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Digital In Arbeit

Peter Anich, der STERNSUCHER

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10. Fortsetzung

Wenn man nämlich die verschiedenen Punkte auf diese Art bestimmt und verzeichnet habe, dann brauche man bloß eine dieser Linien, die einfachste, genau abmessen und ihre wirkliche Länge mit der auf dem Papier in das rechte Verhältnis setzen. Habe man auf diese Art den genauen Maßstab festgestellt, so könne man mit der gewonnenen Verhältniszahl nunmehr auf dem Papier jede beliebige Entfernung zwischen zwei Punkten mit dem Zollstab nachmessen, ja selbst die noch nicht eingezeichneten Strecken. Die Verhältniszahl sei ja für alle Punkte des Blattes die nämliche. Auf diese Art also könne man Strecken messen, ohne auch nur einen Schritt zu tun, ohne Rahmen und langweilige Redinerei und genauer, als dies ein Maßstab vermöge, ja das ganze Dorf auf das Papier bringen, genau so wie der Herrgott und die Menschen es wachsen ließen.

Peter fuhr mit der Hand über die feuchten Augen. Es war aber kein Truggebild, das er in Händen hielt, aller Meßkunst Anfang und Ende war das Blatt und dies ohne Lehrer und ohne irgendein Büchel von seinem Vater ausgedacht. Er sprang auf und lief über die Wiese hin. Der Vater habe etwas ganz Neues und Ungeheuerliches ausgekopft, schrie er und schwenkte das Blatt und erklärte alles den Schwestern, so wie vorhin der Vater es ihm erklärt hatte, und wie sie nun jetzt nicht bloß das Dorf messen und verzeichnen könnten, sondern auch das Inntal und die Hohe Munde und die Martinswand, alle Zacken, alle Spitzen und Grate und ganz Tirol. Die kleine Leni sprang, denn auch wie närrisch, daß die Nachbarn auf den Wiesen rundum die Sensen sinken ließen und länger herüber-Wickten, als das schwere Gewölk, das sich über den Flauriinger heraufschob, es rätlich sein ließ.

Das Unwetter kam auch nicht so bös über Oberperfuß, wie es die Leute auf den Wiesen erschreckt hatte. Und wenn es Peter sein Lebtag nicht vergaß, so doch nur all der Dinge wegen, die sich vor- und nachher ereigneten. Das Gewitter zog nämlich, obgleich es schon über ihren Köpfen gehangen hatte, hinter dem Rangger Köpfel vorbei das Sellrain entlang, verwüstete die Felder zwischen Aya/ms und Mutters mit taubeneigroßen Schlössen und jagte die Wasserfluten so jäh gegen Götzens, daß neben etlichen Heustadeln auch ein Gehöft überflutet ward und ein junges Ehepaar in den Fluten ertrank. Über Oberperfuß und gegen Zirl hin setzte es bloß einen argen Sturm und kurze Regenschauer ab.

Die Anichleute waren mit den anderen Mähern heimzu geeilt. Während aber etliche schon in Ranggen die Böen abwarteten und andere, die mit ihnen bis in die Völsesgasse gelaufen waren, da sie im Westen den blauen Himmel nachkommen sahen, wieder auf die Felder zurückkehrten, denn es war noch nicht die Mittagsstunde, drängte der Vater heimzu. Es komme wohl in einigen Stunden ein noch ärgeres Wetter nach, sagte er. Dabei rang er wieder nach Atem und rastete lange an einem Zaune, ehe er die letzten Schritte gegen den Hof hin tun konnte.

„Ich bin zu arg gelaufen“, keuchte er, „aber es geht vorbei, wie auch das Wetter uns heute gnädig war.“ Nach dem Mittagessen, bei dem er sich nichts weiter anmerken ließ, bat er Peter in die Stube hinüber. Wenn sie heute daheimblieben, sagte er, $ei ja nichts verloren, es sei auch seine Art und sicherlich die rechte, einen Gedanken, den der Herrgott im Schlaf geschenkt habe, sogleich zu Ende zu denken und durchzuführen. Solche Gedanken kämen ja nicht allzuoft und gingen leicht auch wieder über Nacht davon. Auch gebe es Stunden im Leben eines Menschen, da sei das eine so wichtig wie das andere und eine kleine Berechnung so notwendig wie das Grummet draußen, er spüre aber, daß eine solche Stunde für ihn angebrochen sei. Wenn sie sich jetzt an die Drehbank setzten, so brachten säe sicherlich bis zum Abend ein brauchbares Visicrinstrument fertig, freilich ein hölzernes, aber das genüge für ein paar Tage, und es lasse sich auch leichter mit Verbesserungen versehen denn eines aus Eisen.

Sie hatten aber kaum das Werkzeug zurechtgelegt, als sie draußen über dein Inntal einen Regenbogen erblickten. Er stand auf der von Schauern noch umwölkten Martinswand auf und wölbte sich quer über das Tal bis zur Oberperfußer Kirche. In den sieben Farben leuchtend, makellos war dieser Bogen aufgebaut, ja selbst den zweiten darüber sahen sie noch deutlich und vollkommen. Sie traten ans Stubenfenster und standen schweigend nebeneinander, so feierlich war das Himmelswunder vor ihren Augen aufgerichtet, und sie schwiegen noch, als die Farben längst verflossen waren und die steile Sonne allein auf den Wänden und Gipfeln herrschte.

