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Peter Anich, der STERNSUCHER

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17. Fortsetzung

Hatte sich Peter erst an der hochtönenden Rede des Soldaten belustigt, jetzt trat ihm der Angstschweiß auf die Stirn. Der Kerl . rief seine heimlichsten eigenen Befürchtungen wach, all jene Ängste und Fragwürdigkeiten, die er bisher immer nur sehr schmächtig in seinem hintersten Herzwinkel geduldet hatte. Das sei wohl so, sagte er nun, aber ganz richtig sei es doch wiederum nicht. Er habe wohl keine rechte Schule besucht und entbehre schmerzlich manche Weisheit, die ein Stadtbub schon als Kind erwerbe, dafür hätten sie in Oberperfuß den schönsten, den weitesten Himmel und einen Kirchturm, von dem aus sich die Sterne betrachten ließen wie nirgendwo in der Welt, auch Kirschbäume und Felsköpfe und Adler und Türme, an denen sich die Meßkunst erfahren lasse; sein Vater aber sei nicht nur der beste Mensch, sondern auch der Klügeren einer gewesen, und wäre er nicht so zeitig verstorben, er, Peter brauchte nicht erst heut nach Innsbruck laufen und sich von einem studierten Gesellen hänseln zu lassen. Dies aber habe er auch schon ohne seinen Vater nicht nötig. Was er nach Innsbruck mitbringe, sei nicht irgendwelche Bücherweisheit, die jedermann, auch der dümmste, um billiges Geld erwerben könne, er trage seine eigenen Erfahrungen und Pläne mit sich. Er wisse genau, wie man die Punkte einer Gegend auf einer Meßkarte festlege, ihre Luft- und Bodenmaße finde und aus diesem und jenem Winkel der Visur die Höhenlage berechne. Er habe auch die Instrumente hiefür ausgeklopft und aufgezeichnet.

„Donner und Gloria“, rief der Invalid neuerlich, „Türken und Kartaunen. Ich laß mich hängen, wenn ich jetzt nicht mit Ihm nach Innsbruck gehe und Ihn zu den Professoren geleite. Auf der Stelle geh ich mit Ihm, und wer mir Ihn ah einen bäuerlichen Sinnierer bezeichnet, dem schlag ich das Maul schief. Auf, Bürschchen, es ist spät und vor dem Fraß redet sich mit den schwarzen Vögeln am leichtesten.“ Der Soldat goß das Restchen Enzian aus der Flasche in den Schlund und sprang auf die ßeine.

Peter blieb indes ruhig sitzen. „Das ist kein unebener Gedanke von dir, Bruder“, sagte er, „aber der Weg nach München führt über Seefeld und nicht über Innsbruck. Ich könnt es auch nicht verantworten, wenn der Herr Kurfürst dich dann in Ungnaden aufnahm.“

„Bah, die kurfürstliche Gnaden!“ prahlte der Fremde, „wenn einem ein Goldvogel ins Haus fliegt, hat man ihn morgen genau so gern wie heut, einen goldigeren aber gibt es wohl nicht auf dieser Welt als meine Wenigkeit, wie Er sich bereits höchstselber überzeugt hat. Im übrigen verlange ich von Ihm keinen Pfennig, als was mich die Stadt selber kostet, Zehrung und Nächtigung, sonst nichts, für drei Tage vielleicht. Am ersten Tag kommt Er ja höchstens zu einem Faktotum vor, niemals aber zu einem Professor, außer ich schlage mit meinem Degen drein.“

