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Problemschau und Spektakel

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Spektakel; Ramschbuden am Praterrande, Hokuspokus der Vorstadtzauberei Anno Schnee. Revueauftrieb eines Wanderzirkus mittlerer Größe. Wer dies und noch manches mehr besehen will, sucht „D i e schöne Helena“, „in der Neubearbeitung des Volkstheater s“, daselbst auf. Dies ist — das Ende des Theaters. An einer Stätte, die in alter und junger Zeit manch rühmenswertes Spiel gesehen hat. — Ein oft fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelter Offenbach. Mixtur der Musik, Mixtur der Texte. — Aber halten wir fest, versuchen wir etwas in diesem Tohuwabohu au Paris 1864 und Wien 1949, aus Ottakringer Ulk und Psychoanalyse, Faschingsantike und Maronibraterstaffage festzuhalten. Offenbach 1864: Satire auf die Dekadenz der Gesellschaft, des Hofes Napoleons III., Götterdämmerung — Sturz der falschen Könige und der falschen Götter. Was Voltaire, auf seine Weise großartig, auf dem Forum hoher Literatur mit der Entkleidung und Profanierung des Roi Thaumaturge, des wundenheilenden Karls-Königs begonnen, vollendet Offenbach im Boudoir, im Witz der Gosse. Ein Sudelkpch, der begeistert im Trog wühlt, dessen Unrat er zur Schau stellt. Seine ungenannten Verarbeiter im Volkstheater sind jedoch anderer Meinung über ihn. Hören wir sie selbst im offiziellen Vorwort (Programmheft): „Offenbach entlarvt und parodiert aber nicht au Freude am Zerstören, er zerstört vielmehr, um Platz zu schaffen für das unverstellte menschliche Wesen. Seine Innigkeit fordert den Spott als Ergänzung und sein Spott entbindet die Innigkeit.“ Auf der Bühne sieht diese entbundene Innigkeit des unverstellten menschlichen Wesens folgendermaßen aus: riesige phallische Symbole, / die an langen Stricken aus Sartres Sexualkult in der „Fliegen’kAufführung der Kammerspiele herbeigezogen wurden, hängen gipsschwer über der Szenerie. Wiener Blocksberg, der Walpurgisnacht dritter Teil. Eine lahm verballettierte Antike, in der König Priamus zu „König Primsen- kas“ wird, mischt sich tanzend und rülpsend, schwipsend und schnatternd mit den nordischen Tölpeleien der Ajaxe und dem schütteren Greinen des Menelaus. Diese vielleicht stärkste Gestalt des Originals wird hier verstümmelt zu einem unkenntlichen Tolpatschsimandl. — Alles überwölbt, nein, überschüttet der Würstelpraterhumor des Großeunuchen Calchas- Imhoff. — Genug des unergötzlichen Spiels. Daß die Zuschauer nicht bereits nach einer schwachen Stunde das von Kitsch berstende Haus verlassen, ist der Leistung einiger Schauspieler zu verdanken, die namentlich genannt zu werden verdienen: Christi Mardayn, Dorothea Neff, Inge Konradi. — Das Dritte Reich hat mit viel Kraft durch Freude unter der Devise „Kunst fürs Volk“ in Revuen der Wehrbetreuung für Soldaten, OT-Arbeiter und andere „Zivilisten“ jenen Weg vorgezeichnet, der hier, unwissentlich, aber nicht unschuldig, vom Volkstheater weiterbesch ritten wurde: auch ein bedenkens- wertes Schau-Spiel!

Unser Schritt geht aus dieser Kommerzhalle des „Volkes“ in eine andere Welt. Im Studio der Hochschulen ringt eine studentische Jugend — unsere Jugend um Selbstschau und Selbstgestaltung. Erstaufführung von Kurt Radleckers M enschen aus zweiter Han d“, regie- und spielmäßig getragen vom Autor selbst. Drei Menschen, ein Mann und zwei Frauen, mit Schlingen um den Hals: verfangen in ihre Not, mehr noch in ihre Schwäche, in eine triebhafte Grausamkeit und Hilflosigkeit. Haß, Mord, Untergang. Schüchtern, verhalten versucht der Autor in den Frauen das Wunder einer Umsinnung, einer inneren Wandlung, anzudeuten. Die Grundkonzeption erinnert an Sartres „Huis clos“: der junge Wiener kennt, in seiner innerweltlichen Hölle, immerhin bereits Fenster, das heißt schmale Lichtluken, durch die ein schwacher Strahl ferner Hoffnung einfällt. Auch fallen gute, besinnliche, verständige Worte… — Ein Moment gibt zu bedenken: nahezu alle diese jungen Wiener Dramatiker, wie Radlecker, Federmann, Kehlmann und Dor wählen zwieschlächtige Gestalten als „Helden“, die in einem unguten Zwielicht aus Literatur, Mache und Vision einer grauenhaften Wirklichkeit geboren werden: Kindesmörderinnen, Dirnen und Selbstmörder, Deserteure und Schinderhannes -Figu ren. Nachtwandler, denen der Tag, unser Tag, zu gräßlichem Alptraum wurde, die sidi und die Welt nicht mehr finden können. — Das lösende, erlösende Wort — und die Tat — hat noch keiner gefunden. Wer aber dürfte es wagen, sie ob dieser offenbaren Armut zu tadeln? Wer, wer hat ihnen den nüchternen stillen Reichtum, den festen Pulsschlag eines neuen Lebens gezeigt, der so strahlend, so mächtig ist, daß sie nichts anderes mehr vermöchten, als ihn jubelnd zu besingen?

