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Peter Anich der STERNSUCHER

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rfem Beginn: Schauplatz: Das Dörfchen Ohtrperfuß, drei Stunden westwärts von Innsbruck. Im Anichhofe warten Väter, Mutter, Kathi, die ältere Tochter und die kleine Leni abends vergeblich auf die Heimkunft des neunjährigen Peter; umsonst sucht ihn der zornige Vater, begleitet von dem Schwesterchen des Buben, draußen im Garten, findet ihn auch nicht auf dem hohen Birnbaum, in dessen Krone der närrische Sterngucker oft seine Himmelswarte zu nächtlicher Zeit aufgeschlagen hat. Verdruß und väterliche Sorge mischen sich beim Vater Anich, der, heimgekehrt,.-.eine schlaflose Nacht verbringt, denn der Bub, dessen seltsames Gehaben ihn oft aufgebracht, ist seinem väterlichen Herzen nie so nahe gewesen, wie in dieser Nacht, da er um ihn bangt, ob . er nicht irgendwo in den Felsen bei seiner Sternguckerei abgestürzt sei. — Indessen ist der Peter diesmal des Nachts heimlich auf dem Kirchturm gesessen, um den Wundern des Sternenhimmels und den vielen Fragen, die sich da oben erheben, nachzusinnen. Jetzt schleicht er An der Morgenfrühe nach Hause, nicht wenig in Angst vor der Strafe, die ihn zu Hause erwarte...

Fürs erste war diese Angst freilich genau so vergeblich wie die Verteidigung, die er sich zurechtgelegt hatte. Die Türen des Anichhauses waren fest verschlossen und keine Seele rundum. Nur die Hühner liefen ihm zu,' und der Hund stieg winselnd an der Kette hoch. Peter erschrak jetzt nur noch heftiger. Die Mutter war seit undenklichen Zeiten nicht mehr aufs Feld gegangen. Vielleicht waren sie auch nicht im Schnitt, sondern sie suchten nach ihm, die Mutter, der Vater, die Kathi und die Leni und noch etliche Nachbarn dazu. Dann hätten sie aber wohl auch den Hund mitgenommen, überlegte er erleichtert, und die Mutter w,är erst recht daheimgeblieben und hätte ihn erwartet. Erst in der Gerätekammer ward ihm denn auch ehrlich leichter. Die Sicheln und Rechen waren fort und beide Sensen, auch die seine.

Er schlich sich wieder aus dem Garten und trabte das Sträßlein zurück. Daß er die Mutter nicht sprechen durfte, ehe er vor den Vater hintrat, erschien ihm als ein schlimmes Zeichen, völlig aber bedrückte ihn, je weiter er kam, daß er mit leeren Händen dahinlief, genau so als gehörte er nicht mehr zu den Seinen.

Nur drei Wegstunden liegt das Dorf Oberperfuß westwärts von Innsbruck und keine Dreiviertelstunden vom Inn entfernt. Doch wer auf der Talstraße gegen Westen wandert, meint, die geringen Waldhügel zur Linken seien bloß die Vorberge gewichtigerer Höhen und man gelange im steilen Anstieg geradewegs auf das Rangger Köpfel oder den behäbigen Roßkogel und die anderen vom Tal nur schwer sichtbaren Berge des Seilrain. Ja selbst von Kematen aus, so nahe am Ziel, merkt einer nicht, wie sich jenseits des steilen Waldhanges gut zweihundert Meter über dem Inntal eine freie, nur ganz leicht gewellte Hochfläche versteckt, die mit all ihren Matten und weitauseinanderliegenden Weilern — es sind ihrer nicht weniger als achtzehn — Oberperfuß genannt wird. Doch wenn das Dorf sich dem Blick des Wanderers verschließt, bis er die Hochfläche erreicht hat: schreitet er einmal oben zwischen den behäbigen Höfen und Gärten dahin, so ist vor seinem Aug die nahe und die weite Welt so herrlich aufgebaut wie kaum irgendwo im Lande. Der Gipfel und Wände stehen wohl genug rundum, doch alle so nah und so fern, daß sie den Blick nicht hemmen und ihm dennoch verstatten, auf der Martinswand drüben jedes Steiglein zu erkennen, ja selbst auf der Hohen Munde, oder im Süden am Roßkogel und in den Schrofen des Kalkkögele, dieses seltsam in das wuchtige Urgebirg verirrten Kalkstocks. Der Blick gerät aber auch leicht und durch kein dräuend Nahes verstellt über die Zirler Berge hin in das Zackengewirr der Nordkette, und hinter den Mieminger Bergen steigen die Mauern und Zinken des Wettersteingebirges auf. Patscherkofel und Glun-gezer liegen in ihrer schweren Wucht gegen Morgen, und erst das doppelgipfelige Kallerjoch schließt bei Schwaz das dort schon viel breitere Tal.

