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Peter Rosegger — heute

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Was bleibt von Peter Rosegger? Selbstverständlich seine Erzählungen, soweit sie uns in der Kindheit nicht durch Zwangslektüre entfremdet wurden, sein Platz in der Literaturgeschichte, das selten wiederkehrende Phänomen einer primären Begabung, ein steiermärkischer Mythos allenfalls.

Was aber bleibt von Roseggers Waldheimat, diesem auf Landkarten vage vermerkten Begriff, mit dem zahlreiche Orte der näheren und weiteren Umgebung prunken? Orte, in denen zur nicht geringen Verwirrung des Fremdlings, jedes zweite Wirtshausschild sich des Dichternamens bemächtigt hat, ohne dabei ausreichende Hinweise und Auskünfte darüber liefern zu können, wie am besten und zielgerechtesten die zentralen geographischen Punkte, die irdische Mitte einer in der Luft herumflatternden Mythologie anzusteuern sind. Kurz und gut: wer, von Wien kommend, das Alpl erklommen hat, findet eine Tafel und eine Abzweigung von der Hauptstraße; Urlauber aber, die sich aus dem Innern der Oststeiermark nähern, sind nahezu verloren und die Antworten der Einheimischen auf einschlägige Fragen recht verschwommen: Mythos bleibe Mythos, Wirtshaus aber bleibe Wirtshaus — im totalen Mißverstehen dessen, was real ist und was nicht. (Irreal ist nämlich auch die Annahme der steirischen Wirtshäuser, Bier und enorme Fleischportionen, ohne besondere Vor- und Nachspeise, auf konventionell-österreichische Art verkocht, wären imstande, zahlungskräftiges Großstadtpublikum anzuziehen, statt es zu verscheuchen, was der Fall ist.) Zurück zur Mythologie: ihren geographischen Kern zu finden, gelingt auch Motorisierten bei einiger Beharrlichkeit, Erfahrung und List, eine gepflegte Zufahrt senkt sich gemächlich durch parkartige Wälder in ein Wiesental. Dann aber hat man, mangels eines Hinweises, Roseggers Waldschule zur Linken übersehen, da kleine Stoßtrupps einheimischer Pilger sich nach rechts wandten, wo es ein mehrmals angekündigtes Wildgehege (wie anderswo auch) zu bewundern gibt. Dabei wäre die Waldschule, im Stil der Jahrhundertwende erbaut und sozusagen irrtümlich vom Semmering hierher verschlagen, ein Schauobjekt ersten Ranges für Jugendstilfanatiker (von deren Existenz man in dieser Gegend noch nichts zu ahnen scheint). Das damals anbrechende „Jahrhundert des Kindes“ hinterließ ein helles, heute noch modern anmutendes Klassenzimmer. Unter Glas findet sich dort der Widmungsbrief des Dichters — er allein könne allerdings nicht den ganzen erforderlichen Betrag für die Errichtung der Schule aufbringen, bekennt er, und es gehe ihm vor allem darum, daß die Bevölkerung mit seinen Plänen auch wirklich einverstanden sei. — Zur Rechten des Katheders, seit einigen Jahren erst, der Stammbaum der Rosegger: er reicht zurück bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und endet vorläufig mit den in Amerika geborenen Nachfahren des Hauptstamms. Nebenlinien verzweigen sich in Österreich.

Das Wildgehege rechts liegen zu lassen und den Weg auf gut Glück fortzusetzen, erweist sich als richtig. Endlich eine Hinweistafel und ein Schlagbaum, der Anstieg zum Geburtshaus beginnt. Nichts gegen Fußwanderungen, aber die „Roseg-ger-Gedenkweg“ pietätvoll getaufte unbefahrbare Fahrstraße, die zwei Autos der Mittelklasse Platz zum Ausweichen böte, deren steile Haarnadelkehren aber bestenfalls von einem Jeep bewältigt werden könnten, gehört wohl zum Unbeholfensten, was dieses gegenüber dem internationalen Standard so seltsam unbeholfene Land in jüngerer Zeit hervorgebracht hat. Aufwärts denn, inmitten eines Zauberwaldes, und dennoch in Hitze und Staub! Freilich — der Schweiß wird belohnt, der geheiligte Bezirk rund um das Geburtshaus, mit seiner Stille, seiner Fernsicht, seiner bestürzenden Schlichtheit übertrifft jede Erwartung. (Aber warum nicht Hinweistafeln, an der Bundesstraße beginnend, warum keine Auffahrt und kein Parkplatz in gebührendem Lärm- und Respektabstand, warum so wenig Stolz auf ein österreichisches Faktum, das aller Welt vertraut sein sollte?) Hier also. Die exaltierten Verse des penetrant teutschen Ottokar Kernstock über der niedrigen Tür vergißt man so rasch wie möglich, aber dies eben ist die Tür, die Stube, der Tisch, das Bett der Eltern, die Rauchkuchl, der Ofenschluf, in dem der kleine Peter mit dem Knecht heimlich dem Kartenspiel gefrönt hat — dies ist der Getreidekasten und die Wiese, die nahen Bäume, der Wald. Nichts ist Mache, alles ist ärmlich, anspruchslos, daher vollkommen. Das Bild des Vaters und der Mutter im Vorraum; das Bild des Schneidermeisters, zu dem Peter in die Lehre ging; zwei Kinderzeichnungen Peters; und wieder der Stammbaum.

Man hat in den zwanziger Jahren die Reste des verlassenen Hauses — Peters Vater hatte ja abgewirtschaftet und war fortgezogen — gerettet und hat vom Mobiliar zusammengetragen, was noch zu finden war. Und das genügt, und es war eine ehrenvolle Tat.

Zurück also und hinab, diesmal, unter Vermeidung der unbefahrbaren Fahrstraße, quer durch die Wiese und quer durch den Wald, der sich seit der Jahrhundertwende ganz offenbar bemüht hat, das Zeitkolorit zu wahren — denn es läßt sich nicht leugnen: da gibt es Unterholz und Lichtungen mit Farnkraut und Schachtelhalmen, mit Sonnehstrahlen, Farbpunkten und strotzenden Blumen im unverfälschtesten Jugendstil und dieser ganze Heimatwald hätte rechtens von Gustav Mahler vertont werden sollen im Dritten Satz irgendeiner seiner kosmischen Symphonien. Nicht nur in Wort und Klang, auch in die sehr handfeste Realität des Alltags ließe sich der um die Waldheimat schwirrende Mythos Roseggers umsetzen, wie so viele andere steirische Mythen, die alle recht gewaltig sind wie etwa der Mythos vom Erzherzog Johann, die aber in Gefahr stehen, zu erstarren, verträumt zu werden und vertan, vergessen zu werden, wenn keiner die Entschwebenden einfängt und einpflanzt in das lebendige Heute.

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