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Prüfstein für Liebe der Eltern

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Ein Kind, das niemals wachsen wird”, so nannte die Schriftstellerin Pearl S. Buck ihre geistig behinderte Tochter in ihrem Buch „Geliebtes, unglückliches Kind”. Buck schreibt: „Mein Kind wurde geboren, als ich auf dem Höhepunkt meines Lebens stand. Ich war erfüllt von Kraft, Energie und Lebenslust. Mein Heim lag damals außerhalb einer kleinen Stadt in Nordchina... Ich hatte ein hübsches, ein ungewöhnlich hübsches Kind. Seine Züge waren klar, seine Augen sogar damals schon, so schien es mir, klug und ruhig. Wir sahen einander an, um Bekanntschaft zu schließen und ich lachte... Ich weiß nicht, wo oder in welchem Augenblick das Wachstum seines Geistes zum Stillstand kam • • • Ich glaube, ich war die letzte, die erfaßte, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung war... Doch kann ich mich erinnern, wie meine Unruhe über mein Kind wuchs. Es Sah gut aus, seine Wangen rot, sein Haar glatt und blond, die Augen strahlten klar und blau in Gesundheit. Warum blieb das Sprechen aus?”

Ähnlich wie Pearl S. Buck geht es vielen Eltern geistig behinderter Kinder. Trotz aller medizinischen Fortschritte und Nachsorgeuntersuchungen des neu geborenen Kindes wird seine geistige Behinderung oft erst Monate nach der Geburt diagnostiziert. Oft merken Eltern eine Fehlentwicklung schon viel früher.

Entgegen der vorherrschenden Meinung wachsen die meisten geistig behinderten Kinder in ihren Familien und nicht in Heimen auf. Was aber erleben Eltern dieser Kinder? Wie gehen sie mit der Behinderung um? Wie. werden sie mit enttäuschten Erwartungen fertig? Welche psychische Belastung bedeutet es, ein behindertes Kind großzuziehen?

Vor allem für Mütter bedeutet ein behindertes Kind, rund um die Uhr für dieses präsent zu sein. Zu den regelmäßigen Arzt- und Therapieterminen kommen täglich Hunderte kleiner Handgriffe und Hilfestellungen, angefangen bei der Körperpflege, beim Essen oder beim Gang zum Klo, auch dann noch, wenn die Tochter oder der Sohn längst dem Kleinkindalter entwachsen ist.

Geistige Behinderung ist leider oft auch mit mehr oder weniger schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen verbunden. Die Heidelberger Literaturwissenschaftlerin Edith Zeile, Mutter einer behinderten Tochter, hat in ihrem Buch „Ich habe ein behindertes Kind” (DTV, Sachbuch, 10859) 15 Mütter und einen Vater über dieses Thema zu

Der Umgang mit ihr ist ein Prüfstein der Humanität einer Gesellschaft. Ihre Hauptlast tragen die betroffenen Eltern.

„Vor einem halben Jahrhundert”, schreibt Zeile, „wäre ein solches Buch unmöglich gewesen. Das Leben dieser Kinder wäre ausgelöscht worden, 16 kleine Kreuze auf irgendwelchen Friedhöfen des Dritten Reiches wären von ihnen übriggeblieben. Heute ist das alles anders. Die Unanstastbarkeit und die Würde jedes Menschen sowie sein Recht auf Entfaltung sind garantiert. Die Kreuze der geistig behinderten Kinder sind nun mitten in den Familien aufgerichtet. Manche stehen aufrecht als Zeichen des Sieges, manche haben ganze Faanilien unter ihrer Last begraben.”

Was den Eltern dieser Kinder viel größere Probleme bereitet als die unendlichen Mehrbelastungen im Alltag, ist die soziale Behinderung, von der manche ins Abseits gedrängt werden. Manche „normale” Mitmenschen reagieren auf behinderte Kinder so, als ob sie es mit einer ansteckenden Krankheit zu tun hätten.

Die geistige Behinderung schützt den Menschen - egal, ob er noch Kind oder schon Erwachsener ist -nicht vor der Erkenntnis des Anders-Seins und der schmerzlichen Empfindung, abgelehnt oder sogar beschimpft zu werden.

Auch wenn heute niemand mehr voA Irren oder Blöden spricht, so heißt das nicht, daß Berührungsängste und Vorurteile verschwunden sind. Vorurteile sind aber meist Ausdruck von Rat- und Hilflosigkeit, das alles scheinbar Makelhafte, nicht Gesellschaftskonforme und Unbekannte bei den Menschen auslöst.

