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Polnische Silhouetten

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Wir verdanken die nachstehenden Schilderungen einem ausländischen Publizisten, der in den letzten Wochen eine Kreuz- und Querfahrt durch Polen unternahm.

„Die Furche"

Zwischen Krakau und Warschau liegt eine kleine Weit. Krakau ist auch vor dem Krieg stets noch mehr „Mitteleuropa" gewesen als die polnische Hauptstadt. Heute ist der Unterschied auch äußerlich enorm, denn Krakau ist nur wenig zerstört, Warschau aber ein Schutthaufen.

In Warschau werden dem Fremden die Abende leicht etwas lang und alles ist irgendwie düster und traurig. Die Ruinen rundum sind kein anheimelnder Hintergrund. Aber es gibt auch hier einige Lokale, wo polnische Jazzkapellen bemüht sind, die neuesten Broadway- Rhythmen zu imitieren. Der Andrang zu diesen Lokalen ist so groß, daß man stets Leute abweisen muß. Da die Ausländer in Warschau sehr selten sind, handelt es sich um Polen. Tatsächlich führt eine gutgekleidete Menge, die Damen hochelegant, die Herren mit dreifachen Schuhsohlen, ein angenehmes Leben in der Ruinenstadt. Das ist seltsam, denn einmal Ausgehen kommt zu zweit leicht auf 3000 bis 4000 Zloty und selbst die hohen Beamten verdienen nicht mehr als 15.000 im Monat...! Aber der merkwürdige Kontrast wiederholt sich: in Danzig verdient ein Hafenarbeiter ungefähr 11.000 Zloty im Monat. Das nabe Zoppot, die fashionable Stadt des Spieikasinos, ist eine mit bemerkenswerter Vitalität noch erhaltene „kapitalistische Insel“ inmitten einer völlig geänderten Welt. Die kommunistisch-sozialistische Regierung hat sonst soziale Reformen von bedeutendem Ausmaß durchgeführt und das Alltagsleben in Polen völlig verändert. Der private und öffentliche Sektor sind genau abgegrenzt. Unternehmungen, die mehr als 50 Arbeiter acht Stunden täglich beschäftigen, werden verstaatlicht. Aber es verbleiben immer noch mehr als 14.000 private Unternehmer, die zusammen rund 1,120 000 Arbeiter beschäftigen, während der staatliche Sektor einschließlich der Eisenbahnen. 1,500.000 Arbeiter umfaßt. Die Kaufleute und Industriellen des privaten Sektors beklagen sich zwar über hohe Steuern, Kontrollen und gewisse Beschränkungen, aber ihre Geschäfte gehen gut. Von diesen Verdiensten der Unternehmer lebt der „freie Markt“. Das Geld wird leicht und ohne Nachdenken ausgegeben, denn niemand hat Lust zu sparen oder auf ein Morgen zu warten. Das Versorgungsproblem hat die polnische Regierung so gelöst, daß sie eine Art „p r i v i- legierten Sektor" geschaffen hat. Die Arbeiter der verstaatlichten Betriebe erhalten einschließlich ihrer Familien, bedeutende Mengen von Lebensmitteln zu billigen Preisen. Unleugbar lebt der polnische Arbeiter der Staatsbetriebe heute unter Bedingungen, die wesentlich besser sind als vor dem Kriege. Doch ist, wie mir ein kommunistischer Herr sagte, Polen „noch kein wirklich sozialistischer Staat“. Aber lächelnd . fügte er hinzu: „Warten Sie einige Jahre und wir werden sehen. Im Augenblick brauchen wir neben dem staatlichen Sektor noch den privaten. Später wird man iehen. Wir haben Zeit...“ Den aus dem Westen kommenden Ausland interessiert am meisten, inwieweit es hier noch eine Freiheit der Menschen gibt. Wenn Freiheit darin besteht, ohne Polizeikontrolle zu kommen und zu gehen, zu kaufen oder zu verkaufen, frei zu schreiben und zu telephonieren oder zu telegraphieren, ohne eine Identitätskarte vorweisen zu müssen, dann herrscht in Polen Freiheit. Auch in der Ausübung der Religion bestehen keine äußerlichen Hindernisse. Doch schon die Presse des Landes wird von der Regierung straff gelenkt. Die Öffentlichkeit erhält jederzeit ein absolut uniformes Bild der Vorgänge im Lande und in der Welt dargeboten. So greifen zum Beispiel alle Zeitungen in fast gleichen Wendungen den Marshall-Plan an, erlaubt sind auf literarischem und künstlerischem Gebiet lebhafte Diskussionen, es geschieht sogar, daß die Thesen des Marxismus in mandicn Zeitschriften scharf angegriffen werden. Wenigstens' derzeit noch.

