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Politischer Spaziergang auf den Kahlenberg

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Die ersten Sonnentage eines zeitlichen Frühjahres locken die Wiener aus ihrer Stadt. Sie wandern zwischen Weingärten hindurch — hinauf auf die Höhen des Kahlenberges. Weit ist hier der Blick. Er umfaßt zu Füßen die Hauptstadt eines Landes, in dem sich nach vielen bitteren Erlebnissen eine neue Lebensfreude und ein neuer Lebensmut regt, wie vielleicht noch nie seit 1914. Aber der Blick geht weiter. Er folgt dem Donaustrom. Er geht gegen Osten. Und das Auge erkennt in der klaren Märzluft mühelos am Horizont die Vorberge der Kleinen Karpaten. Wie nahe ist es bis dorthin — einige 60 bis 70 Kilometer nur — und wie weit… Wie weit sind dem Wiener von heute durch eine jahrelange unnatürliche Absperrung Länder und Völker gerückt, mit denen ihn nicht nur Jahrhunderte enger politischer und kultureller Beziehungen, sondern auch Bande persönlicher Verwandtschaft und Freundschaft verbinden. Wie weit… In diese Gedanken vertieft, tritt der Spaziergänger ein in die schlichte Kirche der kleinen Siedlung. Hier ist es stets dunkel. Aber immer wird dieses Dunkel erhellt durch zahlreiche Kerzen, die vor einem Bild der Heiligen Mutter von Czenstpchau brennen. In ihrem Licht erkennt man viele Tafeln an den Wänden. Deutsche Inschriften sind auf ihnen verzeichnet und — polnische Inschriften. Und der alte Kastellan, dem ein Leben in Wien weder seine polnische Heimat noch seine Muttersprache vįrgessin h”t lasseh. erklärt allen, die es hoch njeht wissen: vor diesem Altar ist det, König von Polen, Jan Sobieski, als Ministrant gekniet, bevor er als Oberbefehlshaber des großen Koalitionsheeres am 12. September 1683 in die Schlacht zog, die nicht nur Wien für alle Zeiten von der Bedrohung durch die Türken befreite, sondern auch eine Wende in der europäischen Geschichte herbeiführte. Neun silberne Leuchter aus dem Zelt des Großwesirs wurden als Weihegeschenk nach dem Jasna Gora geschickt: dort brennen sie noch heute. Wie nahe ist plötzlich ein Land und ein Volk, das man vor wenigen Minuten noch für weit entfernt und durch mehr als ein Jahrzehnt beinahe für unerreichbar gehalten hatte …

Der Leser möge verzeihen, wenn ich diese Impression an die Spitze meines Beitrages zu der Enquete setze, an der teilzunehmen mich Ihre Zeitung freundlicherweise eingeladen hat. Aber vielleicht ist sie doch mehr als nur eine historische Reminiszenz. Vielleicht sagt sie mehr aus qls langatmige Erklärungen, daß über alle Ungunst der Stunde hinweg der Strom besonderen Interesses und — ich darf es wohl auch offen aussprechen — besonderer Sympathie und Anteilnahme an dem Schicksal des polnischen Volkes hier in Oesterreich auch in dem vergangenen Jahrzehnt nicht zum Versiegen gekommen ist. Ihm gilt es, neue Quellen zuzuführen. Und hiermit bin ich auch schon bei der nüchternen Antwort auf die erste Frage ihrer Enquete „Normalisierung der Beziehungen zwischen Ost und West”. Ergehen wir uns nicht so sehr in kühnen Spekulationen und schillernden Theorien, beweisen wir auch hier jenen nüchternen Realismus, den gerade das polnische Volk auf dem Weg zu seiner Freiheit im vergangenen Oktober bewiesen hat. Normalisieren wir zunächst die Beziehungen zwischen den Menschen aus West und Ost, dann wird auch eines Tages die Normalisierung zwischen den Staaten verschiedener Gesellschaftssysteme weitere Fortschritte machen. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den Menschen aus West und Ost aber kann nur durch einen freizügigen Reiseverkehr bewirkt werden. Die Zeit in der ein solcher nur für nach bestimmten Grundsätzen ausgesuchte sogenannte „Freundschaftsdelegationen” möglich war, ist für Polen vorbei. Hoffentlich für immer. Die Einreise nach Polen erfährt heute keine Schwierigkeiten mehr. Es ist zu hoffen, daß dasselbe bald auch für die Ausreise gesagt werden kann. Ich weiß sehr wohl, daß Währungsfragen hier zu allem anderen noch eine Barriere bilden. Sie dürfte aber keine hemmende Mauer darstellen. Ein kühner Schritt vorwärts auf dem bezeichneten Weg wäre es aber ohne Zweifel, wenn die polnische Regierung sich in nicht allzuferner Zeit zu einer Abschaffung des bürokratischen Visasystems entschließen könnte. Der Besitz eines gültigen Reisepasses allein öffnet heute alle Grenzen, wenn man von Wien nach Westen oder Süden reist. Ist es auch vielleicht eine Utopie, dasselbe in absehbarer Zeit für alle Fahrten in östlicher Richtung anzunehmen — das Hochgehen der rotweißen Grenzschranken Polens könnte hier eine schöne Ausnahme machen. Eine Ausnahme — oder einen Anfang …

