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Phänomena spirituellen Lebens

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DER INNERE ERDTEIL. Aus den „Wörterbüchern“. Von Albert Paris Gütersloh. R.-Piper-Verlag, München, 1966. 285 Seiten.

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DER INNERE ERDTEIL. Aus den „Wörterbüchern“. Von Albert Paris Gütersloh. R.-Piper-Verlag, München, 1966. 285 Seiten.

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Das eben erschienene Wörterbuch Güterslohs in den Händen haltend, drängt sich uns die Erinnerung an Eisenreichs „offenen Brief an A. P. Gütersloh“ (Reaktionen S. 253) auf. Die Bildung, die aus dem ganzen Werk des in Kürze Achtzigjährigen spricht, die nun nach Stichworten gesammelt, gleich Ländern des „inneren Erdteiles“, vor uns sich ausbreitet, ist so umfassend und gleichzeitig profund — wirklich umfassend kann man schließlich nur aus einer entsprechenden Tiefe sein —, daß die Leser, besonders jüngerer Generationen, ratlos zu ihr aufblicken, wie Eisenreich schreibt.

Von einem Zentrum der Tiefe her vermag Gütersloh sichtend wie aus der Mitte eines Kreises die oberflächlichen Wellenschläge der Aktualitäten, allzu billig sich oft die Parolen modern—alt, überholt—fortschrittlich zurufend, zu beurteilen. Bildung wird hier nicht um des Wissens wegen erworben, sondern um ein „geistiges Heil“ zu wirken, eine Bildung auf lateinischem Grund, also humanistisch im wahrsten Verständnis. Was die Nachfolger der Schöpfer unserer christlich-abendländischen Kultur heute bedenkenlos aufgeben, hütet Gütersloh als den „inneren Erdteil“ seines Daseins. Noch einmal faßt er aus seiner Höhe die Schätze dieses Erdteils ins Auge. Wer wird ihm noch folgen, fragen wir besorgt mit Eisenreich und teilen seine Meinung: „Mir scheint, daß die totale geistige Selbstvernichtung bereit? jn vollem Gange ist, wofür die physische Selbstvernichtung durch die Exzesse so genannter Wissenschaft nur das äußere Abbild, die Darstellung in usum Delphini bedeutet.“

Gütersloh kennt den Geist und die Dokumente der philosophia perennis, hat sich mit den Grundproblemen des Glaubens und der Religiosität sehr gründlich beschäftigt, hat sie selbständig durchdacht und weitergeführt, und holt nun wie ein evangelischer Hausvater unter dem Anruf der Stichworte seines Wörterbuches einen Schatz nach dem anderen hervor.

Es ist überraschend und faszinierend zugleich, wie Gütersloh das alte Wahre, vom Staub eines Buch stabengeistes säubert, neu zum Leuchten bringt und dem wahrhaftig und notwendig Neuen zum Durchbruch verhilft. „Über unsere Aufgabe nachdenkend, kommen wir dahin, sie im Verbreiten von Unsicherheiten zu sehen.“ Denn „wahrlich Sitte und Religion haben das Land eingeebnet und verödet und die Bahnhöfe mit ihrem schalen Bier und den trockenen Semmeln zu Zielen von Reisen gemacht“ (Sagenhafte Figur). Genauso köstlich wie originell sind Güterslohs Ausführungen zu allgemeingültigen Themen des Menschlichen (mitunter Allzumenschlichen), wie er von ganz neuen Gesichtspunkten her ein solches Thema aufrollt und ihm ein ganz neues Verständnis abzugewinnen vermag, ob das nun die Dummheit, den Humor, das Heldentum, die Askese oder das Weib betrifft. Grundanliegen ist ihm jedoch immer wieder seine „Materiologie“, in die er die Wirklichkeit einzufangen versucht. Jenseits des fast bis zur Unfruchtbarkeit diskutierten Zirkels von Materialismus—Idealismus, Subjektivität—Objektivität, Immanenz —Transzendenz gelangt er als echter Künstler zur Kunst der Materiologie, iin der er um die „Vereinbarkeit des Unvereinbaren“, um die Harmonisierung von Materie und Logos ringt. Das ist ihm über den rein ontologischen Bereich hinaus auch ein eminent ethisches Anliegen, demzufolge sich die Begriffe von Sein und Nichtsein, Tod und Leben, Sünde und Tugend, Glauben und Unglauben zu klären- beginnen, im Besonderen seines Unternehmens der Kunst auch die Begriffe von Inhalt und Form, Tendenz und Artistik, Schein und Wirklichkeit.