Die einzige ernsthafte Opposition steht im katholischen Lager, zwar ist der Kirche ihr Grundbesitz verblieben und nicht der Bodenreform verfallen, auch der Religionsunterricht blieb in allen privaten und öffentlichen Schulen erhalten. Aber grundsätzliche Einwände kommen aus der Tiefe alter katholischer Tradition.

Im täglichen Leben kritisieren die Polen die Maßnahmen des Regimes ziemlich offen. Immerhin kursieren über die geheime Staatspolizei viele düstere Gerüchte und sicher ist es richtig, daß sich diese Polizei, deren Machtmittel groß sind, für das Privatleben der Bürger mehr interessiert, als diesen lieb ist. Von Zeit zu Zeit werden Leute, vor allem Angehörige der alten Klassen, Grundbesitzer, Großkaufleute, Industrielle, Offiziere der Armee

Pihudskis, vorgeladen und langen Verhören unterworfen. In der Regel kehren sie eingeschüchtert, aber sonst unbelästigt, wieder nach Hause zurück. Wie es jetzt in Europa schon üblich geworden ist, beherbergen auch die polnischen Gefängnisse Tausende von Häftlingen, die auf ihre Aburteilung durch die Militärgerichte warten. Die vier Parteien des Regierungsblocks — Kommunisten, Sozialisten, Bauernpartei und Demokraten — sind sich über die großen, zu lösenden Probleme völlig einig: Verbesserung der Lebenshaltung der breiten Masse, Wiederaufbau und „P o 1 o- n i s a t i o n“ der von Deutschland abgetrennten Westgebiete. Der Haß gegen die Deutschen ist von glühender Hitze. Auf meiner Reise, die mich kreuz und quer durch ganz Polen führte, begegnete ich ihm überall.

In der Nähe von Wroclaw, wie Breslau heute heißt, in einem kleinen Dorf, das vom K rieg zur Hälfte zerstört ist, führte mich ein polnischer Pächter in eine Baracke, wo Kohl und Salzgurken in riesigen Bottichen zubereitet wurden. Etwa ein Dutzend junger Frauen, in Lumpen gehüllt, um die sich niemand kümmerte, arbeiteten in einer finsteren Ecke. „Das sind Deutsche“, sagte er mir, „sie werden im kommenden April abgeschoben.“ Die Frauen verstummten, die Polen auch. Eine Art stiller und endgültiger Haß lag über dieser Gruppe von Menschen. Wahrscheinlich müssen viele Jahrzehnte verstreichen, um den Abgrund auszufüllen, der hier zwischen zwei Völkern durch eine blutige Schreckensherrschaft aufgerichtet worden ist. Immer wieder hört man es: „Nein, wir Polen sind nicht bereit, unsere fünf Millionen Toten zu vergessen!“ Zu gleicher Zeit hat sich in der breiten Masse des Volkes auch die traditionelle Haltung den Russen gegenüber kaum irgendwie geändert. Man sieht in Polen nur selten russische Soldaten. Erscheinen sie aber irgendwo, so verfinstern sich die Mienen der Menschen. Viele Gerüchte zirkulieren: „Die Russen nehmen die ganze Kohle weg...!“ Aber man kann nur feststellen, daß die polnischen Haushalte überheizt sind, es mangelt nicht an Steinkohle und Rußland kauft zu einem sehr vorteilhaften Preis jährlich sechs bis sieben Millionen Tonnen auf Grund eines russisch- polnischen Handejsvertrages im Austausch gegen wichtige Rohstoffe. Diese sieben Millionen Tonnen sind übrigens nur zwölf Prozent der Gesamtförderung.

Die polnische Jugend aber lernt in allen Schulen russisch, die Konzerte russischer Musik haben in Warschau volle Häuser, nicht aber die russischen Filme. Einsichtigen Polen ist es klar, daß es unmöglich ist, den geschichtlichen Haß an allen Grenzen zu nähren. Noch ist alles im Werden und vieles noch ungewiß. So vieles, daß nur das glückliche sanguinische Temperament des polnischen Volkes darüber hinweghelfen kann.

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