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Perikles oder Themistokles ?

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ER LIESS MICH IN SEINEM ROLLS ROYCE aus dem Hotel abholen. Das Hotel, in dem ich wohnte, stand in einem jener Viertel von Tokio, in denen Fremde auf eigene Gefahr wohnen. Im Wagen saß ein Chauffeur in europäischer Livree und ein Diener im Kimono. Der Diener sah wie ein Leibwächter aus. In der armseligen Halle des Tokioter Vorstadthotels begegnete er mir wie einem Samurai. Er kniete nieder, verbeugte sich tief, so daß seine Stirne fast den Boden berührte, auf dem die Bastmatten zerschlissen lagen.

Im Fond des Rolls Royce fuhr ich aus dem Tokioter Arbeiterviertel zum Landsitz meines Gastgebers Sigheru Yoshida; eine Fahrt über 50 Kilometer — eine Fahrt zwischen den vielen Welten, die heute Japan sind. In den engen Gassen der Vorstadt, zwischen den Häusern, die wie desolate Schrebergartenhütten aussehen, hatte der große schwarze Wagen kaum Platz. Er mußte langsam fahren, damit die Menschen, die ihm entgegenkamen, rechtzeitig in den Häusern oder in Seitengassen verschwinden konnten. Dann fuhren wir über Boulevards, die durch Los Angeles gezogen sein könnten. Zwischen der Stadt und dem, was in Japan Land heißt und nichts anderes ist als Reisfelder zwischen Fabriken, lag noch das Viertel der Fetzensammler. Es ist von übelriechenden Kanälen durchzogen und liegt auf dem Grund einer Landsenke. Die Dünste aus der Stadt und der Nebel von den Reisfeldern und der Rauch aus den Fabrikschloten haben hier ein ewiges Rendezvous. Nackte Kinder und ausgemergelte Menschen stehen am Straßenrand und sehen dem Wagen des Aristokraten mit einer Mischung aus Devotion und Haß nach.

Wir sind auf dem Weg von Tokio zum feudalen

Landsitz eines japanischen Aristokraten, durch Slums, Boulevards, moderne Geschäftsstraßen und einem mittelalterlichen Ausgestoßenen-viertel. Der Park vor dem Herrensitz wird sich bald vor uns ausbreiten. — Ein japanisches Landschaftsaquarell, das weit über seinen Rahmen hinausgewachsen ist und nun nur vom Horizont und von Nadelwäldern begrenzt wird. Über die Platten, die zwischen Zwergbäumen als Weg in den Rasen eingesetzt sind, kommt mein Gastgeber mir entgegen. Wie eine Toga wirkt der Kimono. Sein Kopf könnte einem griechischen Philosophen gehören; die Höflichkeit, mit der er sich vor mir verbeugt — er hat den Wagenschlag selbst aufgemacht — ist Japan sehr alter Schule.

Mein Gastgeber ist Sigheru Yoshida, 83 Jahre alt, davon zumindest 50 Jahre im Zentrum der japanischen Diplomatie und Politik. Jahre des nationalen Höhenflugs, Jahre der eisernen Militärherrschaft, Jahre des Krieges, des Zusammenbruchs, der fremden Besatzung. Und Jahre einer langsamen Wiedergeburt. In den schwersten Jahren, nach 1946, war er Ministerpräsident des Landes gewesen. 1951 unterzeichnete er für lapan den Vertrag von San Franzisko, der die neue Souveränität Japans einleitete.

Der Landsitz kommt nicht von der Politik, sondern von seinen Vorfahren. Land und Haus standen schon, als die Familie zu den Säulen des Shogunats gehörte. Die Ähnlichkeit des japanischen Staatsmannes mit einem griechischen Philosophen ist ihm selbst bewußt. „Sie sind sich nur noch nicht darüber einig, ob ich ein Perikles oder ein Themistokles bin“, sagt er später im Gespräch. Aber mir ist noch schwindlig von der Fahrt im Rolls Royce, die ich hinter mir habe, durch die Zeiten Japans.

