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Priestley als Literaturkritiker

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DER EUROPÄER UND SEINE LITERATUR. Von J. B. Priestley. Aus dem Englischen von Paul Baudisch. Verlag Kurt Desch, Wien-München-Basel 1960. Neue Sammlung in Paperbacks. 535 Seiten. Preis 11.80DM.

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DER EUROPÄER UND SEINE LITERATUR. Von J. B. Priestley. Aus dem Englischen von Paul Baudisch. Verlag Kurt Desch, Wien-München-Basel 1960. Neue Sammlung in Paperbacks. 535 Seiten. Preis 11.80DM.

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Der bekannte englische Dramatiker und Romancier J. B. Priestley zeigt sich uns in diesem Buch als verständnisvoller Leser und kluger Kritiker der großen Literatur. Wir sind gewohnt, allgemeine Darstellungen der Literatur zumeist von „zünftigen“ Literaturhistorikern zu erhalten — um so interessanter ist es, diesmal einen schöpferischen Autor, der eine besonders innige Beziehung zu den Phänomenen und Problemen seines Metiers hat, zu hören.

Priestley wollte, wie er selbst sagt, keine wissenschaftliche Literaturgeschichte schreiben, denn er beanspruche keineswegs, als gelehrter Mann zu gelten. Was ihn zur Abfassung des Buches bewog, war die Überzeugung, „daß wir in einer schweren Krisenzeit leben, in der wir die verzweifeltsten Entschlüsse zu fassen haben, und daß eine Schilderung des Europäers — des abendländischen Menschen — an Hand der von ihm geschaffenen und geliebten Literatur uns erleichtern könnte, uns selber zu begreifen, wo wir stehen und wie wir dorthin gelangt sind“. Der Akzent liege nicht auf dem Wort Literatur, sondern auf dem Wort Europäer. Daraus ergab sich auch das Prinzip der Auswahl und der Darstellung.

Der Ausdruck „Europäer“ wird in seinem alten geographischen und kulturellen Sinn gebraucht, ohne Rücksicht auf die derzeitigen „Eisernen Vorhänge“. Rußland ist ebenso einbezogen wie Amerika. Es handelt sich also um jenes Schrifttum, das europäischer Geistesbesitz geworden ist. Priestley beginnt seine Wanderung durch die Literaturgeschichte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts — zur Zeit, als die beweglichen Druckbuchstaben erfunden wurden — und beendet sie in den Jahrzehnten zwischen den beiden letzten großen Kriegen. (Daß er die Literatur der Antike trotz ihrer fundamentalen Bedeutung außer Betracht ließ, ist ein fühlbarer Mangel.) In fünf großen Abschnitten gibt er eine Übersicht über die literarische Entwicklung, die fesselnd und geistreich geschrieben ist. Seine Wertungen sind durchaus persönlich, und die Leser werden über vieles wohl anderer Meinung sein, aber gerade dadurch erhält die Darstellung Frische und Lebendigkeit. Alles," was er schreibt, trägt den Stempel des Selbsterlebten und spricht uns weit mehr an als so manche gelehrte Kompilation. Priestleys feines Verständnis für die Bedingungen des dichterischen Schaffens zeigt sich in vielen klugen Bemerkungen über einzelne Autoren und Werke. Oft gelingen ihm ausgezeichnete prägnante Charakteristiken und Aperęus, die einen bestimmten Dichter oder eine bestimmte geistige Situation scharf beleuchten; oft ist er witzig, mitunter auch ein wenig boshaft. Leider weiß er über die Großen der deutschen Klassik nichts Besonderes zu sagen. In der deutschen Dichtung der neueren Zeit dürfte er sich besser auskennen. Da und dort sind Flüchtigkeiten festzustellen. Die literarischen Formen seines eigenen Schaffens — Drama und Roman — liegen ihm am nächsten, daher sind auch seine Ausführungen über diese am gehaltvollsten. Über gewisse moderne Strömungen der Literatur, in denen sich die innere Problematik des Menschen von heute spiegelt, schreibt er so manchen treffenden Satz und weist warnend auf die menschlichen und künstlerischen Gefahren der extremen Einseitigkeit hin.

Einige Mängel des Werkes sind nicht zu übersehen, aber es weist auch viele Vorzüge auf. Alles in allem: ein lesenswertes Buch, die aufschlußreiche und anregende Auseinandersetzung eines Europäers mit seiner Literatur.

Dr. Theo Trümmer

ZUR LIEBE GESCHAFFEN. Eine Begegnung in Briefen. Von Siegfried Freiberg. Margarete-Friedrich-Rohrer-Verlag, Wien-Innsbruck-Wiesbaden 1960. 94 Seiten. Preis 32 S.

Ein junges Mädchen, das der Frau den Gatten nimmt. Welch oft gewähltes, abgebrauchtes Thema! Wie ist es hier gestaltet! Und das zeigt den großen Könner Siegfried Freiberg; in diesem kleinen Werk wurde die Problematik auf eine ganz neue und fesselnde Art angepackt: die beiden Frauen schreiben einander Briefe. Noch der erste, vielleicht auch der zweite und dritte Brief lassen den Leser nicht allzuviel erwarten. Da sind die Empörung und der Pathos der gekränkten Ehefrau, der es eine Zumutung scheint, mit einer „Person“, die ihr den schon vor langen Jahren Angetrauten nimmt, sich noch zu verständigen — denn letztlich ist jedes Briefschreiben und -lesen, selbst bei der schärfsten Ablehnung des Partners, ein Verständigen — und da sind die Offenheit und entwaffnende Ehrlichkeit des jungen Mädchens.

Mit jedem neuen Brief kommt die Innigkeit des jungen Menschen, der sich voll Vertrauen an die ältere Gefährtin wendet, mehr zum Ausdruck. Über diese Schreiben könnte man Rilkes Worte setzen: „Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassenᾠ“; je mehr die Innigkeit des Mädchens zum Ausdruck kommt, um so mehr verlieren die Briefe der Frau an Pathos. Mit jedem neuen Schreiben erfährt das Buch eine Steigerung sowohl im Thematischen als auch im Sprachlichen. Wie schön ist das Bild, wenn Freiberg einmal die junge Iris schreiben läßt: „Ohne Mühe ergibt sich, was plötzlich vor uns ist als Abbild des Fühlens: die silberne Flugspur der Lerchen, die im ununterbrochenen Jubelgesang in die Lüfte steigen. Es ist die Schönheit der Liebe.“

Von dieser Schönheit, aber auch von der seelischen und körperlichen Liebeskraft wird gesprochen. Und wenn es der Frau auch nicht leicht fällt, so gewinnt sie am Ende den Mann, der von den geheimen Fäden, die sich von Frau zu Frau spinnen, nichts ahnt, doch nur durch ihre stille, wirklich grenzenlose Liebe zurück, die so groß ist, daß sie am Ende auch die Rivalin einschließen und sie zur Freundin machen kann.

Es ist ein entzückendes, ein charmantes Buch, ein Buch, das nicht nur die Männer gerne lesen werden, sondern es ist auch ein Buch, das alle Frauen lesen müssen. Wie könnte man es aus der Hand legen, ohne beglückt zu lächeln?

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