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Peter Anich, der STERNSUCHER

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25. Fortsetzung

Mit der Pi, wie Peter ehedem gedacht hatte, kam er jetzt freilich nicht zurecht. Er hatte wohl die beiden Stücklein des im großen fortgewischten Kreises vor sich, aber sonst auch nichts, keine Zahl, keine Hilfslinie, keinen Winkel, kein Verhältnis oder irgendwelche Angabe, die da ein Zuzählen oder Radizieren oder sonst welche Rechnerei gestattete. In dieser Eigenart, das erschien ihm sogleich sehr deutlich, glich das dritte Exem-pel eher dem ersten. Es kam nur auf den rechten Weg an, nicht auf irgendwelche Rechenkunst. Diese Erkenntnis erleichterte wohl vorerst sein Herz. Wenn er schon, wie er sich jetzt wiederum laut vorsagte, im Rechnen leider ungeübt war und sich sidier-lidi mit den Sternen eher zurecht fand denn mit den Zahlen, das Ausdenken war seine Stärke und noch mehr, wenn er an eine Sache nur scharf heranging, spürte er auch irgendwelche Hilfe von wo anders her. So sehr hatte er diese Hilfe bis jetzt gespürt, daß er die schöne Kunst der Geometrie wohl mehr im Herzen denn in seinem Schädel trug und deshalb die Ergebnisse • leichter im Schlaf empfing “ oder zwischen seinen Gedanken her denn durch irgendwelche unentwegte Nachdenklichkeit. „Rechnen kann auch jeder Dummkopf“, sagte er zu sich, „sobald er nur ein Rechenbüchel daheim in der Truhe hat und die Ziffern gehörig exerziert, das Wegfinden aber ist ein Geschenk Gottes.“

Er ward aber sogleich über sich ärgerlich. Was er da redete, mochte für die vergangenen Jahre stimmen, vielleicht auch für manche Erkenntnis, die ihm daheim geworden war, eine, die in Oberperfuß, nicht aber in Innsbruck auf der Hohen Schule genügte, die man erwarten konnte eine Stunde und ein Jahr lang, die sich aber nicht einstellen wollte, wenn das Papier mit dem listigen Exempel vor einem lag, jeden Augenblick der Pater eintreten konnte, oder draußen im Hof die Schatten bereits länger wurden und immerhin die kranke Mutter daheim ihren Peter für den Abend erwartete.

Jetzt sind sie beim Rübenstupfen, dachte Peter. Nein, nicht sie, nur die Leni allein, bald es die Mutter erlaubt hat. Oder sie schauen von der Stube aus den Weg hinunter, die Leni geht auch ein Stück vor bis zur Poltenkapelle, noch weiter zum Petrusbündel, bis zur Urlaubkapelle hin. Er dachte an all diese örtlichkeiten wie einer, der schon ein Jahr von daheim fort ist und nun in einer Abendstund? an die Seinen denkt und voll Heimweh wird. Und plötzlich wußte er es auch: nur daheim zwischen den Kirschbäumen und Türkenfeldern kamen jene guten Gedanken. Die noch winterkalte, ärmliche Zelle war kein Platz für solche Gedanken Gottes.

, „Du hast dir das alles ja gewünscht“, sagte er laut zu sich, nur daß er seine Stimme wieder deutlich höre. Er sprang aber auf und schritt in der Zelle auf und nieder, trat auch an das Fenster heran, trug die Platte wieder ß.um Tisch hinüber und tat einen mächtigen Schluck, diesmal aber wie einer, der nun sein klares Denken nicht mehr braucht, der an kein Ende kommt, keinen Weg vor sich sieht, den er seine Gedanken laufen lassen kann.

Sobald Peter aber nun ernstlich an jeglicher Lösung der Frage zweifelte, stand auch das Ziel des Exempels klar vor ihm. Er setzte den Zirkel an und maß, er probierte den Kreis, ganz zart und ohne daß die Bleifeder des Zirkels das Blatt berührte. Und so gut war der Mittelpunkt des Kreises nun nicht verwischt, daß er ihn nicht nach einigen Proben wiederfand. Seine Augen hätten ihn kaum entdeckt, doch die Spitze des Zirkels, merkte ihn, da er sie leicht über das Papier tanzen ließ. Er zog schließlich den Kreis, und er stimmte haarscharf mit den beiden Restchen der Kreislinie überein. „Der Pater will wohl nur prüfen, ob ich als ein geschickter Mann meinen Vorteil wahrhaben kann“, sagte Peter erleichtert, „mehr kann er mit diesem Exempel nicht wollen und will er auch nicht.“

Er hatte aber den Kreis kaum zu Ende gezeichnet, da trat der Professor ein. „Ich habe eine kleine Atempause“, sagte er, „und will nur nachsehn, wie es meinem Studiosen ergeht. Er ist soeben fertig geworden, wie ich sehe.“

„Ja, ich bin soweit fertig geworden“, sagte Peter und reichte ihm die Blätter.

