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Plötzlich harnen Depressionen

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Die Kinderdörfer nehmen Kinder auf, die ihre Eltern verloren haben - oft geschieht dies durch Scheidung. Ein Erfahrungsbericht.

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Die Kinderdörfer nehmen Kinder auf, die ihre Eltern verloren haben - oft geschieht dies durch Scheidung. Ein Erfahrungsbericht.

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Vier Jahre war sie alt, als die Eltern geschieden wurden. Diese hatten im Zuge der Scheidung versucht, der Tochter, so gut es eben ging, den Kontakt zu beiden Eltern zu erhalten. Das Kind sollte nicht plötzlich den Vater verlieren. Daher gab es keine strikte Besuchsregelung, eher locker. Die Eltern dachten, es gut gemacht zu haben.

Anfangs scheint die Tochter nicht zu leiden. Fast zehn Jahre hindurch geht alles gut, in der Pubertät fangen allerdings die Schwierigkeiten an. Eine psychotherapeutische Behandlung viele Jahre später fördert schließlich die Ursachen zutage: Die Kontakte zum Vater sind eher nur kurz. Weil dieser aber stets liebevoll um sie bemüht ist, hat die Tochter keine Möglichkeit, ihren Groll ihm gegenüber zu äußern. Groll? Daß er sie verlassen hat - auch wenn das „Verlassen” nicht ihr, der Tochter, gegolten hatte. Sie erlebt es aber so.

Außerdem plagt sie stets ein schlechtes Gewissen: Ist sie beim Vater, so denkt sie, die Mutter sei jetzt vielleicht böse. Umgekehrt befürchtet sie, den Vater zu kränken, wenn sie bei der Mutter bleibt. Fast krankhaft ist ihr Wunsch, es allen recht zu machen.

In der Pubertät werden die Probleme massiv: Sie „frißt” regelrecht alles in sich hinein, kann mit niemandem über ihre Zerrissenheit, die sie zunächst nicht in Worte fassen kann, sprechen, nimmt stark zu. Die Beziehung zum Vater wird sehr belastet. Was dieser auch tut, sie nimmt ihm eigentlich alles übel. Schließlich will sie den Vater eigentlich überhaupt nicht mehr sehen, obwohl die Mutter sich stets bemüht, keine negativen Bemerkungen über den Vater zu machen.

Mit 17 kommt die Tochter in eine depressive Phase: Sie wird lustlos, antriebslos, unglücklich. Als sie sich auf Anraten der Mutter zur erwähnten Therapie entschließt, wird ihr einiges klar: Vor allem ihre Angst, einem der Elternteile weh zu tun, und deswegen nicht mehr geliebt zu sein. Sie erkennt, daß sie all die Jahre hindurch ihren Schmerz und ihre Trauer nicht ausgelebt hat.

Erstmals kann sie all das in der Therapie aussprechen. Mit 19 verbessert sich langsam die Beziehung zum Vater wieder. Problematisch aber bleiben ihre Beziehungen zu jungen Männern. Aus Angst, den Freund zu verlieren, nimmt sie vieles - zu vieles - in Kauf. Sie klammert sich an jede Beziehung aus der Befürchtung heraus, sie könnte wieder jemanden verlieren.

Ein Fall unter vielen im Kinderdorf. Die Kinderdorfmutter, die ihn mir erzählt, faßt ihre Erfahrung zusammen: Scheidung ist für die Kinder immer ein Trauma, das diese nur sehr schwer aufarbeiten. Das Vateroder Mutterbild stimmt einfach nicht mehr. Haben die Kinder nicht die Möglichkeit, sich ausgiebig mit einer erfahrenen Person auszusprechen, werden sie wahrscheinlich lebenslang Schäden davontragen - vor allem, was ihre Bindungsfähigkeit anbelangt.

Entweder werden sie sich krampfhaft an den Partner klammern oder aber aus Angst vor Enttäuschung erst gar keine Beziehungen eingehen. Im Kinderdorf sehe man diese Art, mit Beziehungen umzugehen, sehr häufig.

Häufiger scheine ihr das Anklammern zu sein - schon in sehr jungen Jahren. Die Jugendlichen suchen die Erfahrung: Endlich gehört mir jemand ganz. Der Erfolg: Die Mädchen bekommen schon sehr früh Kinder. Und es entsteht eine, neue, äußerst gefährdete Beziehung.

Besonders hart ist das Los jener Kinder, die ins Kinderdorf abgeschoben werden, weil sich die Eltern bei der Scheidung nicht über das Sorgerecht einig werden können oder beide neue Partnerschaften eingehen. Solche Kinder werden ja von beiden Elternteilen verlassen.

Diese „Scheidungs-Vollwaisen” machen die erwähnte Erfahrung in besonders dramatischer Form: Sie sind überzeugt davon, nicht liebenswert zu sein, da ihre Eltern, sie ja offensichtlich weggegeben haben. Die Kinder meinen, sie selbst seien Schuld daran, daß sie abgeschoben wurden. Sie übernehmen gewissermaßen die Schuld der Eltern und machen sie zur eigenen. Für Kinder, die auf diese Art beide Eltern verlieren, fällt alles auseinander.

Wie schwer ist es, solchen Kindern wieder ein Selbstwertgefühl zu geben! Ihnen die Erfahrung zu vermitteln, daß sie liebenswert sind, ist die Hauptaufgabe der Kinderdorfmütter. Und Gott sei Dank gibt es Kinder, die doch so stabil und stark sind, daß sie lernen, ihr Trauma zu überwinden.

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