Propyläen-Weltgeschichte 8.u. 9. Band
PROPYLÄEN-WELTGESCHICHTE. Eine Universalgeschichte. Herausgegeben von Golo Mann. 8. Band: Das 19. Jahrhundert. 803 Seiten. 9. Band: Das 20. Jahrhundert. 723 Seiten. Zahlreiche Abbildungen, Farbtafeln, Faksimiles, Landkarten und graphische Darstellungen. — Beide Bände im Propyläen-Verlag, 1960.
PROPYLÄEN-WELTGESCHICHTE. Eine Universalgeschichte. Herausgegeben von Golo Mann. 8. Band: Das 19. Jahrhundert. 803 Seiten. 9. Band: Das 20. Jahrhundert. 723 Seiten. Zahlreiche Abbildungen, Farbtafeln, Faksimiles, Landkarten und graphische Darstellungen. — Beide Bände im Propyläen-Verlag, 1960.
Von Golo Mann, dem Sohn des großen Thomas Mann, herausgegeben, erscheint im wiedererstandenen Propyläen-Verlag eine zehnbändige Universalgeschichte, die mit ihrer Vorgängerin aus der Weimarer Zeit die grundsätzliche Haltung, die technische Vollkommenheit und die ebenso umfängliche wie gut gewählte Bebilderung — nicht etwa die Illustrationen selbst — gemeinsam hat. Sie spiegelt den Geist unserer Epoche wider, sie ist „atlantisch’’, deutsch-amerikanische Zusammenarbeit bei spärlicher Beteiligung anderer Westnationen. Sie ist weltanschaulich weitherzig, unter Ausschluß des Kommunismus von links und des Rassismus von rechts, bei deutlichem Übergewicht eines neuen Liberalismus. Sie bezieht grundsätzlich nicht nur das politische Geschehen ein, sondern auch Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Was das Geistesschaffen anlangt, klaffen freilich in den beiden ersterschienenen Bänden, dem achten und dem neunten, einige Lücken. Kirchliche Entwicklung, Philosophie, Literatur, außer dem Roman, haben keine gesonderte Darstellung bekommen, die über die Romantik hinausführte. Das aber, was uns beschert wird, hat Gewicht, Reiz und Gehalt. Man unterrichtet den allgemeingebildeten Leser auf relativ knappem Raum über die Entwicklung der Naturwissenschaften (die Professoren Walther Gerlach, Hans Kienle, Wolfgang Barg- mann, Adolf Portmann), über die Wirtschaft seit 1800 (A. R. L. Gurland, Professor Robert Nöll van der Nahmer), über die Evolution des neueren Völkerrechts (Professor • von Verdroß-Droßberg) und über die europäische Gesellschaft seit der Französischen Revolution (ein meisterhafter Abriß des verstorbenen greisen Professors Alfred Weber). Der Raum mangelt uns, an diesem Ort diese durchweg ausgezeichneten Darstellungen im einzelnen zu würdigen und dabei hin und wieder kleine Einwände vorzubringen Die politische Geschichte! Robert R. Palmer, Professor an der Princeton University, legt die Bedeutung der amerikanischen Revolution von 1776 für den Umschwung in Europa dar. Er erörtert die Quellen des in den USA von damals an gehegten Messianismus, die Überzeugung von der ethischen und praktischen Höherwertigkeit des americän way of life. Er mahnt an die heilsame Wirkung der frischen Luft seines Landes auf europäische Politiker und auf die Massen im Old country. Dabei tritt aber kaum hervor, daß die USA nicht nur anziehend, sondern auch oft abstoßend und früh als Hort des Mammons gewirkt haben (Kümbergers „Amerikamüde“!). Als Ganzes ist Palmers Beitrag fruchtbares Neuland. Richard Nürnberger entwirft ein gehältiges Bild der Revolution und des Ersten Kaiserreichs, an dem wir nur ein paar kleine Retuschen ersehnten, etwa die Beleuchtung der Tätigkeit der Sociétés de pensée und der fremden Agenten bei der Vorbereitung der Französischen Revolution (Denis Cochin!), die Hintergründe des Rückzugs von Valmy. Der Satz, erst der Sieg von 1812 habe Rußlands Großmachtposition begründet, ist falsch; sie war seit Peter dem Großen angebahnt und seit Katharina II. notorisch.