Pearl S. Buck hatte es in dieser Hinsicht mit ihrer Tochter leichter. Sie lebte unter Chinesen, die alles menschliche Gebrechen für das nehmen was es ist, ohne sich abzuwenden. Ihre chinesischen Freunde sprachen mit ihr über ihre Tochter wie über ihre eigenen Kinder. „Ihr Geist hat seine Augen noch nicht geöffnet, hab' Geduld” - war ihre Meinung.

Geistige Behinderung ist ein Sammelbegriff, der zwar von einer Un-vollständigkeit ausgeht, sie aber nicht genau beschreibt. Gerade wegen dieser Ungenauigkeit aber unterstellt die Umwelt diesen Menschen eine Reihe von Unfähigkeiten - gelegentlich auch Gefährdungen, die von ihnen ausgehen könnten.

Dazu kommt noch die weitgehende Unkenntnis der Ursachen der Hirnschädigung, die vor, während oder nach der Geburt oder als Folge von Krankheiten und Unfällen im Laufe des Lebens auftreten kann. Weder die Ursachen geistiger Behinderungen noch die Leistungen des Gehirns, das die Behinderung auf seine Weise auszugleichen versucht, konnten bisher von Medizinern genau erforscht werden.

Geistig schwer behinderte Kinder können unerwartete Fortschritte in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung machen, doch müssen die Eltern auch immer wieder unerwartete Rückschläge hinnehmen. Sie müssen auch akzeptieren lernen, daß sie kein Kind „zum Vorzeigen” im herkömmlichen Sinn haben.

Dem Schock, der Verzweiflung, den Schuldgefühlen, der Zurückweisung und Verleugnung der Behinderung des eigenen Kindes sowie der Suche nach immer neuen Therapiemöglichkeiten der Behinderung folgt irgendwann die Annahme des „Andersseins” des Kindes und damit auch die innerliche Entspannung.

Über Scheidungen bei Eltern mit einem geistig behinderten Kind gibt es in der Forschungsliteratur keine Zahlen. Die Aussagen in bezug auf die Auswirkungen der Behinderung des Kindes auf die Paarbeziehung widersprechen sich. Es ist möglich, daß es zur Entfremdung der Partner kommt, weil die Frau sich völlig, oft über ihre Kräfte hinaus auf die Betreuung des Kindes konzentriert, der Mann hingegen das Weite sucht, sich noch mehr in seinen Beruf flüchtet, vielleicht sogar noch zusätzliche Aufgaben in Vereinen übernimmt. Das entgegengesetzte Verhalten ist aber auch möglich: daß das Paar zusammenwächst,- weil es in dem Kind eine gemeinsame Aufgabe sieht, die nur zu bewältigen ist, wenn es solidarisch zusammensteht.

Jedes Kind ist für die Paarbeziehung durch seine Gegenwart und Interaktion ein Prüfstein. Und dieser Prüfstein hat sicher mehr Gewicht, wenn das Kind behindert ist.

Über die genaue Zahl von Kindern, die bereits mit einer Behinderung zur Welt kommen, gibt es in Wien keine ausreichenden Daten. Es wird geschätzt, daß etwa 4.000 Wiener Kinder Maßnahmen der Frühförderung benötigen. Nach deutschen Schätzungen liegt der Anteil Neugeborener, bei denen bereits bei der Geburt eine Behinderung festzustellen ist, bei rund fünf Prozent. Kognitive und sprachliche Behinderungen zeigen sich jedoch erst im Kleinkindalter, daher wächst dieser Prozentsatz ab diesem Alter stärker an.

In Wien gibt es seit Oktober 1991 die „Arbeitsgemeinschaft Frühförderung”, die sich die Aufgabe gestellt hat, das Frühförderungsangebot für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder zu verbessern.

Hier können sich Eltern behinderter Kinder informieren, welche Hilfestellungen und Therapieangebote es gibt. Es werden auch für rund 500 Familien „Hausfrühförderinnen” bereitgestellt, die in die Familien kommen, um Eltern in ihrer für sie neuen und schwierigen Situation zu unterstützen und zu beraten. Fördernde Maßnahmen sollen ja so früh wie möglich erfolgen, da gerade in den ersten drei Lebensjahren entscheidende Weichen für die Entwicklung des Kindes gestellt werden.

Natürlich wird auch bei der Suche nach rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten Hilfe angeboten. Anspruch auf Hilfe und Beratung hat jede Familie mit einem behinderten Kind oder mit einem Kind, bei dem Verdacht auf Entwicklungsverzögerung besteht.

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