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Prinzessin Stufdien

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Es war vor langer, langer Zeit; wohl nicht damals, als die Tiere noch sprechen konnten, aber jedenfalls bevor meine Großmutter geboren war. Irgendwann in der Zwischenzeit muß König Boruba gelebt haben. Ihr habt noch nie von König Boruba gehört? Dann ist es aber Zeit, daß diese Geschichte geschrieben wird. Hättet ihr zu König Borubas Zeiten gefragt: Wer ist König Boruba? so hätten euch sämtliche Gassenjungen ausgelacht. Man würde an eurem Verstand gezweifelt haben — wenn man dazu noch Gelegenheit gehabt hätte. Denn die Polizisten jener Zeit hatten die Gewohnheit, jedermann, der an König Boruba zweifelte, den Kopf abzuschlagen. Das sparte gerichtliche Komplikationen und nahm möglicherweise noch vorhandenen Zweiflern den Mut, ihre Gefühle zu äußern. Niemand durfte an König Boruba zweifeln. Fand er, die Azalee sei die schönste Blume, so w a r die Azalee die schönste Blume. Meinte er, die Glocken des Sankt-Martinus-Turms läuteten klangvoller als die der St.-Jans-Kirche, dann waren die Martinusglocken klangvoller. Wer die Nelke über die Azalee stellte, oder den St.-Jans-Carillon dem von St. Mar-tinus vorzog, dem wurde der Kopf abgeschlagen. Ach, schließlich zieht man ja doch den eigenen Kopf allem andern vor. So dachten auch die Leute in jener fernen, fernen Zeit; sie schwiegen und sagten, der König sei ein Mann von Prinzipien. ,

König Borubas Prinzipien waren nur drei an der Zahl, und wenn ihr sie vernommen habt, werdet ihr bei euch denken: Ach, das sind König Borubas Prinzipien?

Da war einmal das Spiel „Hans, wo bist du?“, welches Punkt vier Uhr nachmittags gespielt wurde. Diesem Spiel schenkte man die größte Aufmerksamkeit, ebenso allem, was dazu gehörte, als da waren: die Spielmarken, das samtene Döschen, in welches sie gehörten (ja nicht in das Atlasdöschenl), die Pfeffernüsse, der Minister des Innern, der mit verbundenen Augen in der Zimmerecke stehen mußte, das ganze Drum und Dran, was uns sehr amüsant erscheint, damals aber ein Prinzip war, ein strenges Prinzip, an dem nicht gerüttelt werden durfte. Wer das Spiel schlecht spielte, war verdächtig, und wer es nicht kannte, flog aus dem Lande hinaus.

Das zweite Prinzip war die Spazierfahrt um fünf Uhr. Sie dauerte nur eine Viertelstunde; die Buchenallee hinauf, um den Weiher herum und wieder zurück. Das war alles; und doch war es ein Prinzip. Die Menschen standen wohl zwanzig Reihen dicht und warteten; wenn dann die Karosse vorbeikam, lüfteten sie den Hut und alle riefen zugleich: „Hurrahl“ Der König saß zurückgelehnt in seinem Hermelinmantel und fand das herrlich, darum meinte er, die anderen müßten es auch herrlich finden. Aber die Prinzessin fand es abscheulich, sie saß kerzengerade in der Karosse und errötete vor Scham; sie zählte die Minuten an den Fingern ab, eins, zwei, drei, bis fünfzehn; dann war es vorbei.

Nun müßt ihr aber auch noch etwas über die Prinzessin erfahren. Sie hieß Stufchen. Das ist nicht angenehm, ich würde sie auch lieber Beatrice nennen, oder Anita, oder Eveline, oder mit irgendeinem jener Namen, welche der Märchenerzähler so gerne schreibt. Aber es ist einmal so, daran kann ich nichts ändern. Denn als König Boruba, der sich sehnlichst einen Nachfolger wünschte, erfuhr, daß ihm eine Tochter geboren war, lief er hinaus, blieb auf der Stufe stehen und schrie und stampfte mit den Füßen, bis seine ärgste Wut vorbei war. Seither wurde die Prinzessin Stufchen genannt.

