean-Pierre Guillaume ein Spion sei und gegen das Vaterland konspiriere.” Es hat in der französischen Oeffentlichkeit nicht geringe Verblüffung hervorgerufen, daß ein Mann, welcher der derzeit die französische Politik be stimmenden Partei, der UNR, nicht nur angehört, sondern in ihr bedeutende Funktionen innehat, demnach der Meinung ist, er könne auf eigene Initiative Leute umbringen, die er für national unzuverlässig hält. Das ist die gleiche Mentalität wie bei jenen „Ultras”, die einen — notabene bloß als „lau”, nicht als Verräter geltenden — französischen General mit Hilfe einer Bazooka ins Jenseits befördern wollten.

Aufschlußreich ist auch etwas anderes. Rayon gab einen konkreten Grund dafür an, weshalb ihm der Mordauftrag suspekt geworden sei: als er festgestellt habe, daß es sich um einen Mann handle, der wie er selbst Fallschirmjägeroffizier sei, habe die Sache sofort anders ausgesehen. Von hier ist es nicht weit zu der politischen Schlußfolgerung, welche die „Humanitė” zieht. Sie stellt fest, daß die Affäre zwischen zwei Fraktionen der Rechten spiele: zwischen dem „liberalen” Neokolonialismus der sogenannten „intelligenten Rechten” (der Großbourgeoisie) und dem sturen Kolonialismus alten Stils, der vom kleinbürgerlichen Nationalismus getragen und von den „Paras” repräsentiert werde. „Der Irrtum der Anstifter eines Verbrechens, das nicht stattfand, bestand darin, die Totschläger im feindlichen Lager zu suchen. Man hatte sich in der Türe geirrt. Der mysteriöse Doktor Lacour holte sich die Leute in den Geheimdiensten des .Gorilla’, in den Banden des 13. Mai. Das Pech wollte es, daß sein Todeskandidat zu ihrem Lager gehörte.”

Es wird sich erst zu erweisen haben, ob politisch so weitgehende Schlüsse zulässig sind. Daß es sich auf jeden Fall bei der „Affäre Walter-Lacaze-Guillaume” um eine Affäre von bedeutenden Dimensionen handelt, zeigt schon die Wahl der Anwälte, welche sich der einzelnen Protagonisten dieses halb kriminellen, halb politischen Schauerstückes annehmen. Jean Lacaze wird von Mai’tre Izard verteidigt, der schon der Advokat von Kravchenko und — König Mohammed V. war. Paulo weiß den derzeit wohl berühmtesten Verteidiger von Paris, Maurice Garęon, an seiner Seite. Und Maitre Jais hat gar einen Altministerpräsidenten als Rechtsbeistand gefunden: nämlich Edgar Faure, der durch seine Wahlniederlage wieder für seinen alten Advokatenberuf freigeworden ist.

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