An jenem Morgen schimmerten die Türme von Innsbruck kaum erst durch den Dunst. Aber der kleine .Peter ließ seine Augen nicht die Wände und Gipfel ablaufen, so sehr er solche Stunden auch liebte, er Ward nur, als er in so viel herrlicher Klarheit dahinlief, auch mit sich selbst wieder ein wenig zufrieden, ja als er endlich den Wald erreichte, wußte er, daß er doch nicht so ganz vergeblich die Nacht über in der Turmstube gesessen .war. Ein seltsames Reden hatte ja gegen die Frühe zu in ihm angefangen, jetzt, kam es wieder und nur noch deutlicher: Du mußt den Himmel nicht immer nur anstarren und Dinge suchen, die nicht drauf verzeichnet sind, Peter, so redete die Stimme wieder. Du mußt merken, wo jeder Stern seinen ihm zugeschriebenen Platz hat, dann erkennst du auch ihre Wege und Fahrten, dann kannst du. zu jeder Stunde sagen wo sie stehn, genau wie du selber an den Gipfeln und Schrofen ablesen kannst, ob du gegen Osten gehst oder gegen Süden, ob du bei der Kirche stehst oder vor deinem Hause. Ragen viele Schrofen in den Himmel, und wer sie nicht genau kennt, wird so leicht an ihnen irfe wie du an dem himmlischen Gefljmmer.

Peter stand eine Weile mit geschlossenen Augen. Er vernahm keinen Laut außer dieser Stimme. Sie klang nicht fremd, doch sie gehörte auch nicht irgendeinem ihm bekannten Menschen. Er durfte . keinen Schritt weiter tun, solange sie redete. Am liebsten hätte er sich ins Moos geworfen und das Gesicht in den Händen vergraben. Doch solches Verweilen dünkte ihn, wo das Korn und die Seinen auf ihn warteten, Sündhaft.

Er hörte aber jetzt aus sich heraus deutlich die Antwort auf diese Stimme, ja er wußte ganz plötzlich,, daß xt, die Sterne nur benennen und auf ihren Plätzen finden konnte, wenn er. sie einmal erst auf einem Bogen Papier sauber aufgezeichnet und beschrieben vor sich hatte. Vielleicht besaß Herr Josephus Azurim in Brixen einen sol^ chen Bogen oder der Sternprofessor in Innsbruck auf der Hohen Schule. Doch wenn irgendein Mensch einmal den Himmel gebildet hatte, Punkt um Punkt, dann konnte dies auch Cr, der Peter, in einem Monat, wenn er sehr fleißig war, in einem Winter, in drei, in zehn Jahren. Stand aber, erst einmal das an seinem Ort festgebannte, Gestirn sauber auf dem Papier mit Bleifeder hingesetzt, mit Tinte nachgezogen, $0 “daß es hielt, dann konnte er auch den wandelbaren Abendstern auf allen Stationen seiner Bahn festhalten, den Mars, den Jupiter, den Merkur und Saturn, gar den Mond, diesen Schnelläufer, ihn allen anderen zuvor.