Stufchen hatte kein glückliches Leben; als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter, und da sie keine Geschwister hatte, mußte sie tagein, tagaus mit ihrem Vater in einem großen, kalten Saal allein bei Tisch sitzen. Des Königs Magen konnte nur Erbsensuppe vertragen, und infolgedessen aß die ganze Hofgesellschaft das ganze Jahr hindurch nichts anderes als Erbsensuppe. Wenn am Sylvesterabend alle Leute mit fröhlichem Gesicht Ölkuchen aßen, rührten die Höflinge seufzend ihren dreihundertfünfund-sechzigsten Teller Erbsensuppe um und führten den Löffel mit geschlossenen Augen zum Mund. Um die Wahrheit zu sagen, halfen sich die Leute wohl ein wenig; jeder hatte in seinem Ärmel ein Würstchen oder ein frisches Brötchen versteckt, und wenn der Zeremonienmeister nicht hinsah, nahmen sie schnell einen Bissen. Es war ja nicht viel, aber weil es verboten war, schmeckte es besonders gut. Doch die arme Prinzessin Stufchen saß ihrem Vater direkt gegenüber, und jedesmal, wenn sie befangen die Augen von ihrem Teller hob, blickte sie gerade in König Borubas mißtrauisches Gesicht.

.Nun, wird's?“ sagte er dann, und sie löffelte gehorsam weiter.

Ob es nun von der Erbsensuppe kam, oder davon, daß sie eine echte Prinzessin von Geblüt war, das wissen wir nicht, aber sie wurde jeden Tag schöner. Jeden Tag, wenn sie ausfuhr — die Buchenallee hinauf, um den Weiher herum und wieder zurück — sagten die Leute: „Nein, sie kann nicht mehr schöner werden. Das ist einfach unmöglich.“

Jetzt wißt ihr genug vom König und der Prinzessin, um die folgenden Ereignisse in ihrem vollen Umfang zu erfassen. Ich habe sie euch lange genug vorenthalten, nun darf ich euch nicht länger auf die Folter spannen.

Eines Tages — merkt gut auf — als der König ausfuhr, war die Prinzessin so schön, wie sie errötend mit niedergeschlagenen Augen dasaß, daß ein Metzgerbursche sich nicht länger bezwingen konnte, aufs Trittbrett sprang und ihr einen schallenden Kuß gab. Der Schreck war groß. Der Bursche wurde sofort enthauptet. Doch wer beschreibt das Entsetzen, als am folgenden Tag ein Krämer — jemand, von dem man etwas derartiges nie erwarten würde — auf die Kutsche sprang und der Prinzessin einen schallenden Kuß auf die Wange gab. Der König war fassungslos; er beauftragte die Polizisten, am nächsten Tage eine doppelte Schutzreihe zu bilden, und das taten sie auch. Doch ein junger Polizist konnte sich nicht beherrschen, und mit dem Helm auf dem Kopf gab er der Prinzessin einen Kuß. „Schandel“ rief der König, und „Schandel“ rief der alte Zeremonienmeister, der hinten auf dem Wagen stand. Er war schon siebenundsechzig Jahre im Dienst, aber so etwas, sagte er, so etwas habe er noch nie erlebt. Doch als er den Schlag offen hielt, um die Prinzessin aussteigen zu lassen, vergaß er seine siebenundsechzig Dienstjahre, die drei Ritterorden auf seinem Rock und das Verdienstkreuz, das zu Hause in der Schublade lag, und gab ihr wahrhaftig auch einen Kuß. Ja, solche Dinge kamen damals vor. Man behauptet, wir lebten in einer seltsamen Zeit, aber solche Dinge kamen eben damals vor.

Der König rief augenblicklich alle Minister zusammen, denn, so sagte er, damit sei nicht zu spaßen. Nun, das taten die Minister auch nicht; sie redeten einen ganzen Mittwochnachmittag über nichts anderes, und schließlich machte der Finanzminister den Vorschlag, die kleine Spazierfahrt aufzugeben. Auf diese Art sparte man auch noch Geld, sagte er. Aber der Unterrichtsminister fand das jammerschade. Gottes freie Natur wäre so lehrreich für junge Menschen.

„Und was meinst du dazu?“ fragte der König den Innenminister.