IM HAUS DES EHEMALIGEN MINISTERPRÄSIDENTEN versinken wir tief in englischen Klubsesseln. Aber das Dienstmädchen im Kimono, das uns auf einem Tablett erst schottischen Whisky, dann schweren grünen Tee bringt, kniet vor dem Hausherrn nieder wie eine LeiVjeigene. — Wiederum diese beängstigende Mischung der Zeiten und der Stile. Aber hier, in diesem Raum, halb englischer Drawingroom, halb japanische Halle, vereinigen sich alle Widersprüche in der Harmonie des Gastgebers,

„In welcher .Sprache sollen wir uns unterhalten“, fragt Sigheru Yoshida. Und er stellt Chinesisch, Japanisch, Latein, Griechisch, Französisch, Englisch und Deutsch zur Verfügung. ..Sehen Sie, wir haben in den letzten 100 Jahren einen weiten Weg hinter uns gebracht. Und in den letzten zehn Jahren liegt der größte Teil der Wegstrecke. Im Laufen verliert man alles. Die Haltung, das Maß, die Übersicht. Dafür gewinnt man an Boden. Aber wenn man am Ziel angekommen ist, fragt man sich, ob der Bodengewinn die Verluste wert war. Und dann fragt es sich überhaupt, ob einer, der so im Laufen ist wie wir es seit zwanzig Jahren sind, das Ziel im Auge behalten und stehenbleiben kann, wenn er es will. Ich wende mich nicht gegen das Laufen, da ich ohnehin nichts dagegen ausrichten kann. Aber ich bin dafür, daß einige sich an den Wegrand setzen und eine Zeitlang ausruhen, um Strecke, Läufer und Ziel wieder ins Auge fassen zu können.“ — So beschreibt Sigheru Yoshida seine Zeitphilosophie und die Rolle des Politikers, „der auch Führer sein muß. Da gibt es keine Demokratie und unsere Politiker sind keine Führer mehr“.

Yoshida, der „Churchill von Japan“, bietet mir Zigarren an. Das ist eine besondere Ehre, denn es sind echte „Churchills“, von Churchill selbst geschenkt und gesendet. Ich bitte meinen Gastgeber, über aktuelle Politik zu sprechen. Aber was er sagt, klingt immer mehr historischphilosophisch. Doch am Ende weiß ich, daß es hoch aktuell war.

Er hatte 1946 die Führung der Regierung in seine Hände genommen. „Es stand damals nichts. Nur Ziegelsteine lagen in ganz Tokio herum. Aber auch von denen gab es zuwenig brauchbare, um nur eine Straße aufzubauen. Da planten wir, und Tokio sollte ein großer Park werden. Als dann die Ziegelsteine kamen, vergaßen wir die Pläne vor der Realität. Und Tokio ist kein Park geworden, sondern chaotischer, als es war. So ähnlich ging es uns mit der Politik und mit der*E>emrkratie^Über dem Wunder der Rehabilitierung-habe wi? die Pläne aus den Trümmetjahren vergessen und auch den Blick für unsere Umwelt.“

WIR SIND VOM WHISKY zum schweren grünen Tee übergegangen. Er dreht das Gefäß dreimal in seiner Hand, bevor er zum Trinken ansetzt. Wie bei einer Teezeremonie. Die Tochter Kazuke hat den Raum verlassen. „Die Niederlage war für uns ein schwerer Schock, der ein Trauma auslöste. Wir haben Schock und Trauma noch lange nicht überwunden gehabt, als eine glänzende wirtschaftliche Rehabilitierung einsetzte. Im Westen spricht man vom niedrigen Lebensstandard in Japan. Aber nie ist es den Menschen in Japan besser gegangen als heute.

Über dem Boden aus steigender Prosperität zieht sich aber ein politischer und geistiger Horizont des unbegründeten Optimismus, der tiefen Unsicherheit und der unklaren Furcht. Der Optimismus ist ein komischer Bastard aus unserer militärischen Vergangenheit und der wirtschaftlichen Prosperität von heute. Unsere Inseln sind uneinnehmbar, dachten wir jahrhundertelang, Unsere Heere sind unbesiegbar, glaubten wir, bis 1945. Dann kam das Debakel und die herrliche Zeit des schweren Lebens. Aber als die Prosperität einsetzte, übertrug sich das Denken aus der militärischen Vergangenheit in die wirtschaftsbetonte Gegenwart. Unsere Maschinen, unsere Technik, unser Leben in dieser Zeit sei unbesiegbar.

