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Philosophie in der Revolte

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Den Beweis können wir aus einem Phänomen entfalten, das gerade im Werkraum der wissenschaftlichen Forschung und Lehre seinen Ursprung nahm. Ich meine die leidenschaftliche Beunruhigung und Bewegung, die die junge akademische Generation, die Studenten in West und Ost, ergriffen hat. Diese Bewegung mit Gewalt ersticken zu

wollen, ist lächerlich; es ist vielmehr geboten, das Phänomen einmal in seinen philosophischen Grundlagen aufzuschließen. Ich habe persönlich die berühmten Maitage an der Pariser Sorbonne und im Odeon miterlebt und mit den Beteiligten Gespräche geführt; ich habe erkennen gelernt, welches Anliegen sie im Grunde verfechten.

Sartre und der Marxismus

Zu bedenken ist der große Einfluß, den der Existentialismus in Frankreich auf die Intellektuellen im allgemeinen und auf die studierende Jugend im besonderen ausgeübt hat. Sartre, der Vater des Existentialismus, hat diese Philosophie mit dem Marxismus verknüpft; er definiert sie folgendermaßen: „Der Existentialismus ist jene Lehre, die erklärt, daß jede Handlung eine Umwelt und eine.,mesi sch Ikhe-Iehheit.einschließt • VQftrt4ffii)y Įsyell,.,geht die Einwir- kung auf das Ich aus, das damit dem Streben nach radikaler Selbstentfaltung reagiert. Der Mensch sieht sich gezwungen, in dieser Welt seinem Leben selbst den Sinn zu geben, da (wie Sartre sagt) die Weilt „absurd“ geworden ist. „Der Mensch ist das, wozu er sich macht.“ Er ist allein sich selbst verantwortlich für sich und für die Welt. Die Welt von morgen wird so sein, wie er sich heute entschieden hat.

Der glänzendste Interpret existentiellen Denkens ist der jung verstorbene Nobelpreisträger Albert Camus, dessen Hauptwerk durch den

Titel „Der Mensch in der Revolte“ gekennzeichnet ist. Camus zieht den Trennungsstrich zwischen Revolte und Revolution. Revolte ist nach ihm die integrierende Einheit von Zustimmung und Verneinung.

Der „dunkle Protest“

Das mit dem Nein verknüpfte Ja bezieht sich auf einen Wert, der nicht klar bewußt und schon gar nicht rational formuliert ist. Gerade dadurch aber ist er geeignet, eine rein emotionale Dynamik, eine Leidenschaft zu entfachen, um den Durchbruch zu erzielen. Der Inhalt des Wertes erfährt erst im Vollzug der Bewegung seine erhellende Entfaltung. Camus spricht vom „dunklen Sein“, daß vor jeder Handlung vorausbesteht und in der menschlichen Natur begründet ist und spricht vom „dunklen Protest“. Wenn die menschliche Natur unterdrückt wird, so tritt sie in den Aufstand und vollzieht die offene Revolte. Der Sinn dieser Revolte ist aber die freie Entfaltung des unversehrten eigenen Wesens. Camus sagt: „Der Revoltierende kämpft für die Unversehrtheit seines Wesens, er sucht vorerst nicht etwas zu erobern, sondern etwas durchzusetzen", nämlich den Wert, für den er leben will.

„Der Wert aber, der ihn aufrecht erhält, ist nicht ein für allemal gegeben, er muß unablässig hochgehalten“ und errungen werden; daher kann „die Revolte im Prinzip nie aufhören, weil man nie aufhören kann, diesen Wert zu verwirklichen“.

Die Wertverwirklichung ist keine destruktive Bewegung, sondern

schöpferisch. Sie 1st Bewegung In der Zeit und schöpferisch für die Zukunft. Sie führt Menschen verschiedener Denkungsart und Zugehörigkeit zu einer solidarischen Einheit. Nach Camus 1st dies der einschneidende Unterschied zwischen Revolte und Revolution: „die Einheit in der Revolte ist Solidarität, die Einheit In der Revolution aber Totalität“.

Es ergibt sich in der Realität für die Revolte die Problematik der Gewalt, die erfahren und ausgeübt wird, und damit die Grenzsituaiion, in der die Revolte in Revolution übergehen kann. Camus sagt: „Die Sehnsucht ergreift eines Tages die Waffen und nimmt die totale Schuld auf sich: den Mord und die Gewalttaten.“ Es hängt alles davon ab, ob es der etablierten Macht in der Auseinandersetzung mit dem revoltierenden Menschen gelingt, die werthafte schöpferische Bewegung der Revolte aufgeschlossen zu übernehmen und sie zur fruchtbaren Gestaltung und Umgestaltung der Gesell-

schäft ausreifen zu lassen. Das ist freilich schwieriger als primitive Gewaltanwendung, die doch die Notwendigkeit eines Geschehens, das in die Zukunft führt, nicht wird brechen können.

Diese philosophischen Prämissen können das in Frage stehende Phänomen dem Verständnis nahe bringen.

Gespräche im Odeon

Das Phänomen selbst konnte ich an der Quelle studieren. Im Odeon,

wo pausenlos Tage und Nächte währende Diskussionen stattfanden, konnte Ich immer wieder den existentiellen Sinn dieses Dialogs wahrnehmen und beobachten, daß die Teilnehmer sich aussprechen und im Gespräch ihr Verhältnis zur Aktion bestimmten. Ich sehe davon ab, daß auch Probleme aktueller Strategie zur Sprache kamen, etwa von der Art, wie der Dschungelkrieg von Vietnam auf die moderne Großstadt als Dschungelstrategie zu realisieren sei. Im ganzen wurde die Diskussion auf das bekannte Reformthema gerichtet: die Auflösung der historisch erstarrten Struktur der Hochschule durch Veränderung der Struktur der sie tragenden Gesellschaft, wobei natürlich die radikalsten Ansprüche dominierten. Bei allem Zer- flattern der Diskussion, das sich bisweilen einstellte, wurde doch die Solidarität aufrecht und wach gehalten.

Die Revolution ohne Fahnen

Als ich den Hof der Sorbonne betrat, fiel mir ein ausgedehnter Zeitschriftenstand auf, auf dem Mao- Literatur in reicher Auswahl lag. Der Maoismus ist auf dem Pariser Boden ein geläufiges Phänomen, was auch das überdimensionale Bild Maos veranschaulichte. Daneben waren auch andere kommunistische Größen und Heroen in Bildern präsent, besonders exponiert das Bild Trotzkis, der als Theoretiker und Praktiker der permanenten Revolution bei den Studenten in Ehren steht. Es wurde mir aber bedeutet, der Zweck sei, den Wohlstandsbürger durch drohende Reminiszenzen zu schockieren und zu provozieren Die Bilder waren also Chiffren der Provokation, der man ja auch in Stil und Gehalt der Forderungen begegnete, die aus den Anschlägen im Universitätsgebäude zu ersehen waren und aus denen hervorging, daß eine radikale und totale Strukturveränderung im Aufbau der wissenschaftlichen Forschung und Lehre durch „Demokratisierung" erstrebt wird.

Man denkt daran, die Schichte der Lernenden in einem fünfjährigen Turnus durch die aufsteigende Schicht der Lehrenden jeweils ständig zu ersetzen. In einzelnen Instituten tagten kleinere Arbeitsgruppen, und man hatte den Eindruck, daß in den Instituten der aktive Kern zu positiver schöpferischer Arbeit konzentriert war.

Ein führender Kopf der UNEF gab mir Antwort auf meine Fragen. Er erklärt, die Bewegung der Studenten sei „eine Revolution ohne Fahnen, ohne Führer, ohne Ideologie“. Der Weg in die Zukunft könne nur der Weg sein, der aus einer Situation herausführt, in der es für den Menschen keine Zukunft geben könne. Der bürokratisch-technokratische Verwaltungs- und Regierungsapparat gebe keine Möglichkeit mehr, als Mensch zu existieren. Es ist das existentielle Anliegen, das diese Jugend bewegt. Mein Gesprächspartner meinte, die heutige Lage sei für den jungen Menschen eine ausgesprochene psychische Zwangslage, die notwendig zu pathologischen Phänomenen führen muß. Man zwingt den jungen Menschen zu den Drogen, weil sie für ihn heute das Mittel sind, eine Welt zu erleben, in der es noch Phantasie gibt und Träume, in der es möglich ist, aus einer vergitterten Welt eines Daseins auszubrechen, das sich zwischen Produktion und Konsum auslebt.

Im Hinblick auf die Solidarität mit den Arbeitern, die sich, wie er betonte, in diesen Maitagen ganz von selbst eingestellt hat, bemerkte er, daß diese Solidarität auf die Struktur der Arbeiterbewegung einen entscheidenden Einfluß nehmen werde, weil auch die Arbeiter den freien Raum suchen, in dem sie sich ohne den Apparat bewegen können.

Auf der Linie konsequenter Demokratisierung bewegte sich das Gespräch über die „außerparlamentarische Opposition". Es wird gefordert, daß die Kritik im Parlament nicht nur zur Zeit der Wahlen im Vollzug dieser Entscheidung geübt werden kann, so daß die Parlamentarier während der übrigen Zeit unter sich und ihrer Partei bleiben. Es müsse möglich sein, auch zwischen den Wahlen von außen her ' das Parlament einer ständigen Kritik und, Kontrolle zu unterwerfen, zumal die innerparlamentarische Opposition von reinen Parteigesichtspunkten gelenkt, daher nicht sachlich und den Problemen angemessen durchgeführt werden kann. Man müsse überhaupt im politischen und kulturellen Leben eine noch nie dagewesene geistige Korruption feststellen.

Dies waren einige wenige Themen und Gehalte des Gesprächs, das ich mit Vertretern der revoltierenden Pariser Studentenschaft zu führen Gelegenheit hatte.

Antwort auf eine Herausforderung

Zum Zeitpunkt der Pariser Ereignisse hielt der bekannte Physiker und Philosoph Karl Friedrich von Weizsäcker einen Vortrag zum

Thema „Die Kunst der Prognose“. Er warnte vor dem falschen Optimismus, der sich an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt klammert, ohne zugleich die mit ihm wachsenden Probleme in Wirklichkeit zu sehen.

Die Revolte der Jugend bezeichnete er als nicht überraschende „allgemeine Erregung und Leidenschaft angesichts der unheimlichen Möglichkeiten der Zukunft, denen die heutige Weise des Regierens und Verwaltens nicht mehr adäquat ist“. Weizsäcker ist Atomphysiker, Naturwissenschafter von Rang, der zugleich — das scheint das Gebot der Stunde zu sein — Philosoph ist. Er erkännte,"'fra#' die' leidenschäMiche Beyegupg jjieser Jugend, dėrfenTįxjr stentieilen Gehalt und Charakter wir darzulegen versuchten, auf eine Herausforderung antwortet, die an die Gesellschaft im Zeitalter der Wissenschaft gerichtet ist.

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