„Sire“, sprach dieser, „sie muß heiraten.“

„Was kommt dir in den Sinnl“ sagte der König. „Heiraten? Hat sie denn noch nicht genug? Jeden Tag Erbsensuppe und ,Hans, wo bist du?' Was braucht sie denn noch? Habe ich denn mehr?“

„Ich will nicht leugnen“, sprach der Minister ehrerbietig, „daß ihre Situation sehr glücklich und bevorzugt ist. Im Gegenteil, Majestät, im Gegenteil. Aber sie ist fünfundzwanzig Jahre alt und sehr schön. Das hat sich auf allzu bedauerliche Weise bestätigt. Was ist natürlicher, als daß sie heiratet? Es liegt in der Linie der normalen Entwicklung. Wenn sie einmal verheiratet ist, wird kein Metzgerbursche mehr aufs Trittbrett springen, die Spazierfahrten können wieder stattfinden, und überdies möchte ich Ihrer Durchlaucht Aufmerksamkeit auch noch auf den Umstand lenken, daß dann vielleicht Hoffnung auf einen Thronfolger besteht.“

„Hm“, sagte der König, „ich werde darüber nachdenken.“

Auch Prinzessin Stufchen lag abends wach im Bett und dachte nach. Ein Metzgerbursche, ein Krämer, ein Polizist und ein Zeremonienmeister hatten sie geküßt. Sollte sie wirklich schön sein? Sie sprang aus dem Bett und sah in den Spiegel. Lieber Gott und alle Heiligen, steht uns beil War sie das wirklich? Was für prächtiges, braunes Haar, welch große, dunkle Augen I

Und plötzlich begann sie, zum ersten Male in ihrem Leben, zu weinen; es war, als hätte sich aller Kummer angesammelt, sei zuviel geworden für das kleine Herz und bräche jetzt in zügellosem, wildem Schluchzen hervor. Und sie wußte nicht einmal, warum sie weinte, das war das Schlimmste daran.

„Heda“, rief der König, der den Kopf erstaunt zur Tür hinein steckte, „was heißt denn das? Doch keine Possen, will ich hoffen. Was soll das bedeuten?“

„Ich weiß es nicht, Vater“, sprach die Prinzessin schluchzend, „ich ... weiß es wirklich nicht...“ und hierauf brach sie von neuem in Tränen aus.

„Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht“, höhnte der König erbost, „es gibt für alles einen Grund. War die Erbsensuppe zu heiß? Hat dir die Spazierfahrt nicht gefallen? Hast du im Spiel verloren?“ „N—ein, Vater ...“

„Na also“, sprach der Vater, „dann ist alles in Ordnung. Geh jetzt zu Bett, und daß ich nichts mehr höre! Ist das ein Getue. Ein Skandal wahrhaftig!“

König Boruba drückte die Tür ins Schloß; doch auf dem Korridor erinnerte er sich plötzlich des Gesprächs mit dem Minister. Er kehrte um und steckte den Kopf nochmals zur Tür hinein.

„übrigens“, rief er, „was ich sagen wollte, du heiratestl“

Die Prinzessin hob das tränenüberströmte Gesichtchen; ein unbeschreibliches Gefühl durchströmte sie.

„Ich, Vater?“

„Ja, du. Du bist nun fünfundzwanzig Jahre alt — überhaupt, es liegt in der Linie der Entwicklung. Kein Metzgerbursche wird mehr auf das Trittbrett springen, die Spazierfahrten können wieder stattfinden und auch auf die Aussicht, möglicherweise einen Thronfolger zu bekommen, wurde meine Aufmerksamkeit gelenkt.“

„Ich möchte wohl“, sagte die Prinzessin, „wenn es nur ein lieber Mann ist.“

.Das ist meine Sache“, sprach der König, „ich werde ihn auswählen.“

Und das tat der König auch. Er schrieb an alle anderen Könige, ob sie ihre ältesten Söhne schicken wollten, denn er habe die Absicht, seine Tochter zu verheiraten, und es sei immer angenehm, eine größere Auswahl zu haben. Ja, das schrieb er ganz offen. Es waren genau zwanzig Briefe, und man beachte, Sonntag brachte er sie zur, Post, und Montag saßen die zwanzig Prinzen schon im Wartezimmer und musterten einander mit mißgünstigen Blicken; 60 schön war die Prinzessin.

Der König ließ sie erst eine Stunde warten, dann kletterte er auf seinen Thron und rief: „Herein!“

Da kam der erste Prinz; er nahm sogleich stramme Haltung an ,und wartete bebend auf die Fragen, welche ihm der König stellen würde.

„Soo!“ sprach der König liebenswürdig. „Nehmen Sie Platz. Lieben Sie Erbsensuppe?“

„Nein“, antwortete der Prinz schnell.

