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Pestalozzi und die pädagogischen Probleme der Gegenwart

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Das lange Leben Johann Heinrich Pestalozzis, dessen 200. Geburtstag die pädagogische Welt in diesen Wochen begeht, fällt in die letzte große Krisenzeit der europäischen Menschheit vor der gegenwärtigen und darum ergibt es sich, d?ß wir Pestalozzi nicht nur ob seiner menschlichen Würde, seines reinen Wollens und seiner Wirkungen auf die Folgezeit heute feiern, sondern auch darum, weil sich überraschend viele Parallelen zwischen den Lebens- und Erziehungsfragen seiner kriegsdurchtobten Zeit und der unseren zeigen. Ähnlich wie damals ist auch heute wieder eine starke pädagogische Aktivität erwacht, um durch Erziehung die schweren moralischen Schäden zu heilen und eine gefährdete Jugend zu retten.

Kindheit und Jugend des großen Sohnes der Schweiz fallen in eine Zeit, da das Leben Europas durch die scheinbar so fest gefügte Ordnung des fürstlichen Absolutismus bestimmt wird. Aber es kündigt sich bereits das Wehen einer neuen Geistesströmung an, die später zum Sturm werden sollte: die „Aufklärung“ ist es, die zur Kritik gegenüber dem Bestehenden aufruft und die voll Stolz behauptet, d'.e Heilmittel für die krank gewordene Gesellschaftsordnung zu besitzen. Rief doch damals auch ein Schweizer sein Reformprogramm in die Welt hinaus — J. J. Rousseau.

In der Atmosphäre dieser optimistischen Aufklärung wuchs der junge Züricher Arztenssohn Pestalozzi als ein schwärmerisch-gefühlvoller Jüngling heran und nahm aus ihrem Rationalismus und Deismus, aus ihrem Appell an Rechte und Freiheit des Individuums, aus ihrer Uberschätzung des Intellektes, aber auch aus dem hohen Interesse für Erziehungs- und Bildungsfragen die Elemente seines Weltbildes und seiner Sinndeutung des Lebens. Freilich war in ihm bei alledem noch mehr, als er es selbst wußte, jene liebevolle Erziehung wirksam, die er durch seine Mutter erhalten hatte und die ihn zum „träumerischen Streben nach einem größeren segensreichen Wirkungskreise für das Volk“ führte. Nach verschiedenen Studien unternahm der junge Pestalozzi seine bekannten Versuche zur Errichtung einer auf produktiver Arbeit beruhenden Erziehungsanstalt auf dem N e u h o f e. An den harten Bedingungen der Wirklichkeit scheiterte dieser wie mancher spätere Versuch und so wird er zum Schriftsteller, der im Reiche der Ideen das errichtet, was ihm konkret zunächst nicht gelungen war, ein Werk der Volkserziehung und Menschenrettung. Es sind seine Volkserzählungen, so der Dorfroman „Lienhard und Gertrud“, die den Namen des Mannes und den Eindruck seines hohen Wollens in die Welt hinaustrugen, die bald erkannte, daß hier die pädagogische Idee mit genialer Intuition erfaßt war. Es sollten gerade die Schrecknisse der Zeit selbst sein, die unseren Pädagogen schließlich zur praktischen Erziehertätigkeit größeren Umfanges führten, nämlich durch die Errichtung des Waisenhauses in Stanz. Es ist ein Kriegserlebnis, das wir nachfühlen können, wie diese „Gründung aus dem Nichts“ nach den ersten Erfolgen ein Opfer der militärischen Besetzung wird, aber eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit führt den nimmermüden Erzieher dann doch wieder zur praktischen Tätigkeit in den Dorfschulen von Burghof und München-Bachsee, wo Pestalozzi zum Pionier des Elementarunterrichtes und der Methoden des Volksschulunterrichtes wird.

Aber auch jetzt, wie später m der weltbekannten Erziehungsanstalt in Herten bleiben ihm schwere Rückschläge und Enttäuschungen nicht erspart, die zum Teil in den Mängeln seiner Persönlichkeit, im Fehlen des Organisationstalentes und der Klarheit begründet waren, aber groß und bewunderungswürdig bleibt bis zuletzt seine Treue zur Idee, sein Glaube an die Menschenbildung.