„Eine schönere Handschrift darf Er sich schon noch angewöhnen“, rief Herr von Weinhart aus, „die Schrift ist eine Gottesgabe wie die Rede, weiß Er das nicht? Eine noch edlere, will ich meinen: Ohne Rede könnten wir noch untereinander auskommen, sofern wir die Schrift besitzen. Doch darauf kommt es heute nicht an. Das erste Exempel ist gut gelöst. Nur schreib Er in Hinkunft A und B und C statt 1 und 2 und 3. Die Seiten bezeichne Er dann mit Kleinbuchstaben. Das ist eine einfache Sprache, die jeder Mathematikus sogleich begreift. Er hat wohl noch niemals ordentlich rechnen gelernt. Umso erfreulicher die richtige Lösung. Auch hier“, der Pater hielt bereits das zweite Blatt, „schreibe Er künftig statt des Wortes Radix oder Wurzel das mathematische Zeichen.“ Er malte das Wurzelzeichen mit dicken Bleifederstrichen an den Rand des Blattes. „Die Pi ist richtig geschrieben. Er hat also doch bereits rechnen gelernt und tut ftur so, als sei Er ein Anfänger. Unsere Schulbuben wissen sonst nicht um das Pi. Wozu tappt Er dann herum wie ein Pater Weinhart, der das erstemal in seinem Leben ein Feld bebauen will?“ setzte er mit lauter Stimme hinzu, „das verstehe ich am wenigsten unter all den Rätseln, die Er mir aufgibt.“

„Ein Soldat hat mir die Pi auf dem Weg hierher gezeigt.“

„Auch den pythagoreischen Lehrsatz?“

„Wie du das alles weißt“, sagte Peter.

„Das war so schwierig nicht zu erraten.“ Der Pater legte das zweite Blatt lachend auf den Tisah. „Und was hat Er diesem seltsamen Soldaten noch alles abgespickt, der da auf der Landstraße mit dem pythagoreischen Lehrsatz herumstreunt?“ Er wartete aber die Antwort nicht ab. „Das Radizieren vielleicht? Nein, das kann Er nicht, das sehe ich bereits. Aber angewendet ist auch das Pi gut, ausgezeichnet ist es angewendet.“

Peter hüpfte auf dem Stuhl, und was ihm jetzt die Röte ins Gesicht trieb, war nicht mehr Angst und Ärger. Des Paters Stirn aber bekam, da er nun das dritte Blatt betrachtete, mächtige Falten. „Wie ist Er zu diesem Kreis gelangt? Er hat wohl so lange herumprobiert, bis Er den alten Einsatzpunkt wiederfand. Was? Das tun nämlich auch die Herrn Studenten. Jeder Schafskopf trifft das. Ich habe eine exakte Arbeit verlangt. Weiß Er, was das heißt: exakt? In geometricis wird nicht probiert, sondern konstruiert. Er baut auch seine Scheune daheim nicht auf gut Glück, ob sie hält oder einstürzt, bald Er das Dach aufsetzt. In der edlen Geometria steht jeder Punkt so und nicht anders auf dem Papier. Und wie alles andere Geschehnis in der Welt seine guten Gründe hat, so gibt es in der Meßkunst keinen Strich ohne die exakteste Begründung. Eine schier göttliche Kunst ist die Geometria. Auch der Herr-gott hat die Welt und die Sterne und die Planeten nicht zufällig in den Himmel gesetzt„ wie einer etwa Weizenkörner den Hühnern vorwirft. Wer die Geometria betreibt, tut sich ein Fensterchen in Gottes heimliche Werkstatt auf. Merk Er das und acht “Er es, wenn Er ein Meßkünstler werden will. Also aufgepaßt: Er muß mir den Kreis noch einmal zeichnen, aber, dabei genau sagen, wie Er den Mittelpunkt gefunden hat. Nicht Er muß es mir erzählen, ein Anschwatzen gilt nicht, die Linien müssen es mirk sagen. Ohne ein Wort aus Seinem Munde muß ich sehen, wie Er zu Werke gegangen ist. Ist gar nicht so leicht für einen, der das Einmaleins noch nicht im kleinen Finger hat. Doch wenn Er es trifft . . .“ Der Pater führte den Satz nicht zu Ende, und Peter achtete auch in seiner Verwirrung nicht darauf. „Er nimmt also das Blatt mit heim und bringt es in vierzehn Tagen wieder. Vielleicht findet Er wieder einen ausgedienten mathematischen Soldaten auf der Landstraße. Capisce? Verstanden, Herr von Anich?“