Das helle Entzücken über die geistreiche, _blendende Darstellung, die Golo Mann von der politischen Entwicklung Europas und Amerikas 1815 bis 1871 bietet, wird nur schwach getrübt durch das Bedauern über das Verweisen der Habsburgermonarchie an ein historisches Katzentischerl. Die mächtig und anmutig dahinfließende Erzählung Manns wimmelt von originellen und gescheiten politischen Urteilen, von den ersten Sätzen an, darin die Kontinuität zum Revolutionszeitalter an Hand der überragenden Probleme bewiesen wird, über die Darlegung der Wichtigkeit Amerikas für Europa, auch als man zu beiden Seiten des Atlantiks voneinander geringe Notiz nahm, über die Analyse der fragwürdigen Griechenbegeisterung (die an der Jahrhundertwende im Burenfimmel ein Gegenstück fand) bis zur Fülle der tiefen Einsichten in die Einzelepisoden des Völkerfrühlings — zum Beispiel die Vorgänge im preußischen Anteil Polens, über den europäischen Aspekt der französischen Februarrevolution. Ausgezeichnete Porträts erfreuen. Bei dem Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, das auf einem Zitat von Karl Marx gründet, hätte man freilich ein Wort darüber erwartet, wie sehr es auch auf Wilhelm II. gepaßt hätte. Wie der Großonkel so der Großneffe: im Guten und im Schlimmen. Nicht minder brillant: Monsieur Thiers. Geradezu mit Bewunderung lesen wir die Analyse der deutschen Revolution von 1848 49, jener zärtlich begrüßten Frühgeburt, die sich schließlich als laut schreiender Wechselbalg entpuppte, worauf dieser nach den grausamen Rezepten rückständiger Medizin abgetan wurde. Dem polnischen Novemberaufstand von 1830 und seiner Einordnung in die all-
gemeinen europäischen Geschehnisse (Belgien!) wäre beträchtlicherer Platz zu widmen.
Drei Sonderabschnitte beschäftigen sich mit Rußland im 19. Jahrhundert (Professor von Laue der University of California), mit Japan 1850 bis 1890 (Professor Herschel Webb, Columbia University) und mit Afrika bis zum Kommen der Europäer (Pierre Bertaux von der Universität Lille). Die beiden erstgenannten Kapitel sind in jeder Hinsicht wohlgeraten, um je eine einleuchtende Grundidee kreisend: daß Rußland eine Welt für sich dargestellt habe, die vor unlösbaren Aufgaben stand, und daß Japans Erneuerung keineswegs den entscheidenden Auftrieb von außen her bekam, sondern aus sich selbst, wobei der Druck der Fremden nur bei schon bereiten inneren Kräften die Aktion auslöste. Störend ist die der englischen Orthographie entsprechende Schreibweise japanischer Namen, statt einer dem Deutschen gemäßen Transkription oder nach den eigenen japanischen Regeln. Bertaux’ Leitgedanke von der Geschichtslosigkeit Schwarzafrikas vor der Begegnung mit den Weißen ist anfechtbar. Im Wirbel der heutigen Ereignisse zerstiebt dieser den Negern unholde Geschichtsmythos, und wir sehen die gewaltige Aufgabe vor uns, aus geschichtlichen monumentalen Zeugnissen, aus den Ergebnissen der Folklore, der Ethnographie, der Sprachwissenschaft, aus mündlichen Traditionen und auch aus schriftlichen, vornehmlich amharischen und arabischen Zeugnissen den vergessenen, untergegangenen Staaten, ja einzelnen bedeutenden Persönlichkeiten des dunklen Erdteils nachzuspüren.
Geoffrey Barraclough, wohlbekannt als britischer Kenner deutscher, auch mittelalterlicher Geschichte wie durch sein Wirken am Londoner Königlichen Institut für Internationale Angelegenheiten, steuert zum Abschluß des achten Bandes den Nekrolog des „Europäischen Gleichgewichts und des neuen Imperialismus“ bei, mithin den der Jahre zwischen dem Deutsch-Französischen und dem ersten weltumspannenden Krieg von 1870 bis 1914. Es ist ein grimmiger Nachruf auf den Fluch zweier böser Taten, des Kolonialismus und des Kapitalismus. Das 19. Jahrhundert entpuppt sich bei seinem Ausklang weniger (oder nicht nur) als „stupid", wie es von Leon Daudet betitelt wurde, denn als ungut, mit seinem übersteigerten Nationalismus, der Un fähigkeit, innere Spannungen, Herrschgier und Ausbeutung, Unterdrückung und überheblichen Wissensstolz zu überwinden. Das Unbehagen der malaise mündet in die nausee, den Weltekel.
Im neunten Band nimmt Professor Henry Cord Meyer, Professor am Clare- mont College, ebenfalls Spezialist für deutsche Geschichte, den immer roter werdenden Faden auf, indem er wiederum vom Zeitalter des Imperialismus berichtet. Er geleitet uns auch auf die Gefilde der Literatur und der Kunst, befaßt sich aber fast nur mit den USA und Westeuropa, Deutschland. Daraus erklären sich einige Fehlurteile in dem funkelnden, anregenden Essay, der auch wortkünstlerisch hohen Rang besitzt.
Zwiespältige Gefühle weckt der an sich gar wertvolle Abschnitt über die russische Revolution, der bis an die Schwelle des zweiten Weltkriegs vordringt. Valentin Gittermann verhehlt weder seine Bewunderung für Lenin noch sein Grauen vor dem System, das dieser geschaffen hat. Er tut, unserös Erachtens einwandfrei, dar, daß es in Rußland und warum es dort zum bolschewikischen Umsturz kommen mußte. Ein paar Aspekte werden vernachlässigt, so der antireligiöse Ausrottungskrieg oder die anfänglich dominierende Rolle jüdischer Intellektueller und deren völlige Ausschaltung bis zum Ende der Stalin-Ära, wodurch nicht zuletzt der Sowjetkommunismus ein sehr gewandeltes Aussehen gewann.