Reich war der Ertrag dieses Lebens, das am 17. Februar 1827 endete, sein Grundzug war eine unermeßliche pädagogische Liebe und Güte. Längst war er hinausgewachsen über die Enge der Aufklärungspädagogik. Und nicht mehr bloße rationale Vervollkommnung war sein Ziel geworden, sondern die E m p o r h e b u n g aus der Not des Daseins und die Freilegung des inneren Menschen. Daß er nicht noch einen Schritt weiterging und nicht sah, wie auch in der Erziehung letzten Endes die Gnade die Natur vollendet, das mag der Katholik angesichts dessen bedauern, was an Pestalozzis Leben und Werk zutiefst christlich ist. Es war mit ihm in mancher Hinsicht so, wie es Muckermann einmal von Goethe gesagt hat: Wie weit ein Mensch kommen mag, dem nicht das volle Licht des Glaubens gegeben war, der aber mit der anima naturaliter christiana gegen die dämonischen Mächte der Tiefe gerungen hat und nach' der Ordnung ab der Form der Gottheit strebte, das hat er uns gezeigt!

Erziehung als Hilfe zur Selbstbefreiung des Gott-Ebenbildes im Menschen, das erschien ihm als das Ergebnis seiner Nachforschungen, denen er auf verschiedenen Wegen, aber immer mit den Mitteln nachstrebte, die dem Gang der Natur an treuesten entsprachen.

Es gibt dreideutlichefkennbare Perioden, im pädagogischen Schaffen Pestalozzis. In der ersten, die etwa bis 1800 reicht, beschäftigt er sich vorwiegend mit der Besserung der häuslichen un d sozialen Erziehungsbedingungen, in den folgenden Jahren widmet er sich fast ausschließlich den Methoden des Volksschulunterrichtes, zuletzt aber kämpft er um die gleichmäßige physische, geistige und sittliche Erziehung im Rahmen einer Sp'ezia 1-r e f o r m. Das stets festgehaltene Ziel ist ihm aber immer die Hebung der sozialen Not der unterenVolks-schichten durch allgemeine Menschenbildung.

Was aus diesem Streben Pestalozzis zu unserer Zeit heraufführt, ist vor allem seine Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung der Erziehung im früheren Kindesalter, ist seine unvergleichliche Hochschätzung der guten Familienerziehung. “Weit hinausgreifend über den platten Moralismus seiner Zeitgenossen hat er erkannt, daß in der Familienerziehung keimhaft alle Beziehungen des Individuums zu Gott und der Welt angelegt sind und ihrer Entfaltung harren. Diese elementare Menschenbildung ruht ' aber nach Pestalozzi auf einem religiösen Grund, und vom Erlebnis des menschlichen Vaters erhebt sich der Mensch zu der Idee eines ewigen Vaters aller Dinge. Aus der Tiefe eines echt religiösen Gefühles sagt Pestalozzi: „Der Glaube an Gott ist Ruhe des Lebens, Quelle der inneren Ordnung und der unverwirrten Anwendung unserer Kräfte, ihres Wachstums und ihrer Bildung zur Weisheit“. — Man hat diesen tiefreligiösen Zug des Pestalozzibildes oft allzu geflissentlich übersehen, aber er ist ein wesentlicher und er ist eine Mahnung an unsere Zeit, so wie seine Bemühung um die Familienerziehung unveraltet auch heute wieder eine der Gründl ragen alles pädagogischen Strebens umschreibt! Es hat doch gerade die katholische Kirche mit der großen Erziehungsenzyklika „Divini Ulius magistri“ mit größter Eindringlichkeit über „den beklagenswerten Verfall der Familienerziehung in unseren Tagen“ gesprochen und die Menschheit beschwörend darauf hingewiesen, daß mit der Familie die Grundlage aller Gesittung und Kultur steht und fällt — so wie dies auch Pestalozzis heiligste Uberzeugung war!