„Ja“, sagte Peter und steckte das Blatt in sein Schreibbüchlein. „Und wenn ich auch dieses Exempel löse, dann darf ich wiederkommen?“

„Wenn Er es gelöst hat, soll und muß Er wiederkommen! Versteht Er, was das heißt? Ich will Ihm dann auch nicht einen Studenten beigeben, sondern einen richtigen Lehrer. Ich weiß mir schon einen, der mit Ihm umgehn kann. Mit dem Rechnen und der Geometrie allein ist es ja noch lange nicht getan. Auch die Trigonometrie braucht Er, die Mechanik und Mappierkunst, die Kalligraphie, die Zeichenkunst und später die Nadelkunst. Lauter verschlossene Tore vor dem Heiligtum, was? Aber Er hat sie aufzuschließen und hin-durchzugehn, will Er einst ein rechter Landmesser werden, ein Lehrbub vorerst in dieser hohen Kunst.“

„Beim Herrn von Sperges vielleicht?!“ Peter stand in Flammen.

Der Pater aber starrte ihn jetzt an. „Was weiß denn Er vom Herrn von Sperges?“ Peter berichtete nun, was er über den Freiherrn wußte und wie er diese seine Kenntnis erworben hatte. Der Pater lachte ein wenig, dann schnitt er ihm die Rede scharf ab: „Bekümmere Er sich jetzt nicht um Dinge, die Ihn nicht angehn. Man kann den Türken nicht ernten, ehe er nicht ausgereift ist. Das muß Er doch als Bauer wissen.“

Sie traten aber nun nebeneinander auf den Korridor hinaus. „Es ist spät geworden“, sagte der Pater, „schau Er, daß Er noch bei Tageslicht heimkommt und Seine Mutter nicht allzusehr ängstigt. Ich lasse sie grüßen.“ Am Fenster aber blieb er wiederum stehn. ,Eine Frage muß Er mir schon noch beantworten: Warum ist Er eigentlich nicht schon vor zehn Jahren zu mir gekommen?“ Auch das war aber mehr wieder nur zu sich selbst gefragt, denn der Pater drückte Peter rasch die Hand, nickte und verschwand in der nächsten Zelle.

Peter aber lief durch das Gesumm der abendlichen Straßen, als wäre er m Innsbruck längst daheim. Der Kräutler nächst der Ottoburg stand wiederum • vor seinem Laden. Er legte ihm den Tiegel mit der Salbe sauber verpackt vor und noch ein paar Zehner auf den Tisch. „Wenn du wiederkommst, sag mir, wie die Salbe geholfen hat“, sagte er. Peter nickte bloß, er hätte auch eine andere Rede oder Frage überhört. Um die Zehner aber erstand er im Laden daneben ein paar versilberte Knöpfe für die Leni. Dann lief er, so rasch das unter den vielen spazierenden Leuten nur anging, aus der Stadt.

Aber auch draußen, da er nun der schon tiefhängenden Sonne nacheilte, ward er seiner selbst nicht froh. Bald erschien ihm alles, was sich iiy Innsbruck begeben hatte, über die Maßen glückhaft, ja so wunderlich, wie er es auch als Bub niemals in seinen wildesten Träumen verhofft hatte, dann wieder bedrückte es ihn doch arg genug, daß er eine ungelöste Frage mit sich trug, daß eigentlich und streng genommen noch nichts entschieden war, ja daß er das scheinbar leichteste Exempel so schlecht getroffen hatte. Und war der Professor nicht zum Abschied knapper und zerfahrener und kälter geworden? Hatte er das alles nicht bloß dahergeredet, um ihn, den unmöglichen Schüler, rasch loszuwerden? Gereute es den gelehrten LIerrn nicht längst, daß er sich mit einem Bauernbuben eingelassen und an einen Nichtsnutz seine kostbare Zeit verschwendet hatte? Er hätte dann freilich nicht die Mutter schön grüßen lassen und ihn auf das bestimmteste wiederum nach Innsbruck entboten. Das hatte er getan, daran war nicht zu deuteln. Freilich bloß, wenn er den verflixten Kreis auf richtige Art und Weise gezeichnet hätte.

(Fortsetzung folgt)

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