Poeta Doctus

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SEHER-DICHTER, DICHTER-FORSCHER UND ZOON POLITIKON: EINE WÜRDIGUNG ANLÄSSLICH DES 60. GEBURTSTAGES DES DICHTERS FERDINAND SCHMATZ.

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SEHER-DICHTER, DICHTER-FORSCHER UND ZOON POLITIKON: EINE WÜRDIGUNG ANLÄSSLICH DES 60. GEBURTSTAGES DES DICHTERS FERDINAND SCHMATZ.

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Seit Mitte der 1970er-Jahre ist Ferdinand Schmatz ein dichtender Forscher und forschender Dichter - seine Gedichte und Romane sind poetische Einlösungen der Fragen nach Erkenntnis und Wirkungsweise von Literatur. Sein Werk kreist den Zusammenhang von Dichten, Denken und Sprechen ein. Damit ist Schmatz wie kaum ein anderer zeitgenössischer Dichter den Weg der Avantgarden in eine ganz eigenständige Richtung weitergegangen. Sein dichterisches Forschen wendet sich vor allem der Besonderheit des poetischen Erlebens und dessen Gestaltung zu, wodurch die Lesenden an dem Erlebnis teilhaben können und in ihrer Wahrnehmungssensibilität erregt werden. Der erlebende Dichter als poeta vates (als inspirierter "Seher"), poeta doctus ("gelehrter Dichter als Forscher") und zugleich als Zoon politikon, als Lebewesen in und für Gesellschaft: Fernab von einem elitären Fokus auf nur innerliterarische und -ästhetische Debatten um "verbesserte" literarische Gestaltungsmittel oder ideale Gedichte teilt dieser sozial bewusste Dichter uns mit (und er nimmt uns auch mit), wohin er sich begeben und was er dort erlebt hat. Schmatz' Gedichte fordern zu einem intensiven Umgang mit ihnen auf, und sie halten das Glück und die Erkenntnis des Nachvollzugs der in ihnen erschaffenen Weltmodelle für die Lesenden bereit.

Erleben und Reflexion

Als Schmatz seine ersten Gedichte schrieb, hatte er Kontakt zum Wiener Aktionismus um Hermann Nitsch. Gegen die Versuche des Aktionismus, "eine 'wahre' Wirklichkeit zu schaffen", wobei der blinde Fleck im unmittelbaren "Blick auf den Prozeß des Machens ein Verstehen des Gemachten verhinderte" (Ferdinand Schmatz), reflektiert Schmatz in seinen frühen Gedichtbänden die Beziehung zwischen Unmittelbarem und Mittelbarem.

Die seither in poetologischen Essays umkreisten Fragen "Dichte ich in Worten, wenn ich denke" oder "Denke ich in Worten, wenn ich dichte" knüpft Schmatz in "speise gedichte" (1992) an das konkrete Begriffsfeld der Speise mit allem, was gewöhnlich zum Essen dazugehört. Der 1996 erschienene Gedichtband "dschungel allfach. pros gedicht" setzt sich der Frage nach der dichterischen Darstellung von Welt aus und führt das gewählte Thema einer (vielleicht realen) Reise in den Dschungel zusammen mit den Bedingungen des Dichtens und Welterfassens vor.

Schmatz' "das grosse babel,n"(1999) ist eine Um- und Neudichtung entlang ausgewählter Teile der Bibel (Genesis, Psalmen, Apokalypse). Zwei Schichten treffen aufeinander: auf der einen Seite das dichtende Subjekt Schmatz mit seinem Begehren, seinen Wünschen, seiner Verfasstheit (der conditio humana) und mit seinem poetischen Wissen um sprachliche Formen, um dichterische Intentionen vergangener Epochen, kurz, mit seinem umfassenden Wissen um die Geschichte der Dichtung. Diese Ebene prallt auf die mächtige Vorlage der Bibel mit ihrer umfassenden Geschichte (sei es ihrer Überlieferung, Übersetzung, Auslegung, Bearbeitung etc.).