„Schade“, sagte Peter und rührte sich noch immer nicht, „hättest mir den Weg über so manche Frage beantworten körinen. Doch ich muß heut wieder nach Oberperfuß zurück, ich kann meine Ochsen nicht allein lassen, und wenn ich nächtigen könnte, weiß ich doch keine Schlafgelegenheit, mindestens keine, die einem so hohen Herrn passen tat, und wenn ich eine fände, hätt ich doch kein Geld sie zu bezahlen. Ach Gott“, seufzte er überschwer, so daß ihm fast das Lachen aufstieß, „was ist ein so armer Teufel für ein Pechvogel. Da rennt ihm das Glück über den Weg, und er kann es nicht fassen! Überdies“, er sprach jetzt wieder ruhiger und meinte es auch ernsthaft, „wenn du mir dein gutes Herz erweisen willst, dann kannst du mir auch jetzt die eine oder die andere Frage rasch beantworten. Es ist nicht viel für einen, der es gelernt hat, für den anderen aber wohl eine rechte Hexerei.“

Der Soldat zögerte und blickte ihn von der Seite an. „Hm“, sagte er, „wenn es die hohe Rechenkunst betrifft und Er ein ernstlicher Adept ist, darf ich solche Fragen ja

beantworten. Immerhin“, er blickte jetzt auf den Tragkorb, „ohne ein besonderes Honorar geht das nicht ab. Das verbietet mir mein Stand, versteht Er? Die Wissenschaft verschenkt sich nicht jedem.“

Peter kramte die Speckseite umständlich aus dem Korb und hielt sie ihm hin. „Wenn dir das als ein außerordentliches Honorar genügt“, sagte er, „mehr hab ich nicht. Ich will dir auch noch ein Krüglein Wein in Völs dazukaufen. So hohe Herrn ertragen den ledigen Speck nicht leicht, wird ihnen übel davon.“ Er wickelte die Speckseite dabei wieder ein und legte sie neben sich ins Gras. Der Soldat stand noch eine Weile unschlüssig, dann aber ließ er sidi wieder mit einem Plumps neben ihm nieder. „Also los!“ sagte er, „stell Er seine Fragen an mich, auch wenn das Honorar ungewöhnlich ist und den Vorschriften meines Standes nicht entspricht. Schieß Er seine Fragen gegen mich ab. Beim Wein mag ich die Mathematik nicht leiden, gar wenn so ein Fuhrknecht oder Weinhändler am Tische hockt.“

Er griff dabei, als spiele er, nach dem Speck, Peter aber nahm das so kostbare Stück und legte es rasch auf die andere Seite. Er sagte kein Wörtchen dazu. „Zum ersten“, begann er nun, „brauche ich die heilige Zahl des Kreises. Du verstehst mich. Ich hab sie bereits ausgekopft, so gut es eben anging. Sie lautet drei, aber ganz genau stimmt die Zahl doch noch immer nicht.“

„Donner und Gloria! der Mensch meint das Pi“, rief der Soldat und vergaß ehrlich auf das begehrte fettige Papier. „Und eine heilige Zahl nennt er das! Wahrhaftig, sie ist heilig. Ein Arcanum, das einem die Welt des Kreises aufschließt wie das Wörtlein Sesam. Beim Heiligen Römischen Reich, da hätte der Kerl schier selber die Pi gefunden, auf ein Härchen hätt er sie aus eigenem gefunden. Donner und Gloria, Er verdient es, daß ich Ihn nicht enttäusche! Und noch eine heilige Zahl?“

„Es scheint mir keine Zahl zu'sein“, sagte Peter, „die den Triangel bestimmt, sondern ein Winkel, auch kein Winkel, das wäre ja noch einfach, sondern eher ein Verhältnis. Das brauche ich, wenn ich zwei Seiten kenne und auf die dritte schließen will, oder einen Winkel und eine Seite So stelle ich mir das vor, nicht genau wie die heilige Pi, so nennst du sie doch, und es ist ein sehr kurzer seltsamer Name für ein so erhabenes Ding; ich hab erst auf dem Weg hierher darüber nachsedacht und noch keine rechte eigene Vorstellung davon, auch keine ungenaue. Es wäre ein solches Verhältnis, wenn es eines gäbe, aber schier noch ein stärkeres Arcanum.“