Was auf die Zeitgenossen und die folgenden Jahrzehnte nach des Pädagogen Tode den größten Einfluß hatte- war sein Bemühen um die Verbesserung der Unterrichtsmethoden, jener Teil seiner Wirksamkeit, der mit der Klärung und Auswertung des Anschauungsprinzips dauernd verbunden ist. Die Fruchtbarkeit seiner Anregungen hat einem Jahrhundert der Schulmethodik die Wege gewiesen und man sah seine Bedeutung zunächst vor allem in diesem Lichte, aber Pestalozzi hatte auch hier den weiteren Blick und dachte nicht in erster Linie an den Unterricht, sondern daran, ,daß die Kinder durch die ersten Gefühie ihres Beisammenseins und bei der ersten Entwicklung ihrer Kräfte zu Geschwistern gemacht würden“, es ging ihm also um die sozialpädagogische Funktion der Schule. In der Überwindung von Lebensfremdheit und verfrühter Abstraktion liegt* das unvergängliche Verdienst des Volksschulpädagogen Pestalozzi. Aber es gibt einen noch größeren Pestalozzi und das ist jener des letzten Lebensabschnittes, über dem die herrlichen Worte stehen: „Der Mensch ist nicht um seiner selbst willen in der Welt, sondern daß er sich in der Vollendung seiner Brüder vollende“. Von diesem, dem Menschheitserzieher, führen die breitesten Wege zu unserer Zeit herauf, mit ihm wissen wir, „daß es für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil keine Rettung gibt, als durch Erziehung, durch Bildung zur Menschlichkeit“. Ähnlich wie auch wir es wieder zu tun haben, rang der greise Pestalozzi um die letzten pädagogischen Probleme: das Bild des Menschen, seine Stellung zu Gott, zur Gemeinschaft, zum Staate. Es ist für all unser erzieherisches Wollen und Handeln entscheidungsvoll, daß wir wie Pestalozzi, doch mit den Mitteln unserer Zeit, daran gehen, das völlig verzerrte Bild des Menschen wieder so herzustellen, wie es dem gottgewollten Entwicklungsgange der Natur entspricht. Diesem Wesen des Menschen aber wird eine bloß natürliche Erziehung nicht gerecht — erst eine religiöse kann das Werk der Menschenbildung vollenden. So erkennen wir es wieder mit Pestalozzi, und weite Kreise einer Welt, die wahrlich sicher ist, nicht religiös voreingenommen zu sein, stimmen heute mit ihm und uns darin überein, daß „die Endzwecke von Gesetzgebung, Erziehung und Religion darin liegen, unser Geschlecht durch den Dienst des Allerhöchsten zu vervollkommnen“.

Pestalozzis weiter Blick, sein Streben nach einer Menschheitserziehung sind fast ein Jahrhundert lang doch mehr rhetorisch verstanden worden, sie gelangen erst jetzt zu voller Bedeutung, da nur Verständigung auf der Basis einer zutiefst christlichen Humanität die Welt vor der Selbstvernichtung retten kann. Menschlichkeitserziehung grbt aber auch die rechte Abgrenzung für Rechte und Anteil des Staates und der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum. Wenn Pestalozzi einmal ausruft: „Laßt uns Menschen Werden, damit wir wieder Bürger wieder Staaten werden können“, so steht dahinter eine Uberzeugung, die sich uns aus leidvollster Erfahrung bestätigt hat, es müsse das Menschliche übergreifend die Staaten verbinden, sonst führe das Aufgehen des einzelnen dazu, daß „eine kulturlole Zivilisation die Menschen ohne Rücksicht auf Selbständigkeit. Freiheit, Recht und Kunst als Masse durch Gewalt vereinigt. . .“ Aus diesen Worten des Pädagogen spricht eine Ablehnung dpr Totalität des Staates als Erziehungsmacht, für die gerade seine Persönlichkeit der unverdächtigste Zeuge ist„ war er doch in Wahrheit einer der größten und treuesten Söhne seiner Schweizer Heimat, und es ist unverkennbar, wie es nicht zuletzt sein Wirken ist. das durch die Hebung der gesamten Volkserziehung aus der armen unruhigen Schweiz der Tage Pestalozzis jenes Land des Wohlstandes, jenen Hort der Freiheit und des Friedens, der Humanität gemacht hat, als das uns heute das bewunderte Nachbarland erscheint!

Man hat oft dem Geheimnis, der Wirkung dieses seltsamen Mannes nachgeforscht, da doch sein System der Geschlossenheit und vielfach der Klarheit entbehrt, da doch so vielerseiner Gründungen gescheitert sind. Aber Pestalozzis Worte besitzen eben eine eigene Transparenz, es wirkt der Geist der Liebe durch sie hindurch, man fühlt, daß er mit der ganzen Persönlichkeit bis zur Selbstaufopferung hinter seinem Werke stand. Als ein Mensch der dienenden Liebe suchte er auf seinen Wegen zu Gott und in diesem Sinne kann der Sohn des befreundeten Schweizervolkes auch dem Österreich von heute noch ein Beispiel sein. So sehr vieles von seinen Ansichten zeitbedingt ist und heute kritisch betrachtet werden muß, so birgt das Werk dieses Menschheitserziehers doch so ungeheuer lebendige pädagogische Werte, die die Zeiten überdauern, weil sie im innersten Wesen der pädagogischen Haltung überhaupt begründet sind. So neigen wir uns vor ihm und sagen mit den Worten seiner Grabschrift: „Pestalozzi — Mensch, Christ und Bürger; alles für andere, für sich nichts — Segen seinem Namen!“

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