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Prager Schattenspiele

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Der Besuch in Prag führt aus einem klar erkennbaren Grund zu einer tiefen Erschütterung. Hier nämlich ist unter den fremdsprachigen Satelliten Moskaus die Schizophrenie der gesamten Situation am grellsten sichtbar. Schon die historische Gegebenheit sorgt für einen Hintergrund, der zum üblichen kommunistischen Alltag in schärfstem Widerspruch steht. Der Widerspruch wird noch durch verschiedene Momente ins fast Dämonische gesteigert: so etwa veränderte der Krieg das Stadtbild Prags nicht im geringsten, und außerdem investierte das neue Regime eine gigantische Summe, um die unzähligen herrlichen Kirchen, Paläste, Bürgerhäuser mit genauer Sachkenntnis bestens zu renovieren. Alte Prager erklären, daß ihre Stadt baulich noch nie in so gutem Zustand war wie jetzt. Wie eine Vision überragt der Veitsdom die Burg auf dem Hradschin und die Dächer der Paläste auf der Kleinseite, blickt auf die Moldau, auf die Teyn- kirche, den Ring, auf die kleinen Gassen der Altstadt. Ein mächtiges Gloria zu Ehren der Kirche, des Adels und der Bürgerschaft. Und dann merkt man, es ist so vieles nur Kulisse. Eine Kulisse, die gespenstisch leer gegen den Himmel ragt und in ungeheurer Spannung zu all jenem steht, das sich vor ihr und in ihr heute abspielt. Denn auch das, was sich dort abspielt, ist deutlicher und härter geprägt als anderswo in den Satelliten. — Der Kommunismus ist radikaler, hintergründiger, intelligenter durchgeführt als in anderen östlichen Staaten. So stehen zwei Extreme einander gegenüber: das grandiose Prag als vielleicht vollkommenste Dokumentation alles dessen, was uns an Tradition aus dem alten Europa teuer ist, und der heutige Tag einer total und unnachgiebig realisierten Volksdemokratie.

„Preußen” in der „Schweiz”

Wenn man nun diesen kommunistischen Alltag seinerseits genauer ansieht, so zeigt sich auch an ihm eine merkwürdige Janushaftigkeit. Denn einerseits ist das Bild der Auslagen, der Straßen, der Menschen in Prag unter allen Satelliten dem Westen am nächsten. In den Läden sind Nahrungsmittel in erheblicher Opulenz und raffinierter Vielfalt gestapelt, die Kon fektion sieht gut aus und wird mit Geschick und Geschmack ausgestellt. Die Passanten sind in unserem Stil gekleidet, die Röcke sind kniefrei in einem Ausmaß, das unsere Gewohnheiten noch übertrifft, die weibliche Jugend trägt überwiegend langes Haar, Pferdeschweif und Blond. Blond ist die Devise. Kaum woanders sieht man soviel, übrigens ausgezeichnet gefärbtes Haar. Die jungen Männer tragen in bemerkenswertem Prozentsatz Bärte und Pullover. In den Restaurants funktioniert die Bedienung. Man hat gut organisiert. Die Preise und Löhne sind freiliöh eine andere Frage. (Nur kurz zum Vergleich: ein Ladenmädchen erhält in offizieller Umrechnung 1500 bis 1880 S, der Cheflektor des führenden schöngeistigen Verlages 4000 S monatlich, ein Konifektions- anzug kostet zwischen 1000 und 2500 S, der Meter Schafwollstoff aber rund 1250 S.) Hinter der Schauseite steht eine andere Realität. Man nennt die CSSR heute die Schweiz des Ostens, die Tschechen die Preußen unter den Slawen. Beide Vergleiche haben etwas für sich. Jedenfalls besteht die tägliche Wirklichkeit nicht nur aus 46stündiger Arbeitszeit — am Samstag wird natürlich überall gearbeitet —, sondern außerdem aus „freiwilligem” und unbezahltem Dienst in sogenannten „Arbeitsbrigaden”. Das bedeutet etwa, sonntags in Autobussen aus der Stadt auf die Felder fahren und Rüben ernten. Oder irgendwo ein Messegelände vorbereiten. Für die Brünner Messe wurden auf diese Weise zwei Millionen (!) Arbeitsstunden aufgewendet. Dazu kommt eine besonders rigorose Einstellung zur Kirche, zum Studium, zu einstmals bürgerlichen Kreisen, zur Existenz des einzelnen. Es gibt in ganz Böhmen keinen freien Bischof mehr, nur Kapitelvikare. Die Verbindung mit Rom ist abgeschnitten, jeder Priester auf sich selbst angewiesen und Predigtverboten — im mildesten Fall — ausgesetzt. In den Kirchen gibt es nur noch wenige Messen, da die Priester selten geworden sind. Der Besuch der Messen ist verschieden. Mutige Priester, die mit den politischen Behörden nichts zu tun haben, füllen die Kirche bis auf den letzten Platz, doch stehen Aufpasser in der Gemeinde, und das Predigtverbot kann jederzeit erlassen werden. Ich habe an einem einzigen Sonntag mehr als ein Dutzend Kirchen besucht. Und wo es volle Kirchen gab, bestand die Gemeinde zu einem hohen Prozentsatz aus Jugend. Aus jungen Männern in Pullovern, aus Mädchen mit kurzen Röcken und überlangen Haaren. Aus jungen Paaren, die gemeinsam zur Messe gingen. Es ist eine Legende, daß in den Oststaaten nur alte Leute der Kirche die Treue hielten. In der CSSR ist der Kirchgang oder das Taufenlassen eines Kindes eine Mutprobe von beträchtlichem Grad. Man wird gesehen und es wird vermerkt. Ein schlechter Punkt ist sicher. Aber gerade dieses Vorgehen erweckt die Opposition der Jugend. Mittelschule und Universität sind von solchen und anderen Punkten abhängig, denn es gibt nur eine beschränkte Anzahl von Studienplätzen, und wer sie erhält, das entscheidet ein Ausschuß. Auch bei den Berufstätigen ist das Vorwärtskommen wesentlich von der politischen Kartei abhähgig. Und irgendwelche bürgerliche oder politische Belastungen bedeuten — wenn sie nicht durch Aktivität im neuen Sinn aufgewogen werden — ein Leben auf dem absoluten Existenzminimum, meist bei schwerer körperlicher Arbeit, ohne Rücksicht auf Alter oder früheren Beruf. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die grundsätzliche Intoleranz in der CSSR mit schärfster Konsequenz ausgeführt wird.

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