6715590-1964_41_11.jpg
Digital In Arbeit

Poesie und Marionettenwelt

Werbung
Werbung
Werbung

Das Volkstheater bringt als erste: Stück für die Außenbezirke in Erinne rung an die Uraufführung vom 16. Jan ner 1915 im damaligen „Deutschen Volks theater“ das Trauerspiel „Armut“ vor Anton Wildgans. Das Stück von der ver schämt und „standesgemäß“ getragener Armut in der Familie des kleinen Post beamten Josef Spuller war einst schärfst soziale Anklage und zugleich Brücke von: Naturalismus zum damals aufkommender Expressionismus österreichischer Prägung Heute, 50 Jahre später, mutet der plötz liehe Ausbruch der Gestalten aus dei Realität in die blühende Lyrik bekennen der Weltanschauung befremdend merkwürdig an und überdeckt fast die balla- denhafte Traurigkeit des Stückes aus längst vergangenen Zeiten.

Daß es dennoch ergriff, ist dem Regisseur Leon Epp und seinem vortrefflichen Ensemble zu danken. Allen voran dem jungen Herbert Kucera als Gottfried, der die an sich schönen Verse so vor sich hinsprach, als wäre es das Natürlichste von der Welt, daß ein angesichts von so viel Elend skeptisch gewordener und zugleich rebellischer Oktavaner die Fragen des sterbenden Vaters mit stimmungsvoller Poesie beantwortet. Benno Smytt war der rührend hilflose, lebensfremde Diurnist Spuller, Margarete Fries die verbitterte, aus Enttäuschung hart gewordene Mutter und Erika Mottl die Tochter, die sich ihrem Vater zuliebe beinahe an den reichen Zimmerherrn (von Aladar Kunrad glaubhaft dargestellt) verkauft hätte. In Episodenrollen: Walter Varndal als Handelsjude, mit Sonderapplaus bedacht, Hans Weicker als geschäftsmäßig zudringlicher Vertreter eines Bestattungsunternehmens, während Egon Jordan, würdevoll gedämpft, als „Amtsvorsteher“ aus jenseitigen Gefilden dem Sterbenden das Hinscheiden leichter machte. Hermann Laforet als ehemaligen Feldchirurgen hätte man sich weniger steif und Ingo Rau als zynischen Kommilitonen des Zimmerherrn weniger turbulent gewünscht. Das Bühnenbild von Wolfgang Vollhard gab die trostlos düstere Atmosphäre des Elends wieder. Es gab viel Beifall des sichtlich beeindruckten Publikums.

Eine interessante künstlerische Begegnung vermittelte das Gastspiel des Thiätre de la Mandragore aus Paris. Wolfram Mehring, Leiter einer Klasse füt „Mimen“ in der traditionsreichen Pariser „Ecole du Vieux Colombier“, hatte sich auf der Stiche nach einer netten' komplexen Bühnenforirf WMf iiteränschtttt Sprechtheater abgewandt und: mit seiner Mitarbeiterin Grillon'“eiti eigenes“ Ensemble „mimischer Schauspieler“ gegründet. Sein Programm war, der dramatischen Dichtung „mimisch-plastischen Ausdruck“ zu geben. Regisseur und Schauspieler sollten sich „nicht mehr damit begnügen, durch rein psychologische Interpretation den dichterischen Text auf der Bühne nur anschaulich zu machen: wenn es ihnen gelingt, das geschriebene Wort vergessen zu lassen zugunsten eines Bild und Ton gewordenen neuen Kunstwerkes, so wird das den Geist der Dichtung nicht zerstören, sondern dem Zuschauer im neuen Licht erscheinen lassen“. Diese dem Programmheft entnommenen Sätze zeigen, wie sehr das Visuelle auf dieser „Schaubühne“ (im eigentlichsten Sinne des Wortes) in den Vordergrund gerückt ist auf Kosten des gesprochenen Wortes.