Der Invalid machte ein nachdenkliches Gesicht und strich über seinen geringen Bauch. „Viel auf einmal gefragt, Herr Bruder, viel, sehr viel, beinah die ganze Mathematika und Geometria in nuce, sagt der Studierte.“ Er warf sich dabei ins Gras, spreizte den Degen zwischen die aufgestellten Beine und seufzte tief: „Hat Er keine andere Stärkung vorher als den gefährlichen Speck, eine leichter verdauliche, mein ich, eine, die einem das Gehirn recht in Gang bringt, nicht bloß den Magen?“

„Wenn dir ein hartes Ei gut tut, soll es daran nicht scheitern“, sagte Peter und holte ein Ei aus dem Korb, schälte es und reichte es dem andern. Auch ein Stück Brot legte er dazu und ein Brösel Salz.

„Ich weiß nicht, wer Sein Herr Vater war“, sagte der Invalid darauf und schob das Ei auf einmal in den Mund, „aber einen klugen Sohn hat er gezeugt. Ich weiß wahrlich nicht, welcher von Seinen Gedanken der klügste ist. Überdies sind dem Gehirn harte Eier die willkommenste Nahrung. Das mag er bezweifeln, aber ich habe mich auch in der Heilkunst umgesehn, und für eine schwierige Antwort ein hartes Ei ist schließlich auch eine lächerlich billige Sache.“

Peter begriff und reichte ihm nun ein zweites Ei. Der andere verschlang auch dies auf einen Biß, schob ein Stüde Brot nach, würgte eine Weile, setzte sich in Positur und sagte feierlich: „Alles Gerade ist einfältig, im Runden liegt das Geheimnis, das hat Er sehr richtig erkannt.“

„Rund sind die besten Werke Gottes“, rief Peter, „der Himmel, die Erde, die Sonne, sämtliche Planeten, jeglicher Stern, der Regenbogen, der Apfel, das Türkenkorn, fast jegliche Frudit.“

„Was Er nid sagt“, unterbrach ihn der Soldat. „Wenn Er den Herrn Jesuwitern also kommt, ziehen sie Ihn mit Tränen an ihre schwarze Brust. Aber recht hat Er. Deshalb haben sich auch die besten Leute aller Zeiten, die klügsten Köpfe vornehmlich um die runden Dinge bemüht, um Kreis, Kugel und Kegel, die alten Ägypter genau so wie Herr Archimedes. Aber keiner ist auf die richtige heilige Zahl gestoßen, jeder ist nur in der Nähe getappt, wie der Peter aus Oberperfuß auch, erst später, unseren glor-reidien Zeiten schon näher, hat ein niederländischer Gelehrter sie richtig errechnet. War keine kleine Arbeit für den Mann, hat ein halbes Leben daran gesetzt, war eine ellenlange Zahl, dafür er den kurzen Namen Pi erfand, weil alles Heilige und Erhabene sich von den Griechen herschreibt, alles Irdische und Einfache von den Lateinern. Doch, das versteht Er nidit und wird Er auch “niemals auffassen. Braucht es auch nicht. Die Drei weiß Er bereits, merk Er sich noch die Dezimalen dazu, eine Eins, eine Vier, wieder eine Eins und eine Fünf. Das genügt für Seine Redmungen, es ist übergenug. Diese Zahl aber muß Er bei sich haben auch im Schlaf, wie der Kanonier seine Schießtafel und der Dragoner Finte und Parade und der Bauer die Trächtigkeitszeiten von Kuh und Schaf und Sau. Der muß aber diese Zeiten nicht bloß wissen, sondern auch nutzen, auch das heilige Pi will tätig sein. Also merk Er das Geheimnis der Geheimnisse: Zweimal der Radius mal dem Pi ergibt den Umfang des Kreises, der quadrierte Radius mal dem Pi aber den Inhalt. Versteht Er das?“

Peter nickte.

„Dann schreib Er es gefälligst auf.“

„Ich hab's im Kopf“, sagte Peter. Der andere äugte den Bauern von der Seite an und setzte hinzu: „Die Kugel mag er dann später “ lernen, sobald er radizieren kann, hätte sonst keinen Wert, auch wie er aus der Kreisfläche den Radius findet.“

„Das denk idi mir schon selber aus“, sagte Peter.

