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PORTRÄT EINES ALTEN MANNES

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Vom Turm der Jesuitenkirche schlug es fünfmal. Der alte Sah er auf der Wiese ein weißes Lamm, war sein Herz

Mann erwachte und drehte sich auf den Rücken. Um halb sechs würde er aufstehen, den Gasstrahler in der Küche andrehen und Kaffee kochen. Kaffee sollte er eigentlich nicht trinken, seines schwachen Herzens wegen; aber er kümmerte sich nicht um die Warnungen des Medizinalrats. Dieser alte Gauner trank Kaffee, rauchte und soff Kognak und maß sich niemals den Blutdruck. Heute, an seinem 75. Geburtstag, würde der alte Mann zwei Schalen Kaffee trinken. Dieser Gedanke versetzte ihn in boshaft-heitere Stimmung. Was für ein Spaß, im Dezember Geburtstag zu haben, wenn die Blumen so kostspielig waren. Keiner würde wagen, ihm einfach Chrysanthemen zu schenken, die er seit Jahren laut und deutlich verabscheute. Rosen und Nelken mußten es sein, kostbare Glashausblumen. Rosen, Lilien, Nelken, alle Blumen welken, aber zuvor würden sie eine Menge Geld kosten.

Der alte Mann starrte in die Dunkelheit. Es war wirklich zum Brüllen! Wenn es sich einrichten ließ, wollte er auch im Winter sterben. Sie konnten sich einfach nicht erlauben, ihm billige Papierblumenkränze auf den Lehmhügel zu legen. Unrat mußte mit Rosen, Lilien und Nelken bedeckt werden. Der alte Mann hatte sich über diese Narretei zeitlebens amüsiert. Sollten sie nur zahlen für ihre zarten Gefühlchen!

Du bist ein boshaftes altes Scheusal, stellte er sachlich fest.

Komisch war das! Einmal, das wußte er sicher, war er kein boshaftes Scheusal gewesen. Wie war das eigentlich gekommen? Wurde man es allmählich oder schlagartig und, vor allem, geschah dies allen oder nur einigen? Seine Nichte hatte ihm vor einiger Zeit ein Buch geborgt, ein langweiliges, unlesbares Buch, aber ein paar Seiten davon waren ihm in Erinnerung geblieben. Irgendein Mensch verwandelt sich in einen riesigen Mistkäfer oder dergleichen. Der Mann, der das Buch geschrieben hatte, mochte ein Narr sein, aber an dieser einen Geschichte war etwas dran. O ja, das stand fest.

Er hatte die Geschichte mit steigendem Unbehagen gelesen und wußte noch immer nicht, ob ihn ihr Ende befriedigte oder enttäuschte.

Zwischen fünf und halb sechs Uhr morgens dachte er jetzt häufig an den Kerl, dem diese üble Verwandlung widerfahren war, voll Mitgefühl und Schadenfreude, immer aber wie an einen Schicksalgefährten. Wurde denn er selber, auf dem Rücken liegend, die Tuchent über den Bauch gewölbt, zur Decke starrend, jenem Käfer nicht von Tag zu Tag ähnlicher? Jedenfalls war es suspekt, wie seine Finger- und Zehennägel immer mehr verhornten

Diese morgendlichen Betrachtungen waren eher anregend als furchteinflößend. Man mußte den Dingen auf den Grund gehen. Dies zu tun, hatte er schon als kleiner Junge begonnen. Nur einmal, um die Fünfzig, hatte ihn die Vernunft verlassen, als ihm plötzlich klargeworden war, daß ein Mann, der den Dingen auf den Grund geht, nicht von aller Welt geliebt als sanfter, weißhaariger Greis endet. Denn auch er litt unter Anfällen, in denen er wünschte, geliebt zu werden, freundlich auszusehen und niemanden zu erschrecken. Ach, wie jener Käfer sich darnach sehnen mußte, auf deni hornigen Rücken gestreichelt zu werden, wohl zu duften und zu hören, er sei schön und angenehm.

Aber, zum Teufel, das mit den Illusionen war schiefgegangen, und er würde nicht als sanfter Greis enden. Nach gewaltigen Anstrengungen hatte er endlich begriffen, daß er unheilbar war. Und so ging er weiterhin den Dingen auf den Grund.

nicht erfüllt von Freude an der Schöpfung. Dazu glaubte er kein Recht zu haben. Er war jederzeit bereit, weiße Lämmer aufzufressen. Nichts unterschied ihn von den Schlächtern. Gerade, daß er Tiere liebte, mit einer dumpfen Zärtlichkeit, war doch sicherlich eine böse Verirrung. Er verachtete die Streichlet und Mäh-Mäh-Rufer. Dies, fand er, stand nur Kindern, Geistesschwachen und Vegetariern zu.