Der erste Abend brachte die Aufführung der „Aulularia“ (Goldtopfkomödie) nach Plautus.Der Urtyp, der Urdämon der Habgier, dessen Gedanken wie besessen um den Besitz eines gefundenen Goldschatzes kreisen, gab das Vorbild ab für die geniale Nachschöpfung in Mo- lieres „Geizigem“. Die Pariser tragen scharf charakterisierende, grotesk geformte Masken, die den Mund freilassen, so daß vor allem der Körper, die Gebärdensprache der Hände Träger des Ausdrucks sind, bloß unterstützt vom gesprochenen Wort und einer ausgiebigen Tonkulisse. Man kann diesem Spiel, Regie, Ton und Maske umfassenden Bühnenstil eine verblüffende und amüsante Bühnenwirkung nicht absprechen, doch wirkt das Vorherrschen des Pantomimisch- Tänzerischen in seinen sich oft wiederholenden Posen auf die Dauer doch ein wenig ermüdend und läßt bei aller Turbulenz des Spieles auch streckenweise Langweile aufkommen, zumal die Pariser die deutsche Sprache bei aller bewundernswerten Kenntnis nur wenig verständlich artikulieren. Sehr lebendig verkörpert die Schauspielerin Grillon, die eine ebenso eminente Masken- wie Kostümbildnerin ist, den Geizhals Euclio, während der vielseitige Wolfram Mehring, der auch für die Inszenierung und die Mimographie verantwortlich zeichnet, gleich drei Rollen verkörpert; er ist hervorragend als einfältig eitler Megadorus und als dessen noch einfältigerer, play- boyhafter Sohn Lykonides. Es gab viel Beifall eines sichtlich angeregten, wenn auch nicht zahlreichen Publikums, der sich auch am zweiten Abend einstellte, als die Pariser Gäste unter dem Titel „Metarmorphosen“ eine Probe ihrer wortlosen Mimenkunst boten.

Unter den Mimodramen kamen besonders an: „Der Fang“ (auf verdunkelter Bühne greifen sechs Arm- und Beinpaare wie die gierig bewegten Fänge eines Meeresungeheuers nach der Beute), „Der Stuhl“ (zwei wacklige Greise kämpfen hartnäckig und heimtückisch um die begehrte Sitzfläche, auf der sie in Ruhe ihre Zeitung lesen könnten). In „Begegnungen“, „Das Paket“, „Metamorphosen“ überwiegen die komisch-parodistischen Elemente. Nicht jede marionettenhafte Szene wurde mit der dabei so nötigen Präzision dargeboten.

Auf den Abend der „Poesie pure“ der Bewegung folgte die dritte und beste Aufführung der Pariser: Georg Büchners hauchzartes, traumhaft entrücktes Gaukelspiel „Leonce und Lena“, in dem noch einmal, zum letzten Male in dem gefährlichen Jahrhundert das Lied verwehender Romantik gegen die aufkommende naturwissenschaftliche Skepsis einer ent- götterten-Zeit erklingt Nur der schwermütige Prinz und die holde Prinzessin tragen das Antlitz unverhüllt, während der wie aus Shakespeares Reich stammende Narr Valerio, die Tänzerin Rosetta und die Gouvernante, besonders aber der König und die Höflinge Gesichtsmasken tragen und oft wie Marionetten neben bewegungslos herumstehenden Attrappen vor dunklen Vorhängen ohne jedes Dekor agieren. Die meisten von ihnen bewegen nur die Lippen zu den aus den Lautsprechern tönenden Stimmen. Viel Musik und noch mehr Geräuscheffekte (Rascheln intensiviert das Händereiben, Klöppeltaktieren die Schritte) begleiten das Liebes-Poetische und das Satirische. Der Bann, der von der Bühne ausging, überwog das leise Bedauern über die manchmal verkünstelte Sprechweise der Hauptdarsteller: Leonce (Mehring), Valerio (Grillon), besonders aber Lena (Simone Sternberg). Es gab starken Beifall für einen schönen Abend.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung