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POLENS“,ASCHE' UND“,DIAMANTEN'

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Seit einem Jahr spricht man im Westen von einer Krise des polnischen Films. Sogar die offiziellen Warschauer Tageszeitungen fragten unlängst nach der Existenz einer solchen Krise. Man hört also überall dieses Wort, der Grund für seine Verwendung ist jedoch nicht so offenkundig. Immer wieder auftauchende Vorwürfe, die auf die Tendenz zur Inszenierung historischer Filme abzielen, berühren die Regisseure nicht. Zwar benötigt Jerzy Kawalerowicz („Nachtzug“, „Mutter Johanna von den Engeln“) 10.000 Statisten für seinen neuen Film „Pharao“, aber man versichert, daß die Probleme, die die Geschichte des Pharao Ramses XII. bietet, durchaus Bezüge zu denen des gegenwärtigen Lebens in Polen haben werde. — Ebenso verhält es sich mit Andrzej Wajdas in Arbeit stehendem Werk „Asche“, dessen Handlung in der Zeit der napoleonischen Kriege spielt. Wajda dreht augenblicklich in den Bergen der Tatra. Der Film wird Mitte des Jahres beendet sein und hoffentlich früher exportiert werden als Wajdas übrige Werke.

Zwar konnte man „Kanal“ (1956) und „Asche und Diamant“ (1958) bereits in Wien sehen, doch die folgenden, in der Reifezeit des Regisseurs entstandenen Filme muß man immer noch vermissen. So bedeuten etwa „Die unschuldigen Zauberer“ (1961) nicht nur einen der Höhepunkte des polnischen Films bis 1963, sondern auch den Übergang zu einer zweiten Phase des Autors. „Kanal“, „Asche und Diamant“ und auch „Lotna“ (1960) spiegeln Einzelereignisse des zweiten Weltkriegs; der Warschauer Aufstand und seine Niederschlagung wurden in „Kanal“ dramaturgisch so intensiv ausgewertet, daß der resultierende naturalistische Stil die Grenzen eines dem Inhalt adäquaten künstlerischen Ausdrucks weit überschritt und zum Pathos wurde. „Die unschuldigen Zauberer“ spielt im Warschau der Gegenwart. Andrzej, ein junger Sportarzt und Musiker einer Jazzband, soll einem Freund ein fremdes Mädchen bekanntmachen. Für Andrzej, dem die Frauen bereits überdrüssig geworden sind (das Wort Liebe hat er „nie gebraucht“), ist das weiter keine Schwierigkeit. Doch bald scheinen sich Gefühle zu regen, die er nicht kannte. Das Mädchen versäumt den Zug; beide gehen in seine Wohnung und — reden, spielen, zaubern. Nichts fällt vor, kein Kuß, keine Umarmung; sie schlafen ein — er auf dem Fau-teuil, sie auf der Couch. Als das Mädchen in der Früh verschwunden ist, erkennt Andrzej die Unmittelbarkeit dieser Beziehung; er fährt mit dem Roller durch die Stadt; er geht auf die Bahnhöfe; überall sucht er sie. Wenn er sie später trifft, sagt er: „Ich war nur spazieren..Endlich finden sie sich. Es ist dies der einzige Film Wajdas, der sich ausschließlich individuellen Problemen widmet; es ist auch der einzige Film, der lange Passagen hindurch nur auf Dialogen aufgebaut ist. Trotzdem wird so eindringlich photographiert, daß die subtilen poetischen Sätze (das Drehbuch schrieb Jerzy Andrzejewski) ins visuell Faßbare überzufließen scheinen. Auch die Suche nach dem Mädchen macht die Verwirrung Andrzejs deutlich: mit verdeckter (subjektiver) Kamera werden die Menschen, die zur Arbeit strömen, in schneller Bewegung gefilmt; das Prinzip erinnert an die Technik der „Nou-velle vague“, besonders an „Außer Atem“. Wajdas spätere Filme „Samson“ (1961) und „Blut der Leidenschaft“ (1962), wenden sich wieder politischen oder historischen, in ihrer Affinität deutlich der Gegenwart zustrebenden sozialen Problemen zu. „Asche“, sein nächster Film, wird diese Linie weiterführen.

Eine bemerkenswerte und belebende Rolle im polnischen Film spielt der nun auch bei uns bekannte Schriftsteller Jösef Hen; ein Band seiner Erzählungen (viele davon waren die Basis für seine Drehbücher) kam eben bei Langen-Müller heraus. Sein Debüt als Szenarist, „Das Tapferkeitskreuz“ (Regie: Kasmiercz Kutz, 1958), erhielt den ersten Preis des Klubs der polnischen Filmkritiker. 1963 versuchte er sich zum erstenmal als Regisseur. „“,Autobusse wie Schildkröten' sind“, wie er mir erzählte, „inhaltlich experimentell“: Ein junger Mann hat mit seiner Freundin ein Rendezvous in einem kleinen Dorf vereinbart und wartet nun auf sie. Als sie mit keinem der drei Autobusse kommt, resigniert er, bleibt aber noch einen zweiten Tag im Ort. Er lernt die Postbeamten, die Frau im Zeitungskiosk, den Mann vom Fremdenverkehrsamt kennen; in seiner Verzweiflung über die mysteriöse Vergeßlichkeit seiner Freundin gewinnen alle diese „Randfiguren“ eine kurzfristige, aber einschneidende Bedeutung. Als auch der zweite Tag ohne Ankunft des Mädchens vergangen ist, hat sich der Mann verändert; er hat neue Werte schätzen gelernt. Diese „Zeit der Reife“ wird auf sein künftiges Leben eine tiefgreifende Wirkung ausüben.

Auch „Gesetz und Faust“, einer der letzten Filme der polnischen Produktion, basiert auf einer Erzählung von Jösef Hen. Eine kleine Gruppe von jungen Polen, die sich aus Heimkehrern aus verschiedenen Konzentrationslagern rekrutiert, wird angewiesen, eine evakuierte Grenzstadt zu bewachen. Unter der Führung eines „Doktors“ werden die Häuser jedoch geplündert. Ein junger Idealist dieser Gruppe protestiert; man greift zu den Waffen. Bis auf ihn überlebt nur einer den Kampf, aber auch er will mit dem Diebsgut flüchten. Andrzej, der Idealist, könnte ihn töten, aber zu viele sind gefallen. Die dramatisch allzu stark belastete Handlung — zum Unterschied von der Erzählung erleben wir wieder eine Glorifizierung des Helden — wurde von den Regisseuren Jerzy Hoffman und Edward Skorzewski (die beiden drehten die „Rififi'-Parodie „Gangster und Philantro-pen“) so transponiert, daß keine der plötzlich auftretenden Situationen unrealistisch, unmotiviert ist. Die Schwächen der Drehbuchadaption werden durch rhythmisch gesetzte Sequenzen behoben. Den Kameramann Jerzy Lipman kennen wir als vorzüglichen Interpreten von Polanskis Intentionen in „Messer im Wasser“.

Diese Nuancierung im Formalen vermißt man an den Filmen eines anderen „literarischen“ Regisseurs. Tadeucz Konwickis „Allerseelen“ (1963) ist von gewichtiger Symbolik ebenso überladen wie sein Debütfllm „Der letzte Sommertag“: Eine alternde Frau lernt am Meer einen jungen Mann kennen. Obwohl sie sich von ihm angezogen fühlt, will sie sich ihrer Liebe nicht bewußt werden; am nächsten Tag wird sie abreisen. Dieses brauchbare Sujet (1957 waren „introvertierte“ Filme noch möglich) wurde durch pathetisch träge Sequenzen und durch gezielte Einsätze melancholisch romantischer Musik entwertet. Konwickis neuer Film, „Salto“, wird eine „moderne Komödie“ sein.

Wojciech J. Has, der mit seinem letzten Werk, „Die Kunst, geliebt zu werden“ (1963), einige internationale Preise erringen konnte, arbeitet an einem interessanten Vorhaben. Die Adaption des Romans „Ein Tagebuch, gefunden in Saragossa“ von Jan Potocki mußte Has, der ein Meister der Rückblendetechnik („Das gemeinsame Zimmer“, 1960, „Gold“, 1962) ist, besonders reizen. Potockis im Frankreich des 18. Jahrhunderts geschriebener Roman wird von mehreren einander kreuzenden Aspekten aus erzählt, eine Methode, die im Film gut genutzt werden kann. — Ambitioniert zeigt sich auch Janusz Morgenstern, Schüler der Filmakademie in Lodz und erster Assistent bei Wajda und Kawalerowicz. Er dürfte jedoch mehr als die technische Praxis von den beiden übernommen haben; seine Filme „Morgen Premiere“ und „Zwei Rippen von Adam“ sind mit überzeugendem Schwung und viel Sinn für Ironie gestaltet.

