Die Furche: Herr Wühr, Ihr erster Gedichtband hieß "Grüß Gott" (1976), ihr jüngster heißt "Dame Gott". Von Gott ist in Ihrem Werk viel mehr die Rede als unter Zeitgenossen üblich.
Paul Wühr: Ja, mit 20 Jahren war ich richtig gläubig, immerhin hab ich meinen Bruder durch meine Gedichte zum Priestertum gebracht. Wir waren überstreng, dogmatischer als die Kirche. Irgendwann ist das gekippt. Aber wenn die Poesie ganz ausartet oder auch entartet, wenn man boshaft sein will, dann wird sie bei mir am Schluss doch noch rein theologisch. Wenn ich unvernünftig bin, dann wüte ich mit der "Dame" gegen die Fehler der Schöpfung. In meinem Buch Gegenmünchen ergreife ich aber Partei für den "falschen Gott", den Gott, der alles falsch gemacht hat. Wenn man im sozialen Leben auf Richtigkeiten besteht, geht der Krieg los.
Im Gedicht ist der Fehler ein großes Moment der Freiheit. In geschlossenen Gedichten - etwa bei Mörike, den ich sehr liebe - gibt es dafür keine Lücke. Viele Freunde sind beim Lesen meiner Verse ins Stolpern gekommen, fielen raus aus dem Gedicht - wie übrigens ich selber. Nach zwei nachhängenden Zeilen müssen Sie rüberspringen in die nächste kleine Einheit. Ohne Netz. Die wenigsten wagen den Sprung in die Freiheit meines Gedichts.
Die Furche: Sie haben oft betont, dass bei Ihnen "die Sprache das Sagen hat", dass Sie das Gemachte nicht mögen.
Wühr: Ja, Gedichte machen sich von selbst. Jeden Tag durchsuche ich die am Vortag beschriebenen Blätter nach Zeilen wie "ob du augen hast ist gar nicht so schlimm" oder "gern bin ich verschwommen". Ich halte es mit Johann Georg Hamann: Wirkliche Gedichte kann man nie erschöpfend erforschen. Weil ich immer auf Geschriebenes früherer Zeit draufschreibe. Bücher sind für mich große Versammlungen, Gesellschaften. Drum schreib ich so dicke. Bei mir muss eine ganze Welt entstehen.
Die Schönheit muss passieren, wie das einzelne syntaktische Bild. Ich mag nicht prunken wie Stefan George. Keine Metaphorik. Unsere Großen von Goethe bis Rilke haben doch alle Metaphorik schon gebracht. Aber ein verdrehter Satz! Den Bayern sagt man nach, dass sie eine verhakte, eine verbogene Syntax haben. Dafür gibt es bei mir hoffentlich Beispiele - aber ich kann sie nicht wie Jandl herstellen.
Die Furche: Sie haben als Dichter noch einiges vor?
Wühr: Es wäre schlimm, wenn man sagt, jetzt bin ich fertig. Drum habe ich keine Satzzeichen. Weil das tödlich ist. Ich will eine schwebende Syntax. Weil so gar nicht der Verdacht aufkommen kann, dass ich irgendetwas abschließend behaupte. Wenn jemand meine Gedichte vertonen möchte, empfinde ich das als Beleidigung: Dann hab ich ja Sätze geschrieben. Sätze sind tot. Die Poesie ist ein Lebensmittel. Man sollte sie den Menschen auf ärztliche Verschreibung verabreichen. Meine Lesung hier war wohl eine Sternstunde für mich, den Ort werde ich nie vergessen, denn es ist noch nie passiert, dass so viele mich verstanden haben oder besser: gehört, im richtigen "falschen" Sinn.
Das Gespräch führte Daniela Strigl.
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