Professor Paul F. Langer der Southern California-Universität und Professor Ralph H Gabriel der Yale-Universität setzen aufs beste die im vorigen Band enthaltenen Kapitel über Japan und die USA fort, beide in stetem Hinblick auf Wirtschaft und soziale Fragen, der Zweite auch aufs Geistesleben. Professor Hans W. Gatzke, Johns-Hopkins-Urtiversität, ruft unter dem Titel „Europa und der Völkerbund“ die schicksalhaften ‘Jahre zwischen 1919 und 1932 in Erinnerung. Obzwar der Beitrag allerlei Eigenständiges beschert, darunter den nachdrücklichen Hinweis auf die deutsch-sowjetische militärische Zusammenarbeit und die unwiderlegbare Einschau in die tiefsten Hintergründe der Stresemannschen Außenpolitik, bietet er auch Anlaß zu manchen Vorbehalten. Zu grundsätzlichen, wie über die Ansicht, die Sieger hätten durch größeres Entgegenkommen an die deutsche Mentalität das heraufziehende nationalsozialistische Ungewitter bannen können: kleinere, wie die Behauptung, der Einfluß der „Aristokratie“ sei nach dem ersten Weltkrieg überall in Europa gebrochen gewesen, was für Polen, Ungarn, Rumänien, Spanien, Portugal, aber auch für England, Deutschland, Italien keineswegs zutrifft.
Einen neuen Gipfel erklimmt die Propyläen-Weltgeschichte in der tragischen Schlußdarstellung des zu einer Spitzenfigur der deutschen Historiographie ge wordenen Bonner Universitätsprofessors Karl Dietrich Bracher. Ob da von der verhängnisvollen Verquickung von auswärtiger, Erfolge suchender, und innerer, mit diesen Erfolgen werbender Politik gesprochen wird; ob die Sünden der verblendeten, den Kopf in den Sand steckenden westlichen Staatsmänner mitleidlos bloßgelegt werden; ob er die entscheidende Bedeutung des Reichswehrein marsches in die Rheinlande vom 7. März 1936 erhärtet; ob er die Stimmung bei Kriegsausbruch in trüben Farben malt; ob er die Scheußlichkeit der Methoden des Dritten Reiches anprangert; Professor Bracher vergreift sich nie im Ton und sein Urteil ist fast unfehlbar. Fast, denn wie Homer mitunter schläft, irrt mitunter auch dieser hellsichtige, kenntnisvolle, kritische Chronist der jüngsten Ver gangenheit. Hitler ist nicht nur durch den Entschluß des von der Umgebung beeinflußten senilen Hindenburg an die
Macht gekommen. Er wäre das, ein paar Monate darnach oder spätestens nach dem Tod des Feldmarschalls, auch ohne dessen Schwachsinnwandel in bezug auf den „böhmischen Gefreiten". Ein paar wichtige Episoden, die wir bei Bracher vermissen: das polnische Anbot an Frankreich, gemeinsam mit diesem die Rheinlandbesetzung durch sofortige bewaffnete Intervention zu beantworten; die unmittelbare Vor geschichte des Anschlusses: geplante Heirat Ottos von Österreich mit Maria von Savoyen, Geheimverhandlungen zwischen
Hodza und Schuschnigg, Einbeziehung Horthys; bei dem sehr flüchtigen Seitenblick auf die polnische Politik der Zwischenkriegsjahre ist weder von den Metamorphosen des Pilsudskischen Legionärregimes noch von den Leitgestalten Oberst Beck, Rydz-Smigly und Sikorski zu hören. Ebensowenig dringt auch das Leiseste aus dem Ungarn Horthys zu uns; Bethlen, Apponyi, Teleki: inexistent, obzwar sie, gleich dem ebenfalls abwesenden Bulgaren Dimitrov, europäische Schlüsselfiguren waren.
Jetzt sollten und wollten wir uns noch mit der in Anlage und Gesamtdurchführung sehr nützlichen „Universalgeschichte in Stichwörtern“ befassen, die chronologisch, am Ende jedes Bandes, die denkwürdigsten Ereignisse aus Politik, Literatur, Kunst, Naturwissenschaft, Technik, Sozialwesen und Wirtschaft, ja sogar, unter dem Stichwort Kultur, auch der Kirchengeschichte verzeichnet. Hier einläßlich zu bejahen und nicht selten zu verneinen, Ergänzungen vorzuschlagen, müßte indessen den Umfang dieser Rezension ungebührlich verlängern. So nehmen wir von den beiden ersterschienenen Bänden der neuen Propyläen-Weltgeschichte mit nochmaligem Glückwunsch an Herausgeber, Mitarbeiter und Verlag Abschied, in der Hoffnung, bald weiteren Bänden dieses Monumentalwerkes zu begegnen.