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Digital In Arbeit

Pendler bis auf Widerruf

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EIN DRITTEL FEHLT. Pendler ist, wer mehr als zweieinhalb Stunden tägliche Arbeitsfahrt opfert. Täglich sind es 27.000 Menschen, die aus allen Teilen des Burgenlandes mit Bahn, Autobus und Privatfahrzeugen ihre entfernten Arbeitsplätze aufsuchen.

Von der Natur stiefmütterlich behandelte Gebiete gibt es viele. Das Burgenland ist nicht arm, dennoch hat es in Österreich den größten Überschuß an Arbeitskräften.

Der Boden des freien Bauern ist durch fortgesetzte Erbteilung längst dn „Hosenriemenäcker“ zerteilt —die Automatik der kleinlichen Erbteilung hat ihre Grenzen gefunden. Diese schmalen Gründe, die „Hosenriemenäcker“, haben den Familienbetrieb weithin ausgelöscht. Außerdem ist Österreichs Landwirtschaft mechanisiert. Traktor und Mähdrescher haben Arbeitskräfte aufgestaut.

Die Konjunktur hat einstweilen die überschüssige Arbeitskraft aufgesogen. Arbeiter und Bauernburschen gehen außer Landes, 27.000 Menschen pendeln. In Wirklichkeit sind es weit mehr, zählt man jene hinzu, die das Pendlerlimit von fünfviertel Stunden Anreise nicht erreichen.

Wien bietet 16.000 Burgenländern Arbeit als Maurer, Zimmerleute, Tischler und Hilfsarbeiter. Die Burgenländer bauen am Image des modernen Wien.

Beim Heimabend der Katholischen Arbeiterjugend des Burgenlandes in Wien begegnet man mehr Pendlerschicksale: Ein Tischler aus Gütten-bach, ein Maler und Anstreicher aus Pinkaifeld, ein Zimmermann aus Zagersdorf, ein Maurer aus Forch-tenau, ein Buchdrucker aus Edelstal, ein Straßenbahner aus Güssing, ein Heeresangestellter aus Schattendorf, dazu kommen zwei Krankenschwestern aus Güttenbach, eine Schneiderin, drei Küchengehilfinnen...

Fast alle sind sie Wochenpendler, denn mit normaler Arbeitszeit erreichen die Männer das Einkommen, das sie anstreben, nicht. Das heißt, sie arbeiten bis in die Abende, denn sie sind fleißig und wollen zum Wochenende bis zu 1000 Schilling und mehr heimbringen. Die Zeit reicht also nicht mehr zur täglichen Fahrt.

Nicht wenige von ihnen sind in der Lage, die schwierige Frage der Unterkunft menschlich zu meistern. Man schläft zusammengepfercht in feuchten Kellern. Schön und gut wohnen ist nicht drin — ausgenommen für die wenigen, welche durch die Arbeitgeber sozial betreut werden — denn einen ganzen Wochenlohn für Wohnungsmiete hinzulegen, ist für sie nicht der Sinn des Pendeins.

Für viele ist das Wirtshaus das einzig mögliche „Zuhause“.

WAS WOLLEN SIE? Da ist Polier Peter Grill aus Forchtenau. Er hat daheim ein schönes Haus mit Garage und gepflegtem Garten eines wohl-situierten Bürgers. Arbeit gäbe es zwar auch im Mattersburger Bezirk.

Was wollen sie also? Sie wollen ihren Teil am Wunder der Konjunktur, sie wollen höhere Löhne, die sie in der Heimat nicht kassieren können. Sie würden ein Drittel ihres Einkommens einbüßen, wenn sie zu Hause arbeiten.

Was soll geschehen? Man ist dem

Pendler in den Arm gefallen. Land und Gemeinden haben vielfach erfolglos geworben, um Industrie ins Land zu ziehen. Es kam eine — aber die falsche. Zunächst Textilindustrie. Sie zieht Frauen an, schafft plötzlich neue Probleme, die niemand vorausgeahnt hat.

Gesucht wird —Zukunftsindustrie. Abgesehen von der kostspieligen Infrastruktur, die aus dem Boden zu stampfen Gemeinden und Land über Gebühr belasten, hat man mit lok-kenden Grundpreisen, um Schenkungssteuer zu sparen, die richtigen Unternehmer angesiedelt: Metallurgische, Elektro-, Holzverarbeitungsund Konservenindustrie.

Es ist genau das Drittel am Arbeitslohn, das die Pendler außer Landes lockt. Das wußte man vorher nicht

Es gibt wirtschaftliche Zusammenbrüche, und die Gemeinden stehen bei Bodenbanken tief in der Kreide Arbeiter- und Bauernburschen pendeln weiter — wegen des Drittels. Geld ist alles. Es ist das neue Heim, es ist der Wagen, es ist der Traktor, der Mähdrescher. Es ist das bessere Leben.

Der größte Teil des Goldregens bleibt am Ort des Arbeitsplatzes. Vieles vom Lohn wird in Grundanschaffungen angelegt, und die sind in Wien, Wiener Neustadt und anderen Städten billiger. Denn dort ist Überangebot, das im Dorf fehlt. Indessen wachsen in den Wiener Vorstädten Warenhaus neben Warenhaus aus dem Boden, sie ersetzen dem Pendler oft Fahrtkosten, um ihm die Billigkeit der Großstadt zu demonstrieren. Wenig fließt davon in das Dorf, immerhin noch so viel, daß der Burgenländer sagen kann: Wo gespendet wird, ist Geld!

14 PROZENT DER FRAUEN des Burgenlandes erheben Anspruch, Pendler zu sein. Der wirkliche Schnitt ist größer, berücksichtigt man das „Pendlerlimit“ nicht.

Die Pendlerinnen sind die Sorgenkinder der jungen Bauern. Die Mädchen sind höchstens 36 Stunden in der Woche daheim, und wie ein junger Bauer klagt — sie heiraten lieber in der Stadt einen Beamten, einen Handwerker oder einen Arbeiter.

Jurica Karall hat einen respektablen Bauernhof. Zehn Hektar Grund, zehn Rinder, Schweine und Hühner. Jurica wäre eine „lohnende Partie“. Aber die Mädchen fehlen. Sie sind zwar da — aber sie sind doch weg. Am Samstag abend kommen sie aus Wien, aus Wiener Neustadt, aus Eisenstadt, am Sonntag gehen sie zur Kirche und spätestens am Sonntagabend fahren sie wieder zurück. Nach Wien, nach Wiener Neustadt, Eisenstadt.

Sie arbeiten dort, in Fabriken, in Büros, in Betrieben aller Art. Sie sind nur wenig zu Hause...

DIESE „VÖLKERWANDERUNG“ bereitet nicht nur den jungen Bauernsöhnen Sorgen, auch die Behörden stehen vor einem Problem. In Zahlen ausgedrückt, sieht es im Burgenland so aus: Von rund 270.000 Bewohnern sind 132.000 berufstätig, davon 79.000 Männer und 53.000 Frauen.

Für das Burgenland und seine Pendler gibt es somit noch lange kein „Ende“. Es steht erst am Anfang von neuen Entwicklungen, von neuen Problemen, mit dem „Reiz der Ferne“ und mit flüchtenden Land-mädchen und Baueroburschen.

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