Natürlich weiß aber der letzte Fetzensammler so gut wie der Generaldirektor von Toshiba, daß das Geschehen von 1945 endgültig ist, die ganze Prosperität hat keinen japanischen Boden, Furcht und Unentschlossenheit sind ständige Untermieter in der Wohnung unseres Wirtschaftswunders. Aus dieser Atmosphäre kann bestenfalls eine Wirtschaftsexpansion kommen, aber keine Politik und kein Politiker.

Das wird so sein, bis wiederum fremde Mächte ihren Fuß auf unsere Inseln setzen werden. Ich meine das nicht nur militärisch, sondern fast mehr noch politisch und kulturell. Dieser Schock wird dann das Trauma lösen und aus der Not wird eine neue japanische Führung kommen. Sie wird in manchem der alten, traditionellen sehr ähnlich sein. Denn sie wird japanisch sein.

Ob sie demokratisch sein wird? Wahrscheinlich. Aber können Sie heute sagen, wie Ihre Demokratie in fünf, zehn oder zwanzig Jahren aussehen wird, wenn Notstand ausbricht?“

MAN MUSS IN JAPAN MIT DEN ALTEN MÄNNERN SPRECHEN. Auf das Alter drängt das ganze Leben hin, und es sieht nur so aus im Tumult der Ginza, als ob sich viel daran geändert hätte. Zur Rückfahrt schlug ich den Rolls Royce aus. Ich nahm den Autobus, der überfüllt war, und stieg im Viertel der Fetzensammler aus. Dort trinkt man den Reisschnaps Saki neben dem Kanal, der am Abend am übelsten riecht. Und es war Abend, als ich dort ankam. Die Japaner sind gesprächig. Auch gegenüber Fremden. Sie scheinen nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß der Fremde nicht versteht, was sie ihm erzählen. Ich verstand es, denn im Autobus hatte die japanische Gesprächigkeit fhir einen Studenten zugeführt, der mich durch das Viertel der Fetzensammler begleitete und jetzt übersetzte. Ein Alter sprach zu mir, der noch um dreihundert Jahre älter aussah als der aristokratische Gastgeber, von dem ich gerade kam. Die Japaner sehen meistens sehr lange Zeit jung aus. Wenn sich das Alter an ihnen abzuzeichnen beginnt, scheinen über Nacht Jahrzehnte über ihre Gesichter hinweggezogen zu sein. Das ist natürlich viel drastischer bei Fetzensammlern als bei Aristokraten. - „Sie hfben uns den Baron eingesperrt“, erzählte der alte Fetzensammler. Und der Student erklärt, der ..Baron“ sei hier der Unternehmer, der die Fetzensammler in die Stadt schickt und ihnen am Abend die gesammelten Fetzen abknöpft. Die „Barone“ haben ziemlich große Häuser aus Stein in den Bretteldörfern der Fetzensammler. Autos, und manchmal Landsitze.

„Die Veränderungen nach der Niederlage sind bis in den Kaiserpalast gedrungen“, berichtet der Student. — „Aber hier ist alles unverändert geblieben. Die .Barone' bestimmen über das Leben der Fetzensammler. Heirat, Wohnsitz, alles. Und da greift die Behörde der Demokratie manchmal ein und verhaftet einen der .Barone'.“

„Sie haben unseren ,Baron' eingesperrt“, beklagt sich unser Nachbar in der Saki-Schenke. — „Jetzt kommt alles in Unordnung hier. Der Baron hat mir die Fetzen abgenommen und Reis gegeben, wenn ich am Abend kam. Jetzt kann ich mit den Fetzen nichts anfangen, und ich finde keinen Reis, wenn ich nach Hause komme. Wir müssen uns einen neuen Baron suchen.“

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