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Peter Anich, der STERNSUCHER

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41. Fortsetzung

„Jeden Samstag arbeite ich beim Professor von Weinhart“, sagte Peter darauf, „man kann das auch eine Lehre nennen, wenn man will.“

Der Feldmesser aber verzog das Gesicht. „Beim Professor Weinhart also, seit wann bilden sich die Professoren Lehrbuben heran? Haben kein Patent, verstehen auch einen Schmarren davon. Überdies hab ich den Namen nur einmal gehört, mehr weiß ich nicht über den Mann.“

Dann schritt er rüstig voran. Der zweite Gehilfe mit dem Esel folgte, und am Ende kam Peter mit den Latten. An die hundert Buben und Burschen und Dirndeln aber schwärmten und lärmten neben und hinter dem gravitätischen Zuge her.

Als sie dann auf dem Acker ankamen, ward der Esel erleichtert, und der Feldmesser verteilte die Instrumente. Er selbst stellte sich hinter den Tisch, den einen Gehilfen hieß er die Meßruten handhaben und Peter schickte er mit der Meßlatte an den Punkt, der gemessen werden sollte. Das alles ging mit vielen Ermahrungen und mit großer Wichtigkeit vor sich. Immerhin gab es keinen Zwischenfall, außer daß Peter den Feldmesser aus der Ferne schlecht hörte, so schlecht, daß er selber erschrak. Aber dann war er doch neugierig, wie der Mann die Visuren nahm und mit dem Meßtische umging, umständlich Transporteur und Lineal handhabte und sich bald das horizontale, bald das vertikale Astrolabium reichen ließ, beides riesige hölzerne Istrumente, die ein Mann kaum erheben konnte. Zu dem mächtigen Mann mit der noch mächtigeren Perücke paßten sie nicht schlecht.

Nachdem sie eine Stunde lang gemessen hatten, ließ der Mann kein neues Instrument auflegen, sondern breitete ein schon vorbereitetes Papier über den Tisch, legte noch ein Tuch darüber und Speck und Brot auf das Tuch. Auch dem Gehilfen warf er anscheinend eine mächtige Schwarte und einen Ranken Brot zu. Peter stand noch immer bei seiner Latte. Er hatte in aller Eile das Frühstück daheim vergessen.

Eine Weile stand er noch, doch als ihm die Kälte schon bis zu den Knien stieg und die Buben längst über ihn lachten, nahm er die Latte und ging gleichfalls zum Meßtisch zurück. Er betrachtete prüfend die herumliegenden Instrumente und hob schließlich ein der Qqadranten auf.

„Laß tr das, zum Teufel!“ herrschte ihn der Feldmesser an. „Wenn Er mir das In-strumententum ruiniert, kann ich warten, bis ich ein neues aus Nürnberg bekomm.“

„In einem halben Tag mach ich dir ein neues“, sagte Peter, mehr treuherzig denn herausfordernd, „ein Astrolabium, das man für vertikal und horizontal gebrauchen kann, auch um die Hälfte kleiner und ein Viertel an Gewicht und dabei bis auf den halben Strich unterteilt, drehbar in einer eichenen Kugel.“ Dem Geometer blieb vor Schrecken der Bissen stecken. Erst als die Buben rundum laut lachten, entsann er sich seiner Würde.

„Das Maul haben sie ihm an der hohen Schule nicht übel geschliffen“, sagte er, zu der Menge gewendet, „ihr habt da einen Wundermann im Dorf. Ich beglückwünsche euch, und wenn er's besser versteht als ich, dann soll er's auf der Stelle seigeh, der Herr — Anich.“ Und im Nu war das Tischlein abgeräumt, der Gehilfe stopfte noch einen Bissen in den Mund und rannte mit der Latte ins Feld hinein. Der Meßkünstler aber sagte: „Bitte, Herr Anich“, und zeigte auf den verkrüppelten Birnbaum, dessen Abstand vom Tisch gemessen werden sollte. Peter trat an den Tisch heran.

Ehe er aber den Quadranten noch rechtschaffen ausgerichtet hatte, schoß der Alte wie ein Habicht auf ihn zu und entriß ihm das Instrument. „Verkehrt hat er es aufgelegt, der Herr Professor“, schrie er und schwenkte es wahrhaftig verkehrt über den Köpfen der Buben, „der Mann hat einen Quadranten noch nicht einmal in seinem Leben gesehn.“

„Einen solchen' hab ich auch noch nie gesehn“, sagte Peter und schritt geradewegs auf die johlenden Leute zu. Sie wichen zur Seite.