Mit dem 2001 erschienenen Roman "Portierisch. Nachrichten aus dem Berge in Courier New" öffnet Schmatz sein Werk erstmals der größeren Prosaform, die zwischen Roman, Erzählung und Reflexion changiert. Diese hat einen klar umrissenen sozialen und geografischen Raum zum Schauplatz und zum Thema: ein abgeschiedenes Tal in den steirischen Bergen, samt seiner Bewohner, die im Wirkungskreis des im Tal herrschenden Gutsherrn leben und um dieses Leben ringen. "Portierisch", das heißt gewöhnlich seiner Herkunft nach, ist der Erzähler in die "inneren Kreise" altösterreichischer Adelsreste aufgestiegen. Dort beobachtet er die Differenzen und fein abgeschatteten sozialen Codes genau und sensibel.

Mit seinem "ein wilder Roman aus Danja und Franz" untertitelten Buch "Durchleuchtung"(2007) schreibt Schmatz einen Künstlerroman, der die künstlerische Wahrnehmung, das Lebensgefühl und den Umgang des Künstlers mit dieser gesteigerten Form des Welterlebens zu seinem Gegenstand hat. Da jedoch, wie in allen Texten Schmatz', Erleben und dessen künstlerische Gestaltung eng verzahnt sind, wird auch in diesem Roman die literarische Formwerdung exemplarisch vorgeführt, ergänzt um Reflexionen zum künstlerischen Erleben, zur Anverwandlung der Gegenstände und dessen Umsetzung ins Kunstwerk.

Auch in dem Gedichtband "tokyo, echo / oder /wir bauen den schacht zu babel, weiter" (2004) spannt Schmatz den Bogen von dichterischer Innenwelt zu sinnlich wahrnehmbarer Außenwelt. Die Tokyo-Gedichte sind aus der Erinnerung des Dichters an die Metropole in wiederholter Atemlosigkeit und Intensität der sensiblen und wie getriebenen Sprachbewegungen verfasst (Schmatz war von 1983-85 Universitätslektor in Tokyo). Die St. Petersburg-Gedichte rufen in vibrierenden Zwei-Zeilern zuerst des Dichters inneres Bild der Stadt vor Augen, spiegeln sodann sein unmittelbares Erlebnis des Stadt-Wogens im erregten "jetztton" und lassen schließlich die reflektierte Erfahrung noch einmal aufleben. Das immer Nachträgliche allen Erlebens sowie seiner künstlerischen Fixation und Wiederholung wird als solches mit Bedauern deutlich und zugleich als die formierende Kraft jedes Kunstprozesses ausgestellt. In diesen wunderbaren Zwischenbereich von Erfindung und Wahrnehmung, wobei die eine das Echo der anderen sein kann, fügt sich auch der dritte Abschnitt des Bandes: "dichtung, echo". Schmatz schreibt hier (wie auch in dem 2010 erschienen Gedichtband "quellen" noch einlässlicher) Gedichte mit und entlang der Dichtung anderer (Hölderlin, Kafka, Mandelstam, Busch, Walser ...). Dazu lässt er seine Gedichte an den Scharnieren von Fremdtexten beginnen und von dort zu anverwandelnder Eigenständigkeit treiben.

Poetik lehren

Im Verlauf seines Schreibens hat Schmatz zu jener inneren Ordnung gefunden, die angesichts der ihn umgebenden Außenreize dazu führen kann, die Welt, indem sie der Dichter aus seiner bestimmten und notwendigen Stimmung heraus in Worten ordnet und zusammenführt, zu beleben - sie zu spiegeln oder vielleicht: sie um-und neuzuschaffen. Diese poetische Erfahrung gibt Schmatz seit 2012 als Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Sprachkunst an der Wiener Universität für angewandte Kunst an die kommende Generation weiter. Im Mai werden die Vorlesungen, die er im Rahmen der Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik gehalten hat, im Haymon Verlag erscheinen. Und jüngst hat der Berliner Essayist und Musikwissenschaftler Sebastian Kiefer eine umfassende Würdigung des Werks von Schmatz in einer zweibändigen Studie verfasst.

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