6614344-1955_22_01.jpg
Digital In Arbeit

PFINGSTGEIST1955

Werbung
Werbung
Werbung

Sic lebten in der Angst. In der Angst vor ihrer Umwelt, vor der Zeit, vor all dem, was da um sie herum geschah, grausam, wirr, ohne erkennbaren guten Sinn. Im Grunde hatten sie Angst vor sich selbst: was waren sie selbst für Menschen? Waren sie nicht Narren gewesen, auf die mit Recht die kleinen Kinder in den schmutzigen, heißen Straßen mit dem Finger zeigten: Schaut her, da kommt wieder einer von denen! Diese Narren, diese Träumer, die einem Hirngespinst ihres Herzens nachliefen, als wäre es etwas Wirkliches, als wäre es die größte Macht und Wirklichkeit dieser Erde,

Die „Unentwegten“, wie sie von der Masse der Enttäuschten genannt wurden, waren selbst alles andere als unentwegt. Sie waren verzagt und in großer Angst. In Angst vor dem Haß der Masse, hinter der das schlechte Gewissen des hohen Klerus stand, dem ein Opfer immer noch nicht genug schien, als Blitzableiter, um die Armut und Not und die Enttäuschung der breiten Massen zu befriedigen. Nun also waren sie an der Reihe,, die „Unentwegten“. Sie, die im Grunde nicht wußten, was sie tun sollten. War nicht doch alles nur eine Illusion gewesen? Sie hatten Angst. Am meisten vor sich selber. Vor ihrem eigenen Unglauben und Unwissen. Was sollten sie denn nun wirklich tun? Gegen diese Uebermacht? Gegen die Armee der Besatzungsmacht und gegen die Wut der eigenen Volksgenossen? Es war doch alles vergeblich. Sie hatten sich übernommen, sie hatten den Mund zu voll genommen, weil ihr Herz, das leicht erregbare, übergelaufen war unter dem Anhieb des seltsamen Mannes. Wer aber war Er, den das Volk da aufhängen ließ am Schandgalgen? Wer wagte jetzt noch zu sagen, wer Er war? — Selbst jene verstummten verlegen, die Ihn, wie sie sagten, Ihn doch noch ein und das andere Mal hier und dort gesehen hatten. Hatten diese Erscheinungen einen Sinn? Waren sie nicht nur Visionen, wie sie überall in dieser Zeit in allen Städten rund um das Mittelmeer und in all- den geheimen Klubs und Mysterienveranstaltungen üblich waren seit langer Zeit? Was hatten sie für einen Sinn? Die Welt wurde durch sie nicht verändert. Wenn, wie da einer seiner intimsten Freunde erzählte, Er ihm und einigen anderen soeben erschienen war, ja sogar mit ihnen gespeist hatte, so änderte das nicht den Marschtritt der fremden Truppen zur selben Stunde; die Weiber ließen das Zanken nicht, das kleine Kind starb hoffnungslos, wie eh und je erbärmlich. Die Wucherer ermäßigten ihre Zinsen nicht, und die junge, hübsche Frau ließ nicht ab vom Ehebruch. Eine scheußliche, eine erbärmliche Welt. Trotzig und herausfordernd stieg der Hahnenschrei in die glasklare harte Luft des Morgens. Die Berge schnitten kahl und scharf ihre Kämme in den leeren Himmel hinein.

Da war nichts zu ändern. Die Welt wandelte sich nicht. Wie hätte sie es auch sollen, wenn es Ihm selbst nicht gelungen war; nicht einmal durch Seinen Tod. Verklungen war der Donner und das Erdbeben. Wohl zeigte man sich noch da und dort einige Risse in Felsen. Das änderte aber nichts an der Sache. Die Natur blieb wie sie war, hart, unverständlich und brutal. Und der Mensch blieb, wie er war, unberechenbar, unnatürlich und oft noch viel härter und brutaler als die Natur. Die Welt hatte sich nicht geändert. Und sie wird sich auch nicht ändern bis in die letzten grauer Fernen, in denen, vielleicht, ein schrecklicher Untergang mit Weltbrand, Feuersbrunst und Ueberschwemmung dem all ein Ende bereiten würde. Ein Ende, aber keine Aenderung zum Bessern. Keine Wandlung. Keine Verwandlung.

Am liebsten verkrochen sie sich in sich selbst. In ihr Grübeln, in ihr Träumen. Schön war es doch gewesen. Sehr schön sogar, je länger sie darüber nachdachten. Das aber war alles vorbei. Und würde hie mehr wiederkommen.

Einen Brauch behielten sie immerhin noch bei, von früher her. Sie kamen zusammen an den üblichen Festtagen ihres Volkes, um zu beten, zu essen und zu trinken. Und, natürlich, um von früher zu sprechen.

Sie kamen zusammen in ihrer Angst. Als Gefangene ihrer Angst, ihrer Enge, ihrer Ausweglosigkeit. Schweigend sahen sie zu, wie einer von ihnen die Türen verriegelte, von innen. Sie sagten selbst, laut es aussprechend, daß alles geschähe „aus Furcht vor den Juden“; Gewiß. Größer aber war die Furcht vor sich selbst. Wie sollte, das alles weitergehen? Sie waren rettungslos geschlagen.

Und dann geschah es. Ueber sie kam die große Flut. Flammen fuhren über sie, zerbrachen ihre Angst, zerbrachen ihr ichversponnenes Spinnen und Sinnieren, lösten ihre Zungen, brachen ihre Enge und Angst. So sehr, so stark und so schnell, daß sie gar nicht schnell genug die Türen entriegeln, hinauslaufen und hinausgehen und den Brüdern melden konnten, was ihnen widerfahren war. Die große Flut der Flammen hatte ihre Angst gebrochen, hatte sie zu freien Menschen gemacht. Zu frohen Männern und Frauen. Zu Freien.

Als sie nun zu sprechen anfingen, zu den Menschen, die sich nicht geändert hatten, und in der Welt, die sich nicht gewandelt hatte — immer noch lag der Schmutz auf den Straßen, klebte an den Mauern das Blut und der Schweiß, in dunklen Flecken, dieses und jenes armen Sklaven, dieser und jener Geschändeten —, da erschraken sie noch einmal. Sie selbst hatten es zunächst gar nicht gemerkt: sie sprachen in fremden Sprachen. Jeder verstand sie. Die Ueberwindung der Angst hatte ihren Leib und ihr Wesen so weit geöffnet, daß sie offen waren für alle, die da waren. Und nun erschraken sie noch einmal. Nun aber erschraken gerade die Besten von ihnen am allermeisten. Und am allermeisten von ihnen Petrus. Als er da nämlich zum Volke sprach, „in jenen Tagen“ der Großen Flut, bemerkten er und seine Freunde plötzlich, daß diese Flut nicht nur über die umstehenden Juden kam, sondern auch über die ■ganz anderen; über die Menschen, mit denen kein anständiger, kein gläubiger Mensch sprach, mit denen er nur notgedrungen etwas tat. Ueber die Heiden. Ueber die Heiden kam mit der Heilige Geist. Da erschrak Petrus aufs tiefste in seinem Herzen. Nun konnte es kein Zurück mehr geben: mit diesen Ganz-Anderen war das Gespräch aufzunehmen, eine Lebensgemeinschaft zu eröffnen — schrecklich, furchtbar, niemand kann wissen, wohin das noch führen wird, in den kommenden Tagen, Jahren, Jahrhunderten, Jahrtausenden (bis heute weiß niemand in der Kirche und niemand außer der Kirche, wohin das tatsächlich führen wird). „Während Petrus so sprach, kam plötzlich der Heilige Geist über alle Zuhörer. Da gerieten die gläubigen Juden, die mit Petrus gekommen waren, in Staunen, daß auch über die Heiden die Gnade des Heiligen Geistes ausgegossen werde; denn sie hörten sie in Sprachen reden und Gott verherrlichen. Da nahm Petrus das Wort und sprach: .Kann wohl jemand denen das Wasser der Taufe versagen, die wie wir den Heiligen Geist empfangen haben?' Er ließ sie also taufen im Namen des Herrn Jesus Christus“ (Apostelgesch. 10, 42 ff.).

In dieser Stunde, in diesen ersten Pfingst-tagen wurde eine kleine Gruppe schwacher, enger und ängstlicher Menschen, eine Sekte von Sichselbstwollenden, verwandelt in die Zelle, in das Saatgut einer erneuerten Menschheit. Aus den engen Einzelnen wurde ein Leib, eine Lebens- und Todesgemeinschaft: die Kirche.

Pfingstgeist 1955. Kein Christ, kein nüchterner Mensch wird glauben, daß die Ereignisse dieser Tage und Wochen bereits das Große Pfingsten der Menschheit seien: daß also die Menschen, nachdem . sie seit Jahrtausenden, seit dem Turmbau zu Babel, der ja täglich neu versucht wird, eben weil er eine so echte und so große Versuchung darstellt, verschiedene Sprachen sprechen, und das heißt, sehr verschiedenen und sehr gegensätzlichen Sinnes sind, nunmehr einer Sprache und eines Sinnes geworden sind. Sektierer aller Art, gerade auch politische Sektierer, hatten in den letzten Jahrzehnten und im Jahrzehnt ab 1945 immer wieder versucht, alle Menschen auf eine gemeinsame Sprache einen zu können am „runden Tisch“, und waren zutiefst enttäuscht, feststellen zu müssen, daß diese roten, gelben, schwarzen und weißen Menschen keineswegs eine gemeinsame Sprache sprachen, obwohl sie oft mit erstaunlicher Geschicklichkeit dieselben äußeren Vokabel benutzten: „Freiheit“, „Gleichheit“, „Fortschritt“, „Frieden“, „Demokratie“, „Befreiung“... — Aus dieser Enttäuschung wuchs dann jene Angst, jenes Ressentiment, das die Weltpolitik in den letzten Jahren so verfahren gestaltete, in immer neue Engpässe und gefährliche falsche Alternativen hineintrieb, so daß auch viele Wohlmeinende glaubten, es gäbe nur die beiden Möglichkeiten: Appeasement, letztlich Uebergabe oder Atombombenpolitik.— Man hauste sich also ein im eigenen Getto — dieses konnte äußerlich riesengroß sein —, in Angst vor dem großen Gegner, in Angst vor der eigenen Unsicherheit und Ausweglosigkeit. Weil man nicht daran glauben konnte, daß man mit sehr Andersartigen, mit Anderssprachigen, mit vielen Gegnern zu einem gewissen Zusammenarbeiten kommen könne. Seit etwa 19448 begann man sich also einzumauern und befolg eine Politik der Angst und Enge; eise Frestigepolitik. Eine Politik der Monologe und der Ideologien.