„Das war heute ein heiliger Bogen“, sagte der Vater jetzt. „Alles Runde ist heilig, denn der Herrgott hat die großen Werke in dieser Art geschaffen, die Sonne, den Mond, die Gestirne, selbst die Erde. Auch die Erde ist ein geheiligtes Werk Gottes, und er mahnt die Menschen daran, sobald er seinen siebenfarbigen Bogen über ihr aufrichtet. Der auf ihr lebt, merkt nur nicht ihre vollkommene Gestalt. Es muß einer schon weit von ihr fort sein, weit fort oder auf dem Wege dahin, dann sieht er die kleinen harten Zacken*, die dunklen bösen Schluchten nicht mehr, auch nicht all das Gerade und Krumme und Verkehrte auf der Erde. Er erblickt sie dann ein wenig wie der Herrgott selbst, so schön, so rund, so glatt, wie jeden anderen Stern, bald hell, bald wieder beschattet. Behalt das bei dir und denk daran, bald es einmal arg gegen deinen Willen geht.“

„Ich sehe die Erde zuweilen so“, sagte Peter, „glaub der Vater es mirl Wenn ich recht fest in die Sterne blicke, dann erscheint auch sie mir nur wie ein Stern. Man braucht deshalb nicht erst von ihr fortgehn, wie der Vater meint, nicht einmal auf dem Wege dahin sein, es kann einer auch all das recht gut sich vorstellen.“

„Wenn er es kann, Peter. Er ist dann ein gesegneter Mensch, der einzige, meine ich, den man glücklich heißen kann.“

Da ertrug Peter die Stube nicht länger und eilte in den Garten hinaus. Der noch scharfe Sturm trieb ihm das abgerissene Laub ins Gesicht, und über Mutters hin flammte ein riesiger Blitz in die Erde. Es war ihm aber, da er so stand und atmete, als müsse der Vater alles wissen, jedes Geheimnis der Kugel und des Kreises und aller Linien und Zahlen und alles, was das Leben wahrhaft beselige. Aber in dieses Glück, daß er nun einen so herrlichen Vater besaß, mengte sich wieder eine jähe Angst um den alten Mann. Und als er ins Haus zurückkehrte, fand er ihn auch nicht mehr in der Stube, und da er zur Schlafkammer eilte, trat ihm auf der Stiege die Mutter entgegen. Der Vater habe sich ein wenig ins Bett gelegt, sagte sie, er sei sehr müde und vorhin wohl zu arg gerannt. Auch drücke ihn das schwüle Wetter nieder. Bei alten Leuten sei das nun einmal so, auch bei ihr. Nur sei der Vater noch älter und die letzten Tage her schon sehr müde gewesen.

„Er hat auch heute zu viel gesehn“, sagte Peter.

Die Mutter fragte nicht, was der Vater denn gesehen habe, und ging in die Küche. Es schien ihm aber, da er ihr nachblickte, als wische sie mit der Schürze über die Augen.

Die Schwestern fuhren dann allein um Futter, Peter blieb daheim. Es hatte ihn auch niemand zu irgendwelcher Arbeit aufgefordert. Er wagte keinen Schritt aus dem Haus.

Erst dachte er, er werde nun allein das Instrument entwerfen und den Vater überraschen. Ein Visierapparat ähnlich dem des Scheibenstutzens, mehr hatte der Vater nicht verlauten lassen. Mehr war, dünkte Peter, auch nicht darüber zu sagen. Ein schmales Leistchen, darauf das Korn, nur stärker und schärfer zugeschnitten als jenes attf dem Stutzen, dem Auge zugekehrt ein oben schräg ausgeschnittenes Blättchen und beide auf eine etwa armlange Leiste aufgeklebt, das war mit ein paar Strichen rasch entworfen. Es befriedigte ihn jedoch nicht. Einen fernen Punkt zu sichern, das erforderte eine genauere Visur als eine Schützenscheibe, eine haargenaue. Schmale Rähmchen waren da nötig mit feinen Schlitzen und dünnen Drähten über den Schlitzen der Höhe und der Quer nach, auch ein durch-lochtes Scheibchen mochte die Höhen- und Breitenlage des anvisierten Punktes genau angeben. All dies zeichnete Peter nacheinander und verwarf es wieder, ja plötzlich erschien es ihm kindisch und töricht, daß er sich mit so irdischen Dingen abmühte, wo sein Vater die Erde als eine Kugel geschaut hatte, und dies in einer so seltsamen, so feierlichen Art, daß ihm der Gedanke daran das Herz verkrampfte.