Diesen jubelnden Sang kennt noch einer der zerrissensten, schwerblütigsten Geister Späteuropas, Strindberg, in seinem „Schwanenwei ß“, das ebenfalls vom Studio der Hochschulen in der Inszenierung Lona Dubois’ in einer sehenswerten, stark- tonigen Aufführung herausgebracht wurde. „Du besprengst mich mit dem Hysopzweig und ich werde blütenrein. Du wirst mich waschen und ich werde weißer denn der Schnee“ — so singt der Psalm der Liturgie. Diese erste und letzte, strahlendste und fröhlichste Weisheit der Christenheit, die Gewißheit, daß innere Umkehr, Umwandlung den Menschen neu macht, daß die zweite Reinheit sich durchaus neben die erste, bewahrte stellen darf, wird von Strindberg in seinem Erlösungsdrama „Schwanenweiß“ mit den Schauzeichen der heidnischen und christlichen Liturgie gebildet, die hier zu einer harmonischen Einheit sich binden, die in westeuropäischer Dichtung erst wieder ein Derleth und eine Le Fort, ein Peguy und ein Poucel auszuloten verstanden. Schwanenweiß, die reine Magd, eine sühnende Mädchengestalt, wie Hartmann von Aues Ottegebe, kann der Zauber des Bösen nicht versehren. Sie überwindet den Haß ihrer schlimmen und schlechten Umwelt und macht aus der Herzogin, dem Gärtner und dem Gesinde neue Menschen. Menschen„ die zu lieben vermögen: dies das reale Wunder, das die Kräfte einer neuen Welt entbindet. Dies auch die echte tiefe Gegenwartsbedeutung dieses Stückes, das nicht einfach mit den Augen der Romantik gesehen werden will. Es hat der Gegenwart mehr zu sagen, ails jene in ihrer geräuschvollen Taubheit, Herzensträgheit und Grausamkeit hören will.

Die Stephansspieler eröffnen ihre neue Spielzeit mit der Erstaufführung von Hans Naderers „Volk am Kreu z“. Ein großes zeitnahes Thema —, die Passion jener Millionen, die heute als Flüchtlinge über die Kontinente verstreut sind: 20 Millionen in Europa, 40 in China, 20 in Indien — wird hier , als Volksstück behandelt. Erster Akt: Der alte Jakob Macheiner lebt mit seiner großen Familie als Herrenbauer in einem Grenzland. Da bricht „das andere Volk“ auf und vertreibt ihn und die Seinen. Als Begründung wird die Tatsache angegeben, daß vor 100 Jahren die Vorfahren Macheiners, die Vorfahren des „anderen Volkes“ verdrängt und den besten Boden des Landes geraubt haben. Vergewaltigung, Totschlag, Auszug des Macheiner-Volkes. Zweiter Akt: Im bäuerlichen Notquartier, im fremden Gastland. Der Haß, der Vergeltungswille, das Ressentiment beherrscht die Sippe der Macheiner-Leute. Nur er selbst, der alte Jakob, gelangt an Hand der Bibel zur Erkenntnis, daß der Kreislauf der Vergeltung stets neues Unheil .bringt, daß er unterbrochen werden muß durch die Tat der Vergebung, der Liebe, wenn neues Leben aus den Ruinen blühen soll. Dritter Akt: Heimkehr. Jakob Macheiner, als Richter gesetzt über die Frevler des „anderen Volkes“, läßt diese frei. Friede soll werden auf Erden, durch Verzeihung, Versöhnung.

Seine Tochter Margaret erhält endlich den Segen für ihre Ehe mit dem Sohn des „anderen Volkes“. Symbol einer neuen Welt. — Wie man sieht, ein gewaltiger, an sich aufwühlender Stoff. Ob er sich in der Gestalt eines Volksstückes mit burlesken Einlagen bewältigen läßt, ist eine andere Frage. Die gute Absicht und das sichtlich bemühte Spiel des erneuerten Ensembles — Eduard Köck als Macheiner — dürften den Publikumserfolg der Aufführung sichern.

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