Wir haben zunächst von den Menschen gesprochen, denn ihrem Wohl zu dienen, ist doch Aufgabe aller Gesellschaftssysteme — und nicht umgekehrt. Doch jetzt auch ein Wort zur hohen Politik. Oesterreich hat in dem mit den vier Großmächten abgeschlossenen Staatsvertrag die Verpflichtung zur dauernden Neutralität übernommen. Das war keine Flucht aus der Weltgeschichte. Immer mehr gewinnt bei allen ernsthaft politisch denkenden Menschen unseres Landes die Ueberzeugung Raum, daß die österreichische Neutralität voller Möglichkeiten und Chancen ist, die in ihren letzten Auswirkungen zur Stunde noch nicht abgesehen weyden kennen. .Ja,. überlegen wir es genau.: wäre der polnische „Frühling im Oktober” 19. 6

überhaupt möglich gewesen, ohne daß ihm ein anderer Frühling vorausgegangen wäre? Ich spreche von dem Frühling 1955, jenem Frühling, in dem im Wiener Belvedere der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet wurde. Mag es auch über trübe Jahre hinweg den Anschein gehabt haben, als wären alle Schicksalsfäden zwischen den Völkern in der Mitte Europas endgültig gerissen, heute wissen wir, daß dies nicht der Fall ist, im Gegenteil. Oesterreichs Geschick ist daher für die anderen Völker „Zwischeneuropas” nach wie vor von großem Interesse, wie es anderseits Oesterreich und seiner Bevölkerung nicht gleichgültig sein kann, welche Wege seine näheren und weiteren Nachbarn hier in die Zukunft gehen.

Erst vor wenigen Tagen hat der polnische Botschafter in Paris eine sehr konkrete Aeuße- rung zu dem Plan der sogenannten verdünnten Zone zwischen den beiden Weltblöcken in Europa getan. Es wäre reizvoll, diese Ideen mit der Initiative des österreichischen Regierungschefs zu konfrontieren, der vor nicht langer Zeit in einer Rundfunkansprache darauf .zu sprechen kam. welche Vorteile ein neutrales Ungarn nicht nur für unser Nachbarvolk, sondern auch für das Wiederaufleben des großen west-östlichen Entspannungsgesprächs haben könnte. Neben Oesterreich als eindeutig „westlichen” neutralen Staat das Modell eines aus jeder Bündnisverpflichtung entlassenen und von fremden Truppen geräumten Staat „östlicher” Observanz zu sehen, wäre über alle Ungunst der Stunde hinweg wahrhaftig großer Anstrengungen wert.

Die letzte Frage, die Sie mir gestellt haben, ist vielleicht, die heikelste. Sie nimmt auf die „Lösung der deutschen Frage” Bezug. Da diese Frage nicht zuletzt in der Deutschen Bundesrepublik in den kommenden Wochen und. Monaten während des Wahlkampfes im Mittelpunkt heftiger Auseinandersetzungen stehen wird, möchte ich mir hier einige Zurückhaltung auferlegen. Eines aber kann wohl gesagt werden. Eine Lösung der deutschen Frage ist auf allen möglichen Wegen denkbar, nur nicht auf einem: durch direkte Gespräche zwischen Bonn und Pankow. Die Regierung der Deutschen Bundesrepublik sieht in der DDR sowohl aus innen- wie auch aus außenpolitischen Gründen keinen gleichwertigen Gesprächspartner.

Ein besonderes Kapitel in der dornigen deutschen Frage ist die endgültige Regelung der deutschen Ostgrenze, eine Frage, die gerade für Polen von vitalem Interesse ist. Wenn es mir heute gestattet ist, in einer polnischen Zeitung zu Wort zu kommen, so möchte ich nicht davor zurückschrecken, auch dieses „heiße Eisen” anzufassen. Ich habe während mehrerer Besuche in der Deutschen Bundesrepublik, zuletzt anläßlich des Staatsbesuches des österreichischen Regierungschefs in Bonn, in vielen politischen Gesprächen und Einzelbegegnungen den Eindruck gewinnen können, daß von den Repräsentanten des heutigen Deutschland niemand daran denkt, mit Gewalt eine Revision der Oder-Neiße-Grenze zu erzwingen.

lieber dem Kahlenberg sind die ersten Schatten aufgezogen. Der Wind, der vom Osten bläst, ist kühl… Kann jedoch der Winter, wenn einmal sein Eis und seine Kälte durch eine Reihe freundlicherer Tage gebrochen ist, noch einmal mit aller Gewalt zurückkehren? Wir hoffen nicht. Unser aller Hoffnung ist nicht nur eine der Meteorologie …

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