Als Peter wieder im Walde dahinlief, fürchtete er auch des Vaters sichere Prügel nicht mehr, denn wohin seine Gedanken jetzt auch ausrissen, auch die übereiligen und kindischen, sie spürten neue Wege,auf und herrliche Bahnen, auf denen sie ohne Hindernis dahinlaufen mochten, und die Welt ward weit und durchsichtig und dabei begreiflich, als trüge er sie. wie eine wohlgedrechselte Kugel in der Hand, 1

Es redete aber auch schon eine dritte Stimme darein, und diese war die seine: Woher nehm ich ein so riesiges Papier? Und wenn ich es aus Innsbruck durch die Bötin kommen lasse, oder aus Telfs, sofern die , dortigen Kramer solches haben, wie verberge ich es vor dem Vater und der Kathi? Und wenn auch dies gelingt und die Bötin gegen ein paar Kreuzer verschwiegen bleibt, wie kann ich auf diesem riesigen Bogen zeichnen, ohne daß nicht jedermann drein-guckt und dreinredet? Die Leute, auch die liebsten und nächsten, können sich ja nicht vorstellen, was sie nicht fertig vor Augen haben. Und wenn er den immerhin kugelrunden Himmel auf einen flachen Bogen bringen konnte, waren 'dann die Sterne “am Rande nicht ungehörig weit auseinander? Und was geschah dann mit den Bahnen der Planeten? Wer den Himmel nachbildete, durfte daher nicht mit einem noch so riesigen Bogen anrücken, sondern mit einer hohlen Kugel, einer ganz großen die auch der Vater, selbst wenn er wollte, nicht.einfach drechseln Konnte. Und wenn er diese Hohlkugel aus Papier klebte, wie“konnte er dann richtig darunter liegen und zeichnen, woher nahm er für eine Arbeit, bei der es auf jeden allerfeinsten Strich ankam, das rechte Licht? Und selbst wenn all dies gelöst war, wie maß er die Sterne wirklich? Wie Sand er den jedem Gestirn zugewiesenen Punkt, wie kam er dem Gewühl der himmlischen Lichter mit dem Maßstab bei, wo war der Punkt, von dem aus er die anderen Punkte messen und fassen konnte?

Da nun eine Frage unheimlicher als die andere ihn überfiel, und er dabei tüchtig ins Schwitzen kam, sah er einen Adler hoch über der Straße schweben. Das Tier hatte sich wohl aus dem Seilrain heraus verflogen und war nach jungen Hasen lüstern. Daran aber ? dachte Peter jetzt nicht, da er es mit den Augen verfolgte. Er prüfte vielmehr, dies war auch sonst seine Gewohnheit, wie hoch der mächtige Vogel wohl jetzt über ihm' kreise. Dreitausend Fuß vielleicht oder auch viertausend. Es ging ihm aber auch nicht darum, die oft geübte Kunst des Abschätzens zu erproben. Es war ja niemand da, kein Vater, kein Spielgefährte, der ihm beistimmen oder ihn verbessern mochte. Ein für ihn ganz neuer Gedanke erregte ihn vielmehr plötzlich. Der Adler erschien uni so kleiner, je höher er dahinflog. Man konnte also, und dies hatte er ja mehr aus Übung heraus immer schon so gehalten, erkennen, daß ein Adler von einer gewissen Größe sich in einer gewissen Höhe befand. Man brauchte nur noch genau wissen, wieviel Fuß solch ein Adler mißt, das war nicht schwer zu erfahren, und dann, .das war schon bedeutend schwieriger, 'genau messen, wie groß das Tier in der Luft sich ausnahm, dann konnte einer genau die Höhe bestimmen. Peter tat einen Luftsprung.