Aus dieser Zusammenstellung neuer Filme ersieht man die eigentliche Problematik der polnischen Filmproduktion seit 1963: die Reaktion auf die Ereignisse des Oktobers 1956 haben sich erst später in künstlerisch stark profilierten Filmen manifestiert. Die „patriotische Thematik“, die sich an Werken wie „Kanal“ und „Asche und Diamant“ deutlich zeigte, wurde bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten getrieben. Als dann Kawalerowicz in „Nachtzug“ und Münk in „Eroica,“ Versuche einer Entpathetisierung und Ernüchterung des „positiven Helden“ wagten und damit eine Reihe 'von Fil* men einleiteten, die sich — wie „Messer im Wasser“ oder „Die unschuldigen Zauberer“ — der Analyse auch zwiischen-ipenschlicher Verhältnisse widmeten, kam es zu Konflikten. Gomulka und Tadeusz Galinski, der Minister für Kultur, sprachen sich während einer Sitzung des Zentralkomitees im Juli 1963 dezidiert gegen diese (künstlerisch überaus produktive) Art von Filmen aus, die sich „von den Hauptproblemen des sozialistischen Aufbaues“ entferne. „Vor allem muß das Kino das kulturelle Bedürfnis und das Verlangen nach Unterhaltung von Millionen Menschen befriedigen und verantwortungsreiche ideologische und erzieherische Aufgaben erfüllen ... Viele unserer schöpferisch tätigen Intellektuellen verstehen nicht die Lage unseres Landes und den ideologischen Konflikt, der gegenwärtig in der Welt tobt, und sie geben dem ideologischen Druck der Bourgeoisie nach.“ Es verwundert nicht, wenn Gomulka dann „Messer im Wasser“ tadelte, und es überrascht auch nicht, daß die vom „sozialen Realismus“ abweichenden Stilarten gerügt wurden.

Wenn also die Qualität der Filme der fünfziger Jahre heute nicht mehr erreicht werden kann, liegt das an sehr konkreten äußeren Umständen: die Reden im ZK haben ihre Folgen. Zwar wurden seit dem historischen Oktober die Produktionsgruppen dezentralisiert (es gibt nun sieben solche Vereinigungen, die Gruppe „Kamera“ unter der Leitung Jerzy Bossaks und „Kadr“ unter der von Kawalerowicz stellen die besten exportfähigen Werke her), die Regisseure haben aber mit immer häufiger auftretenden Schwierigkeiten zu kämpfen. Ihnen fehlt zum Beispiel — wie vor kurzer Zeit den Schriftstellern das Papier — gutes Filmmaterial. Der ostdeutsche Agfa-Film muß stark belichtet werden, ein Faktum, das zu Kompromissen führt. Aufnahmen auf der Straße, Kamerafahrten in der Dämmerung (bei Verwendung von westlichem Filmmaterial kein Problem) sind in Polen oft nicht möglich. Daher werden die drei Ateliers stark frequentiert. In Warschau, Breslau und Lodz werden jährlich ungefähr 30 Spielfilme produziert (1955 waren es neun, 1960 bereits 21 Filme). Der Staat wirft also, scheint es, beträchtliche Summen aus; er ist der Produzent. Das polnische Filmpublikum ist jedoch so begeistert von seinen Regisseuren, daß die meisten einheimischen Filme ihre Kosten einspielen. Die Eintrittspreise in den Premierenkinos bewegen sich zwischen vier und zehn Zloty (ein Zloty ist nach dem offiziellen Kurs ein österreichischer Schilling); Menschenschlangen vor den Kinos sind keine Seltenheit.

Wajdas „patriotische Thematik“ durchzieht fast alle seine Werke. Unter dem Druck der Regierung muß er sie fortsetzen. Zwar wird der „sozialistische Aufbau“ nicht im Mittelpunkt stehen, aber der historische, den beinahe schon gestorbenen „positiven Helden“ wiederbelebende, von einer Analyse innerer Befindlichkeiten jedenfalls ablenkende Film zeigt durchaus regressive Tendenzen. Kawalerowicz und Has, jene Regisseure, die sich als erste einer inneren Problematik und damit den Möglichkeiten subtiler psychologischer Gestaltung zuwandten, werden gezwungen, sich von ihrem bisherigen Schaffen zu distanzieren — denn „unser Kino“, meinte Gomulka, „darf nicht als bloßes Werkzeug für Experimente herhalten ...“ Daß Kawalerowicz und Has, Konwicki und Morgenstern, Kutz und Hen jetzt historisch patriotische Breitwandfilme oder relativ anspruchslose Komödien drehen, spricht weniger gegen ihre Qualität als vielmehr für ihre Geschicklichkeit, akute Schwierigkeiten zu überwinden.

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