„Dann madien Sie nur, daß Sie weiterkommen“, antwortete der König, „Menschen, die keine Erbsensuppe lieben, finde ich lächerlich.“

Auch der zweite Prinz liebte die Erbsensuppe nicht, und der dritte sagte, ihm werde übel davon. Der vierte konnte sie nicht einmal sehen. Der fünfte, das war ein reizender Prinz! Seine Augen glichen aufs Haar diesen Lakritzkugeln, die man zu drei Pfennig das Stück, und vier Stüde für einen Zehner in manchen Süßigkeitsladen liegen sieht. Sie waren ebenso dunkelbraun und glänzend. Und höflich war erl Er verbeugte sich, als wäre sein Kreuz aus Gummi, und dazu sah er die Prinzessin so verliebt an, daß es ihr mitten durchs Herz ging.

„Lieben Sie Erbsensuppe?“ fragte der König.

„Und wie, Majestät“, antwortete der Prinz überrascht, „es gibt nichts, was ich lieber äße.“

„Oh, Vater“, flüsterte die Prinzessin, „den wollen wir nehmenl“

„Na, na“, sprach der König, „sein Geschmack ist guti aber 6eine Allgemeinbildung?“ Und zu dem Prinzen gewendet, fragte er: „Kennen Sie das Spiel ,Hane, wo bist du?'“

Der Prinz starrte zur Decke. .Nein“, sagte er schließlich, „das kenne ich nicht.“

„Der nächste!“ rief der König.

Doch der nächste kannte es auch nicht; und der danach ebensowenig.

„Seltsam“, sprach der König, „merkwürdig! So auf den ersten Blick sehen sie ganz vernünftig aus. Aber sobald man sich etwas mehr mit ihnen befaßt, zeigt sich, was sie wert sind. Larifari. Wie viele sind noch da?“

„Dreizehn, Sire!“ rief der Oberkammerherr.

„Laß alle dreizehn herein“, befahl der König, „mit solchen Hohlköpfen kann ich mich nicht einzeln abgeben.“

Klick, klack, da standen alle dreizehn, so gerade wie die Kerzen.

„Liebt ihr Erbsensuppe?“ rief der König.

„Nein, Sire!“

„Rechtsumkehrtl“ kommandierte der Zeremonienmeister.

Und fort waren sie.

„Nun, lieber Vater“, fragte die Prinzessin abends bei Tisch, „wo ist der Mann, den du mir ausgesucht hast? Laß ihn doch hereinkommen, ich sehne mich danach, ihn zu sehen, ich sehne mich so ...“ und hierauf begann sie zu weinen.

„Törichtes Kind“, sprach der Vater, „wer wird denn darum weinen? Ich werde ihn schon finden. Mit diesen Dummköpfen, die heute nachmittag da waren, war nichts anzufangen. Ihr Geschmack war grob und fremdartig, und ihre Bildung ... Mein Gott! Auf die einfachsten Dinge, die jedermann wissen muß, konnten sie keine Antwort geben. Aber gedulde dich nur, er wird sich schon finden.“

Doch er fand sich nicht. Alle Prinzen, die kamen, wurden fortgeschickt. Der eine mochte keine Erbsensuppe, der andere kannte das Spiel „Hans, wo bist du?“ nicht, und ein dritter fuhr nicht gern nachmittags in einer Kutsche.

Und die Prinzessin, die so gern heiraten wollte, heiratete nicht. Sie wurde noch stiller als früher und eines Tages war sie tot. Ganz tot. Der König war erstaunt; er begriff nicht, daß jemand, der jeden Tag Erbsensuppe bekam und das Spiel „Hans, wo bist du?“ spielte, sterben konnte. Aber sie war wirklich tot, und er folgte dem Sarg erstaunt zum Friedhof. „Bim! Bam!“ machten die Glocken, und die Prinzessin glitt an vier Tauen in die tiefe Grube, in welcher sie jetzt noch Hegt. Und als der König ein Jahr darauf auch starb — denn auch Könige müssen sterben —, war kein Nachfolger da. Das Reich zerfiel, der Palast stürzte ein, und alles war zu Ende. Der Platz, auf dem er gestanden hatte, ist jetzt eine große Sandfläche; da backen die Kinder am Sonntag Kuchen und graben ab und zu einen Suppenteller aus. Man kann sich nicht erklären, wo diese Teller herkommen, und fast jeden Tag erscheint, von einem neuen Professor, ein neues Buch darüber. Doch niemand fragt den Märchenerzähler. Der zählt ja nicht. Aus dem Holländischen von A. F. C. Brosens

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