So blieben denn auch die übrigen Fragen rund um das Instrument ungelöst. Ob man das Ding auf einen starken Dreifuß stelle oder auch noch auf ein kleines Tischchen, ob auch das Tischchen nach allen Seiten und der Höhe nach verstellbar sein mußte, auch wie einer dann die gefundene Visur richtig und haargenau auf das Papier übertragen konnte, ohne daß es dabei allein auf die Sicherheit der Hand ankam. Etwa konnten einem dabei die Winkel zwischen den einzelnen Visuren dienlich sein, aber auch diese Winkel mußten scharf gemessen und richtig eingefangen werden. Dies alles hatte der Vater sicherlich bei sich bedacht, und er wußte es bis ins Letzte, wie er so vieles und so Herrliches wußte, das er bisher verschwiegen hatte.

Beim Abendessen war der Bauer wieder zugegen. Er aß seine Suppe wie jeden Tag, dann aber trank er ein Glas vom besten Zirler Wein. Auch Peter durfte mit ihm trinken, und die Mutter und Kathi verkosteten den feiertäglichen Trunk. Sie blieben auch länger beisammen als an anderen Werktagen, obgleich sie wenig redeten und nur selten ein Scherz gelang.

Als dann nach dem Essen die anderen ihrer Arbeit nachgingen, bat der Vater Peter zu sich in die Stube. Er befragte ihn, ob er über das Instrument nachgedacht habe, hörte seine Pläne an und lobte sie, aber da Peter dann zu Ende war und an jene Fragen kam, die er sich zurechtgelegt hatte, ermunterte er ihn nicht dazu. „Wir wollen das auf morgen verschieben“, sagte er, „es erfordert wieder eine gutverbrachte Nacht, und vielleicht schenkt uns der Herrgott einen noch besseren Gedanken.“

„Ja“, sagte Peter, „auf morgen oder übermorgen, wir haben ja noch so viel Zeit vor uns.“ Es war ihm dabei viel leichter ums Herz.

„Es ist auch schon zu dunkel heut.“ Der Vater trat, da er dies sagte, an das Fenster. Es war aber noch immer hell genug in der Stube. „Man müßte für solche Arbeiten größere Fenster haben“, fuhr er fort, „dann hätte man eine Stunde länger Licht. Mein Lebtag hab ich mir ein größeres Fenster gewünscht, aber diesen Wunsch immer wieder aufgeschoben. Ist ja nicht das einzige, das ich aufgeschoben habe. Das halbe Menschenleben ist ein einziges Aufschieben. Ich kränk mich heute auch nicht mehr darüber, denn so ist es gut. Wieviel Unruh wäre dann mehr in der Welt, wieviel nebensächlicher Kram träte ansonsten ins Leben und verwirrte es noch, wo es doch nicht der Verwirrung, sondern einer strengeren Ordnung bedarf. Das merke, Peter, bald es sich nicht aufschieben läßt, dann tritt so ein Ding schon \ noch zur rechten Zeit in die Welt, aber auch ordentlich und als ein nützliches Ding. Ich glaube daran, und kein Mensch braucht sich ängstigen, daß er etwas versäume. Oder. sind nicht auch deine Wünsche und Gedanken heute viel klarer und sicherer als noch vor vier, fünf Wochen, und mußt du j dich noch ängstigen, daß sie dir verloren-gehn?“

„Ich ängstige mich wirklich nicht mehr“, sagte Peter.

„Und wenn wir jetzt so schön miteinander reden, da ja die Dämmerung doch zu' nichts Ordentlichem mehr taugt, dann will ich dir auch des Hofes wegen sagen, was ich so lange bei mir aufgeschoben habe. Du kannst immer deinen Willen tun, mit gutem Gewissen, denn er ist rein und stark und ehrlich in deinem Herzen, mein Bub. Du darfst nach Innsbruck gehn zu den gelehrten Herren und selber dann einer werden, wenn du dazu taugst, ein Feldmesser, ein Meßkünstler darfst du werden, selbst einer, der die Sterne kennt und vermißt, auch ein Kalendermacher, aber bedenk allezeit, daß du nur hier, in dieser Stube und auf dem Anichhofe ganz daheim bist. Hüte auch das Haus und laß es nicht verwaisen, das bist du deinem Vater, deiner Mutter und deinen Schwestern schuldig, solange dir Leben und Gesundheit bleibt; auch wenn du ein Herr wirst, viel Geld hast und in anderen Kleidern einhergehst. Du bist ein Tiroler Bauer, das heißt, du bist mehr, als die Leut im Dorf insgemein wissen. Auch du wirst es erst sehn, was das heißt, wenn du einmal außer Landes kommst. Viehhirt, Köhler, Schneider, Bauer, das war mein Weg, und für dich hab ich ihn mir noch ein Stück weiter vorgestellt. Es war dies kein ebener Gedanke. Heute weiß ich es, es gibt für den, der einmal in diesem Stande lebt, kein Hinauf mehr, höchstens einen Weg, der ihn wiederum zum Bauern zurückführt, immer wieder heim, sofern einer auf dieser Erde daheim sein kann. Ich kann das nicht so sagen, wie ich es sagen will.“

„Ich habe mir auch meinen Weg niemals anders vorgestellt, Vater. Und dies nicht nur, weil ich unserem Hofe verpflichtet bin, ich könnte auch gar nicht anders, Vater, auch wenn die Leut es anders bereden.“

(Fortsetzung folgt.)

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