Auf dem Heimweg, am Petrusbründel, verschnaufte Peter ein wenig. Es ward ihm auch, als er die zierliche Figur seines Patrons erblickte, wieder leichter ums Herz. Und plötzlich wußte er, wie er die Sterne auf die Kugel brachte. Ganz klar und sicher und einfach stand es vor seinen Augen: Ich male einfach das Holz an, das feine, das glatte, das herrliche, spiegelblanke Holz. Die Sterne reiß ich mit der Feder, die Sternbilder mit der Nadel, ganz zart müssen sie sein, wie im Nebel der Sterne. Dann wird die ganze Malerei mit Lack überzogen. Ich male einfach das Holz an, das glatte, das feine ... Er konnte es sich wie ein Lied mit unendlich vielen Strophen vorsingen, es ward immer richtiger, immer schöner, immer einfacher.

Erst als sie ihm daheim erwartungsvoll entgegenblickten, erinnerte Peter sich des schrecklichen Geschehnisses. Er sagte aber bloß, er sei nun fertig und heimgeschickt, er tauge auch nicht zum Feldmesser, das habe sich klar erwiesen und vor aller Augen. Dann ging er in seine Kammer und schloß sich ein. Er hatte auch noch drei langwierige stereometrische Aufgaben zu berechnen, und das war gut, denn der nächste Tag war ein Samstag, und das war noch besser.

In der Nacht fiel der erste tiefe Schnee.

„Bald der Schlitten richtig geht, werd ich einmal nach Oberperfuß kommen“, sagte der Professor mitten über einer Rechnung.

Das erschreckte aber Peter mehr als die Geschichte mit dem Feldmesser. „Bald der Schnee richtig liegen bleibt“, sagte er langsam. „Im Jänner oder besser im Februar, und wenn daheim alles wieder in Ordnung ist, ich mein, daß es dir auch bei uns gefallen wird, wo du doch das erstemal kommst.“ Und nach einer Weile: „Hat leicht der Herr Kurat mit dir geredet?“

Der Pater lachte. Nein, der Kurat habe nicht mit ihm geredet, er habe ihn bloß mit einem Brieflein eingeladen, aber solche Einladungen seien ja nichts Besonderes, und es gehe dabei keineswegs bloß um den Peter. Doch wenn ihm sein Besuch noch nicht willkommen sei, wolle er es lieber bleiben lassen.

„Ach Gott“, sagte Peter nun völlig verwirrt, „ich will doch nur, daß du dann schon die Kugel fertig siehst.“

So habe er es auch aufgefaßt, sagte Herr von Weinhart, aber das sei doch wohl weder bis Januar noch bis zum Feber der Fall und auch nur möglich. So rasch arbeite auch kein Peter und nicht einmal ohne den Professor, der ja am Ende überhaupt nur mehr ein Hemmnis darstelle.

Die Stimmung schien Peter für Fragen güastig, und er hatte sich allerlei vorgenommen. Zuvörderst, ob Herr von Weinhart nicht sehr gute, haltbare und leicht auf Holz zu gebrauchende Farben wisse, wo man sie bekäme oder wie man sie selber anreiben müsse.

Da legte ihm der Professor ein funkelnagelneues Büchlein auf den Tisch. Es war erst anno dreiundfünfzig zu Zittau gedruckt und enthielt, wie der umständliche Titel besagte, „sehr geheimnisgehaltene und nunmehr neu entdeckte und experimentierte Kunststücke, die schönsten und rarsten Farben zu verfertigen, Gummi-, Copal-, Glanz-, Lack-und Holzfarben“; auch die Vergoldung und Versilberung war in dem Büchlein beschrieben, für Glas und Porzellan und Holz und Stein, aber auch etliche Chemistenexperi-mente und -handgriffe waren den Neugierigen verheißen.

Diesmal blieb Peter nicht einmal über Mittag. In einer kleinen Wirtschaft las er das Büchlein vom Anfang bis zum Ende durch, dann kaufte er um alles Geld, das er bei sich trug, unter den Lauben die nötigen Erden- und Planzenfarben, sehr viel Ocker und schwarzen Ruß, auch die Firnisse dazu und Lack und Spiritus. Selbst drei Silberknöpfe ließ er zum Pfand.

Als er heimkam, betrübte es ihn auch nicht mehr, daß der Erhardt mittlerweile haarklein alles erfahren hatte, wie es mit dem Feldmesser zugegangen war.