Der Fundus seiner Bildung breitet sich in den glänzenden Formulierungen einer Sprache aus, deren sich der Mensch als seines eigentlich auszeichnenden Gutes bewußt bleibt. „Das Elend der Philosophie ist nicht das elende Philosophieren, als ein welches den Materialisten das Idealistische und den Idealisten das Materialistische erscheint, sondern die elende Sprache, an der alle Wahrheiten notwendig zu Schanden werden. Vergeblich hoffen die Geschreib- seligen, man werde die Sprache, die sie nicht haben, mit den Gedanken entschuldigen, die sie zu haben glauben. Ein Gedanke hat genau so viel Wert, wie die Sprache darauf legt, eine zu sein.“ Wenn das schon am dürren Holz der weltlichen Bereiche geschieht, was erst am grünen Holz der geistlichen und sakralen. Der Sprachverfall wirkt sich im Bereich der Kultur besonders verheerend aus, zu welcher, worüber Gütersloh keinen Zweifel läßt, die Religion gehört.

Damit kommen wir zu unserem Anfang zurück, auf den lateinischen Grund, jetzt im wörtlichen Sinn. „Wir bedauern, was wir sagen, nicht römisch sagen zu können. Denn nur in der Sprache der Konzile, Enzykliken, Bullen und Breves würden jene, allerdings seltenen paradigmatischen 1 Definitionen der figuralen Dialektik, die für die Materiologie, was für die Theologie die Entscheidung ex cathedra sind, auf der auch ihnen gebührenden Ebene erscheinen und jene wirkliche Wirkung zu üben vermögen, der nicht nur keinen Abbruch tut, daß ihre Ursache wie begraben liegt unter Bibliothek- Btaub, sondern das rechte Kraftfeld erst durch diesen Umstand gespannt wird...

Noch nie hat in einer Zeit, in der Kulturlosigkeit als neueste Errungenschaft gefeiert wird, uns einer die christliche Verantwortung vor unserer Kultur so ins Gewissen gerufen wie Gütersloh. Seine große, reife Sprache lebt von dieser Latini- tät im Bau ihrer Sätze, im konzentrierten Bemühen um ihren Logos. Und so verf aßt er ein Gebet um die Erhaltung des den Menschen, den Christen, auszeichnende Gut der Sprache; da aber weder Mensch noch Sprache ein Abstrakrtum sind, sondern Inkarnation in konkrete Geschichte und konkreten Erdteil, wird es ein Gebet um das abendländische Signum christlicher Kultur: „Wir, die wir an das Wort glauben, bitten dich, o Herr, uns beizustehen, die Schönheit wieder mit der Wahrheit zu vermählen, damit dieselbe Sprache, die auf dem Markt zu erniedrigen wir gezwungen sind, auch die dem Tempel angemessene sei, und alle, die Ohren haben, sie zwar verstehen, trotzdem aber vermeinen sollen, eine fremde zu hören. Gib also, daß an Wörtern sie weder zu- noch abnehme, daß von keiner Mundart sie gefärbt, von keinem Witzbold verdoppelsinnigt, und von keinem, der mit der Wahrheit lügt, in ihrer Glaubwürdigkeit gemindert werde. Lasse, o Herr, dein Volk aufleben neu in der toten Sprache, die es vollendet spricht,“

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