Was die Kinder betraf, so wirkten sie fast ebenso verwirrend wie Tiere. Auch sie erregten Zärtlichkeit und Trauer. Er verzichtete bewußt darauf, ihre unschuldige Zuneigung mit Schokolade zu kaufen. Die Kinder kümmerten sich auch nicht um ihn, sie spielten ruhig weiter, wenn er im Park starr und düster über sie hinwegsah.

Auch er hatte einmal ein Kind gehabt. Damals hätte er dem Wunsch seiner Frau nicht nachgeben dürfen. Der alte Mann erinnerte sich, wie gescheit, gesund und heiter dieser kleine Junge bis zu seinem sechsten Jahr gewesen war, ein Wunder an Vollkommenheit. Es war die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen, mitanzusehen, wie dieses Wunder im Laufe der langen Schulzeit zu einem mürrischen, unschönen Jüngling wurde, der jedes Selbstvertrauen verloren hatte und dem man endlich so viel Bosheit und Furcht eingepflanzt hatte, daß er hoffen durfte, im Leben vorwärtszukommen. Die Nachricht vom Tod dieses Sohnes hatte den alten Mann nicht so schmerzlich getroffen, wie er es erwartet hatte. Heute war dies alles längst Vergangenheit. Wirklich war nur noch der langsame Verfall: die braunen Flecken auf dem kahlen Schädel, die nahende Taubheit, Rheuma und Sodbrennen. Das Essen schmeckte nicht mehr wie früher, selbst die Gerüche hatten sich verändert.

Die Einsamkeit des Alters war nicht so schlimm, einsam war er immer schon gewesen. Der Drang, die gläserne Wand zu zerbrechen, war schwächer geworden mit den Jahren. Die Einsamkeit war jetzt mehr an der Oberfläche, eher lästig als tragisch. Es war lästig, nur Brocken eines Gespräches zu verstehen, und es war lästig, wenn ein paar junge Leute glaubten, ihn gelegentlich besuchen zu müssen. Sie langweilten ihn, und er langweilte sie, aber er konnte sie nicht wegschicken. Ihnen zu erklären, warum er sie nicht brauchte, wäre viel zu umständlich gewesen. So saß er mit starrem, angestrengtem Lächeln in ihrer Mitte und rauchte mehr, als ihm guttat.

Sein früheres Wohlwollen für junge Leute schlug immer mehr in Bosheit und Ungeduld um. Ihre gesunde junge Haut, die festen Zähne und vor allem ihr törichter Optimismus machten ihn mürrisch. Auch er hatte dies alles einmal besessen, und es hatte ihn doch nicht davor bewahrt, das zu werden, was er heute war. Auch sie würden einmal, in vielen Jahren, verwandelt in ihren Betten liegen, in trüber Dämmerung dem Verfall preisgegeben.

Der alte Mann dachte flüchtig an seine Frau und war froh, daß sie nicht mehr lebte. Die Vertraulichkeit alter Paare, diese Mischung aus Abscheu, Mitleid und Resignation, war ihm immer widerwärtignortw nsoirou -9_ .tnsc

Er atmete schwer und schlief wieder ein. Nach genau fünf Minuten erwachte er von neuem. Er hob die dünnen Lider und sah vor sich die Umrisse seiner knotigen Hände und dahinter den schwarzen Tuchentberg. Die nächsten zwölf Stunden galt es, mit Anstand zu überstehen. Länger als bis sechs Uhr würde wohl keiner der Gratulanten bleiben. Dieser Gedanke ermunterte ihn so weit, daß er sich ruckartig aufsetzte und mit den Füßen nach den Pantoffeln angelte.

Der alte Mann hatte recht behalten: Rosen und Nelken, wohin das Auge blickte; weiße Rosen, Teerosen, rosa Nelken, gelbe Nelken und nochmals rosa Nelken. Seine Schwester hatte keine Blumen gebracht, dafür die Geburtstagstorte, die wie alle Konditortorten nur nach Zucker schmeckte. Sie, die Schwester, hatte die Blumen in Vasen aufgeteilt und sich dabei sichtlich unbehaglich gefühlt. Sie war erst sechzig und ganz gesund, und sie vermutete, daß ihr Bruder sie beneidete. Diese dumme, alte Bruthenne! Nicht, daß sie das nicht schon immer gewesen wäre — er konnte sich nur nie daran gewöhnen. Von allen seinen Geschwistern war gerade sie übriggeblieben, die er nie gemocht hatte. Wie sie sich alle angestrengt hatten, freundlich zu sein, und wie sie verlegen grinsend umhergesessen waren! Und das natürlich mit Recht: was konnte ein 75. Geburtstag anderes sein als eine einzige Verlegenheit. Der Jubilar hatte sich sehr bemüht, ein lieber alter Herr zu sein. Vermutlich hatte er dadurch besonders beklemmend gewirkt. Das Gesicht tat ihm weh vom angestrengten Lächeln, das noch immer wie eine Maske daran klebte. Er schnitt Grimassen, um es endlich loszuwerden, und ging dabei von Blumenstrauß zu Blumenstrauß. Keine einzige Blüte duftete. Das mochte an seiner Nase liegen oder einfach daran, daß Glashausblumen nicht duften. Jedenfalls sahen sie prächtig aus, ein wenig scheintot zwar, lauter Schneewittchen im Sarg. Sehr bald mußten sie ihr eisgekühltes bißchen Leben verhauchen.

Der alte Mann tappte zum Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte eher nach dürrem Buchenlaub als nach Tabak. Vor vielen Jahren hatte er einmal Buchenblätter geraucht. Leichter Schwindel überfiel ihn, und für einen Herzschlag lang wurde er zu dem kleinen Jungen im dämmrigen Schuppen: rascher Kinderatem, süßer Speichel auf der Zunge. Etwas streifte sein Herz und zog sich erschreckt zurück. Auf den Schreibtisch gestützt, schüttelte der alte Mann den Kopf, als wehre er eine Fliege ab.

Auf dem grünen Löschblatt lag eine große Schachtel: zehn Päckchen seiner Lieblingszigaretten. Das war seine Nichte — schenkte Zigaretten, einem alten, herzschwachen Mann Zigaretten. Sie war die einzige vernünftige Person, die in seiner Familie noch am Leben war. Wie dumm die anderen alle geschaut hatten. Seine Schwester war ganz rot geworden vor Ärger. Seine Nichte hatte ihm zugelächelt und gezwinkert, und er mußte senil oder blind sein, wenn dieses Lächeln nicht hieß: Alter Mann, ich hab dich gern.

Weshalb mochte sie ihn? Er war nicht liebenswürdig, machte kaum Geschenke und besaß auch kein nennenswertes Vermögen. Er hatte sie, als sie ein kleines Ding war, nie auf den Knien geschaukelt und war überhaupt einer der unergiebigsten Onkel gewesen, die je gelebt hatten.

Er kratzte sich die Glatze und dachte nach. Junge Mädchen schwärmten manchmal für ältere Herren, aber sie war kein junges Mädchen, sondern eine Frau mit viel Vergangenheit (die Familie knirschte noch heute mit den Zähnen über ihre Abenteuer), und er war nicht älter, sondern alt. Vielleicht war sie gar, wie diese Psychologen behaupteten, an irgendein Gesicht fixiert.

Der alte Mann holte seinen Rasierspiegel aus der Lade und besah sich im Licht der Schreibtischlampe. Er stöhnte laut. Wenn diese verdammten Psychologen recht hatten, war seine Nichte ein bedauernswertes Geschöpf. Unfug, lauter Unfug! Er hielt den Spiegel ein wenig schief und betrachtete lange und ernsthaft sein Gesicht. Es war ein ganz gewöhnliches Gesicht: nie schön gewesen und jetzt auch noch vom Alter zerstört. Und dann wußte er plötzlich, was seine Nichte zu ihm zog. Sie mußte schon lange vor ihm jenen winzigen Punkt in seinen Augen entdeckt haben, hinter dem die Schwärze und Kälte lauerte. Ja, so war es, der Tod saß schon dort drinnen — und sie hatte es bemerkt.

Der alte Mann trug den Spiegel an seinen Platz zurück, und es tat ihm leid, daß er in Zukunft seiner Nichte aus dem Weg gehen mußte. Er war ja schließlich kein Monstrum von einem fremden Stern, das man erforschen und sezieren mußte. Er lächelte bei diesem Gedanken und war seiner Nichte durchaus wohlgesinnt. Sie tat nichts anderes als er: den Dingen auf den Grund gehen. Na ja, schön, sollte sie.

Er war jetzt sehr müde, merkwürdig müde, vielleicht würde er noch einen Sprung in den Park tun und ein paarmal tief atmen.

Zwei Stunden später lag der alte Mann wieder in seinem Bett, ausgestreckt auf dem Rücken, von seinem Gewicht auf die Matratze gepreßt. Er wartete auf den Schlaf.

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