Auch Leni redete nkht mehr darüber. Es war nämlich am Vormittag ein Bote aus Gries durchgekommen und hatte einen' Gruß von der Eglauerin überbracht. Ihr Mann sei durch einen stürzenden Baum schwer getroffen worden und liege auf den Tod krank daheim, und ob denn der Peter ihre frühere Botschaft nicht erhalten habe oder ob er wirklich auf die kunstvolle Standuhr vergessen habe.

„Du gehst am besten gleich morgen hinauf“, sagte Leni, „jetzt ist der Schnee noch leichter als nach Weihnachten. Im Stich lassen darfst du sie jezt nicht, auch ist es gut, wenn du ein bißchen hinauskommst.“

„Wenn ich morgen lieber in Sellrain in die Meß geh als in Perfuß“, sagte Peter, „das meinst du doch. Auch kann ich oben nach den Dienstboten schaun.“

Peter hatte den Eglauerbauern noch nie gesehn, doch da er ihn schweratmend vor sich liegen sah und daran dachte, wie dieser großgewachsene Mann bis vor drei Tagen noch in seinem Haus als der Vater und Herr umgegangen war und nun mit zerschlagenem Kreuz auf den Tod wartete, ja nicht einmal mehr stöhnen konnte, da ward ihm recht elend ums Herz. Ja, er sah sich selber daliegen und den Globus neben sich, häßlich in seiner Halbheit, ein lächerliches Spielzeug.

In der Stube saß er dann lange allein. Er ärgerte sich, daß er der Vroni nicht ein einziges Wort des Trostes gesagt hatte. Nur an sich hatte er gedacht und daß er, wenn der Tod ihn antrat, nicht einmal ein Dirndl oder einen Buben auf der Welt zurückließ, nicht seinen Namen. Erst als er das Schreibbüchlein auf den Tisch legte, zwang er seine Gedanken wieder. Er begann auch sogleich zu zeichnen, nur daß er etwas tat. Jeder Strich, jede Maßzahl, jeder Buchstab vertrieb den Tod, auch die Scheu vor dem Tode. Der Meßtisch des Geometers fiel ihm wiederum ein, weniger der Tisch als die sehr umständliche Gestalt des Tischfußes. Diese vier schön gedrechselten, mit Querlatten untereinander verbundenen Beine. Für den Feldmesser ein höchst ungeeignetes Ding, für eine Himmelskugel ein gar herrliches Gestell. Er brauchte bloß auf dem Kreuzungspunkt der beiden Querhölzer eine kleine Halbkugel aufsetzen. Darin stak dann die eiserne Achse. Auf den Füßen aber saß der mächtige Horizont.

Einen wahren Leichtsinn schalt er sich, daß er das Gestell bisher überhaupt noch nicht bedacht hatte. So als ob die Kugel wirklich von einer geheimnisvollen Kraft hätte im Raum sdiweben können. Die Kugel selbst ward freilich durch das Gestell nicht besser. Ist auch bloß das irdische Gehaus um das himmlische Ding, sagte er vor sich hin.

Als er aber sich erhob und auf die Standuhr zuschritt, kam die Vroni aus der Krankenstube. Sie ging um den Tisch herum und besah die Zeichnung. Ob das wieder eine neuartige Uhr werde, fragte sie.

„Eine Himmelskugel. Aber du hast recht“, setzte Peter rasch hinzu, „eine rechtschaffene, eine irdische Uhr gehört auch auf das Gestell. Wie soll man sonst die rechte Zeit wissen?“

„Eine Himmelskugel samt dem Mond und den Sternen“, die junge Bäuerin sdilug die Hände zusammen, „was der Peter alles unternimmt! Dein Vater hat Kegelkugeln gedrechselt, und ein anderer versteht sich auf solche feine Uhren, aber an die Stern hat sich, denk ich, noch kein Bauer gewagt.“

„Manchmal komm ich mir auch schier hoffärtig vor“, sagte Peter leise, „gar an einem Tag wie dem heutigen.“

Sie blickte ihn lange an, dann aber fragte sie rasch, wie es der Anichmutter ergehe und den Schwestern, ob sie schon wüßten, wohin dk Marie wieder entlaufen sei, und wie der

Türken im letzten Jahr gediehen sei und das Vieh. Peter antwortete auf alle Fragen, dann aber sprach er von den Dienstboten. Vielleicht wisse sie arme Häuslerleute in Gries, die gern ihren Kindern einen angenehmen Dienst verschafften, Eine solche Hilfe habe man ja daheim seit dem Weggang der Marie nötiger denn je, und wenn die Leni heirate, stehe er völlig allein in der Welt samt der kranken Mutter. Ja, er fürchte, die Leni werde nicht ehender heiraten, bis sie nicht tüchtige Leute im Anidihause wisse.

„Auch die Leni kann nicht allein alles Glück einheimsen“, sagte Vroni.

Peter begriff nicht, was sie unter allem Glück meine. Er war aber still und erinnerte sie noch einmal an die Dienstboten. Es sei ihm sehr peinlich, daß er heute von diesen Dingen rede, setzte er hinzu, und ihr noch Mühe machen müsse. Aber er brauche doch nur die Namen von einigen jungen Leuten, aufsuchen wolle er sie schon selber. Sie aber lachte jetzt sogar ein wenig und rief die beiden Kinder in die Stube und hieß den Peter auf den Zanglhof laufen und den Karl herbeiholen, das Vronele aber die Hafner-Marie. Diese sei das mittlere von sechs Dirndln und ganz armer Leute Kind, der Karl aber, ein angenommenes Waisenkind, wünsche sich längst ins Inntal hinaus.

Wie gut sich das „Vronele“ neben dem „Peter“ und das „Peter“ neben dem „Vronele“ anhört, dadite der Anichbauer. Er entsann sich aber noch rechtzeitig des nebenan sterbenden Mannes, dachte an das Wort von allzu großem Glück, und schwieg. Die junge Bäuerin bat ihn, er möge sich indes ein wenig um die alte Uhr bekümmern, während sie noch dem Kranken Umschläge mache. Seit die Uhr stehe, sei ja kein wahres Glück mehr im Haus. „Auf ein Glück wart ich ja nicht mehr, aber wenn einer das Unglück leichter trägt, heißt das auch schon viel. Und dazu kannst du mir verhelfen, Peter.“

Peter hatte bloß seinen Taschenfeitel bei sich, und es dauerte geraume Zeit, bis er das Zifferblatt losgelöst hatte. Doch wenn er die Räderwirrnis jetzt auch anders ansah als noch vor zehn Jahren, hinter das Geheimnis der kunstvoll gefügten Uhr kam er nicht. Allzu viele Gedanken liefen ihm in die Quer. Erst als er dann wieder sein Schreibbüchlein zur Hand nahm und bald, unversehens schön an das Gestell und an den Horizontkreis gefügt, ein richtiges kleines Zifferblatt ihn anblickte, war er wieder völlig bei sich. Diese Uhr, das war ihm jetzt klar, sollte auch nicht bloß die richtige Stunde anzeigen, sie mußte gleichzeitig — wozu sonst war sie da? — den Globus um seine Achse drehn, in vierundzwanzig Stunden einmal rundherum. Wie die Uhr das alles leisten sollte, war ihm noch höchst unklar; wenn eines ihrer Räder in eine Zahnstange griff, die innen am Horizont umlief, konnte das soweit nicht gefehlt sein. Wenn er dazu noch hinter das Geheimnis der alten Standuhr kam, wie sie die Mondphasen im rechten Gleichmaß anzeigte und den Stand der Sonne im Tierkrei, und wenn es ihm gelang, den Mechanismus dieser Räder auf den Globus zu übertragen und dem der allgemeinen Uhr einzuschalten, dann gab es gewiß auch in Nürnberg oder irgendwo in der Welt keine künstlichere Himmelskugel. Peter verwunderte sich dann bloß, daß das Vronele mit einem fremden Mädchen und der Peter mit einem fremden hochgewachsenen Burschen plötzlich in der Stube standen und etwas von ihm haben wollten, so sehr hatte er über all diesen herrlichen Gedanken selbst auf die Dienstboten vergessen.

Dann aber gefielen sie ihm, und er redete mit ihnen alles für Lichtmeß ab, wie ein rechter Bauer, auch das Drangeid zählte er jedem auf den Tisch. Die Bäurin kam dazu. Sie pries den Anidihof und die Leute in ihm und redete von Oberperfuß wie von einem gesegneten Land, in dem der Türken reife und das süßeste Obst. Aber solcher Zuspruch war nicht mehr nötig. Den beiden jungen Leute gefiel der Bauer, und wohl ebenso gut, wenn nicht noch mehr, gefielen sie einander

(Fortsetzung folgt)

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