Der Soldat blickte ihn wieder an, diesmal aber länger und ohne daß er dabei das Gesicht verzog. „Das Dreieck“, setzte er dann rasch fort, „hat keine solche heilige Zahl, sondern viele Verhältnisse. Das hat der junge Mann richtig bemerkt. Er ist deshalb auch schwieriger denn der Kreis, wie alles Irdische schwieriger ist denn die rediten, die einfachen Werke Gottes. Die Pi mag Er sich in Seinem Schädel noch merken, die Logarithmen kann Er nicht einmal aufschreiben, so viele sind ihrer und so umständlich die einzelnen. Und nennt Er die Pi heilig, will ich die Logarithmen gern selig heißen.“

„Ich weiß nidit, wie so ein Ding aussieht, aber da ihrer wohl sehr viele sind, wie du sagst, könnte idi sie mir ja doch nicht merken. Sag mir deshalb nur die allerwichtig-sten.“

„Donner und Gloria!“ schrie der Soldat, und jetzt lachte er zum erstenmal voll heraus. „Wenn sich ein leerer Schädel auch leicht Zahlen merkt, aber es hieße doch all.es Studieren degradieren, wollte so ein Bauernkerl auch nur zehn Logarithmen im Schädel behalten, so zwisdien Sdiinken und Eiern, denk ich. Überdies braucht Er die Logarithmen vorerst nicht.“

„Wenn ich ohne diese Dinger erfahren kann, wie die Höhe des Triangels von den beiden anderen Seiten oder vom Winkel und einer Seite abhängt, dann brauch ich sie audi nicht, wenigstens heut noch nidit.“

„Für ein einziges Dreieck mag Er das merken, und für dieses eine ist die Lösung sdion dem Herrn Pythagoras geglückt, einem Burschen, der auch heut seinen Weg machen tat und gewiß der kaiserlichen oder der kurfürstlichen Artillerie von allerhand Nutzen war. Für das rechtwinkelige Dreieck hat es besagter Pythagoras getroffen, so gut wie kein anderer nach ihm, nämlich: Die Quadrate über den beiden kürzeren Seiten sind gleich, sofern man sie zusammenzählt, dem Quadrat über der längsten Seite. Ich sag Ihm das, wie Er es verstehen kann. Einem Kenner gegenüber, versteht sich, klingt die Geschichte

schon weitaus grieehisdier. Hier, werf Er Seine Augen darauf.“ Der Soldat zeichnete den Lehrsatz mit seinem Stab in den Staub. „Sieht Er die Quadrate, begreift Er?“

„Ja, ich begreife“, sagte Peter rasch, „so ähnlich hab ich mir die Sache audi gedacht, nämlich daß es ein soldies Verhältnis gibt. Bloß auf die Quadrate bin ich nicht verfallen.“

„In der Redienkunst ist das Ähnliche der Todfeind des Riditigen, merk Er das. Und Quadrieren und Radizieren, das kann Er jetzt?“

Peter dachte angestrengt nadi, nickte und sagte dann leise: „Dü brauchst es ja nur andeuten, das weitere köpf ich mir schon aus.“

„Wie Er meint“, sagte der Soldat und richtete sich auf. Peter versdinürte den Korb, und sie schritten nun nebeneinander gegen Völs. Der Fremde sprach nicht mehr von München oder ob und unter weldien Bedingungen er ihn nach Innsbruck geleiten wolle, und Peter fragte auch nicht weiter. Schweigend, wie neben einem wahrhaftigen Boten des Himmels schritt er neben ihm her.

Erst als sie sich dem Dorfe näherten, sagte Peter: „Wegen einer kleinen Schlägerei hast du die Hohe Schule verlassen müssen? Idi hätt mich an deiner Stell lieber ein paar Tag in das Kammerl stecken lassen und war geblieben.“

„Weshalb meint Er das? Bin ich Ihm noch nicht gescheit genug?“

(Fortsetzung folgt)

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