Wahrhaftig, er brauchte die Maße sich nur auf einem Blatt Papier, die Höhe von hundert zu hundert Fuß, und die der Höhe entsprechende Größe des Adlervogels nebeneinander auftragen. Das war keine Hexerei, gar wenn man einen festen Maßstab hatte, der die scheinbare Größe des schwebenden Adlers untrüglich angab und dies auf den ersten Blick, denn der edle Vogel stand ja nicht auf einem Fleck. Ein Brettchen, durch das man blicken konnte, besser ein Holzrahmen an einem Stiel, mit einer leicht sichtbaren Meßeinteihing. In der einen Hand der Rahmen, in der anderen das Papier mit den Zahlen, und die Höhenmaße waren fix und fertig abzulesen.

Wie die Tabelle zu berechnen und das Vergleichsmaß zwischen Höhe und Größe des Adlers zu finden sei, bekümmerte ihn fürs erste nicht. Die Straße hatte nämlich bereits den Wald verlassen, und vor ihm lagen, in der Talebene hin, die Häuser von Unterperfuß und Zirl; zur Rechten, immer der Straße nach, stand der hohe schlanke Kirchturm von Kematen. Dieser Turm aber ließ Pete,r alsobald den Adler vergessen. Wenn er nämlich genau die Höhe des Turmes wußte, und diese war vom Kematener Pfarrer oder einem der Läuterbuben leicht zu erfragen, dann konnte man mit dem gleichen Sehrahmen auch die Entfernung irgendeines Baumes oder eines Hauses vom Turm aus bestimmen. Ja es dünkte ihn dies bedeutend einfacher und sicherer als beim Adlervogel, er konnte dabei ja die Entfernung auch tatsächlich abschreiten, sein Instrument also nachprüfen, noch mehr, er konnte es erst nach den so abgeschrittenen Strecken ■ zusammensetzen und so ganz genaue Maße erzielen. Und wußte man bei einem hochfliegenden Adler nie, ob man ein junges oder altes Tier vor Augen habe, ein großgewachsenes oder zwerghaftes, der Turm blieb immer gleich hoch.

Er sah aber, da er diese seine feinste Entdeckung gar munter in seinem Schädel weiter wachsen und arbeiten ließ, daß die Kematener nicht bloß mit dem Korn, sondern auch mit den Kirschen den Ober-perfern um gut eine Woche voraus waren, so prallrot und spiegelschwarz hingen die Büschel an den Bäumen. Und da die vielfältigen und gar herrlichen Gedanken seinen Hunger wohl ein wenig verscheucht, aber nicht gestillt hatten, stieg er auf den nächsten Baum, stopfte den Mund und alle Tischen voll und schmauste, bis er sich völlig satt und sicher fühlte und so wie einer, der sich sein Frühstück ehrlich verdient hat.

Erst näher am Korn ging ihn wieder das Fürchten an. Die kleine Leni lief ihm wohl entgegen, doch ehe sie in erreichte, ward sie zurückgerufen. Der Vater blickte nicht auf, so schön Peter auch den Hut zog, die Mutter sah wohl herüber, doch der traurige Ernst in ihrem geliebten Antlitz tat noch weher denn das schadenfrohe Geschau - der älteren Schwester, der Kathi. Peter stand eine “Weile still und tat, als blicke er nach dem Dorf hinüber. Doch auöh das ferne .Hundegebell verstummte jetzt* nur die beiden Sensen rauschten im Takt,

„Geh aus dem Weg!“ sagte die Kathi endlich. Da setzte er den Hut auf und trat auf den abgemähten Teil des Ackers hinüber. Und da ihn niemand zurückrief, setzte er sich auf eine Garbe. Auch während die anderen frühstückten, blieb er dort hocken. Er hörte wohl, wie die Mutter für ihn bat, er habe ja seit gestern mittag nichts gegessen und werde noch krank vor Hunger; er vernahm aber auch des Vaters scharfe Antwort, ein Faulenzer brauche nicht essen, und ein Bub, der sich und das ganze Haus ins Gespött bringe, möge seines Weges gehen, heim oder nach Innsbruck, oder verhungern, lieber habe er keinen Sohn als einen ungeratenen.

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