Nun ist die Weltpolitik in Bewegung geraten. Das heißt nicht, daß die Menschen bereits sich geändert haben und daß die Welt sich gewandelt hat. Es bleiben viele der großen und der größten Gegensätze und Gegnerschaften. So aber war es auch in den Tagen des ersten Pfingstfestes. Die Apostel und Jünger Jesu traten hinaus in eine Welt und eine Menschheit, die in breitesten Beziigen so blieb wie in allen Stunden vor der ersten Großen Flut des Heiligen Geistes. Die Jünger Jesu selbst blieben bis auf den heutigen Tag in vielen Bereichen ihrer Persönlichkeit die Menschen, die sie von Haus aus waren; eng und engherzig, beschränkt und wankelmütig, schwach und sündig, wie eh und je Menschen sind. Eben diese schwachen Menschen aber gingen nun hinaus, um die Menschen und die Welt zu wandeln. Dieser Gang in die Welt und in die Geschichte hinein führte zunächst sie und ihre Nachfolger zur Nachfolge; zu allen Toden, die Menschen einander bereiten können. — Das Wesenhafte und Wesentliche des ersten Pfingstfestes und aller Pfingstfeste, die sich zu seiner Gegenwart bekennen, bestarid und besteht also nicht in einer zauberhaften Verwandlung der Welt und der Menschen: es beginnt mit der Flammenflut über der ersten pfingst-lichen Gemeinde nicht ein Paradies auf Erden. Es beginnt aber etwas anderes: die Brechung der großen Angst. Der Angst, die immer wieder den Menschen umlauert und verführt: zur Flucht nach vorne und rückwärts, zur Flucht in den Tod, in den Krieg, in den Selbstmord. Wie vielfältig sind die Formen, die verdeckten Formen des Selbstmordes in unserer heutigen Welt! Aus Angst vor Krieg, vor Krankheit, vor dem Partner, immer wieder vor sich selbst, vor der eigenen Existenzschwäche, fliehen die Menschen in den Tod. Die Politik der Einschüchterung, die Propaganda der Verteufelung, des Terrors, der Denunziation ist nur eine der Formen dieses verdeckten Selbstmordes. — Nun hat mit den ersten Pfingsten die Brechung der großen Angst begonnen: Petrus und die Apostel traten heraus aus sich selbst, aus den engen Mauern ihres Ichs, und wagten, sich zu geben an die ganz anderen. An diese Parther, Meder, Aelamiter und Bewohner von Mesopotamien, von Judä'a, Kapadozien, Pontus und Asien, von Phrygien und Pamphilien, von Aegypten und den Gegenden Lybiens und der Cyrene, diese Römer, Kreter und Araber... ; diese Heiden.

Glauben wir wirklich, daß die vielen hier im Bericht der Apostelgeschichte genannten Völker und Menschen der Ostwelt damals weniger anders waren als heute? Weniger anders als die ersten Christen und die ersten Westler? Und sie sind anders geblieben. Und werden anders bleiben. Nicht darin besteht nämlich das Pfingst-wunder und der Pfingstgeist: so als ob diese Menschen plötzlich einstimmig geworden wären, chloroformiert, narkotisiert, gleichgeschaltet durch den Pfingstgeist. Seine Kraft, seine Wirkung zeigt sich in etwas ganz anderem: sie bricht die Angst vor dem anderen, läßt diesen erstmalig ersehen in seinem Anderssein und gibt dem Zeugen der Liebe und des Heiligen Geistes die Kraft, ihn anzunehmen und sich ihm zu eröffnen. Mit ihm zu sprechen, seine Sprache zu verstehen.

Verstehen wir es also recht, die Hoffnung dieser Pfingsten von 195 5. Die Verpflichtung dieser Pfingsten. Weit ist noch der Weg der Menschheit zu den Großen Pfingsten. So weit-und lang wie der Gang der Weltgeschichte bis zu ihrem Ende. Mitten auf diesem Wege aber liegt dieses Pfingsten von 1955, in dessen zeitlichem Umkreis es eine in allen Völlcern wachsende unsichtbare Gemeinde von Menschen wagt, den Bann der Angst, des Hasses, des Mißtrauens zu brechen. Dieser Pfingst-gemeinde gehören nicht nur Christen an. Den Christen aber sollte sie ein Vorbild sein. Jenen Millionen Massen von Christen, die es noch nicht wagen, mit ganzem Herzen einzustimmen in den Introitus der Pfingstmesse: „Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis, alleluja. Er, der das All zusammenhält, kennt jede Sprache, alleluja, alleluja, alleluja.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung