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Prunk und Glanz alter Zeiten

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Der Charme einer Stadt, deren Schönheit und Prunk vom Kommunismus überschattet wurde: Lemberg.

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Der Charme einer Stadt, deren Schönheit und Prunk vom Kommunismus überschattet wurde: Lemberg.

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Lemberg hat schon bessere Zeiten gesehen: auf Schritt und Tritt begegnet einem hier die glanzvolle V ergangenheit, doch Jahrzehnte des Kommunismus haben deutliche Spuren hinterlassen. Nicht nur im Stadtbild, auch in den Menschen. Lethargie ist zur zweiten Haut der Ukrainer geworden, Zeit nach wie vor eines der einzigen Besitztümer. Nonchalant beobachtet man den Verfall einstiger Pracht.

Für Österreicher muß die Begegnung mit dieser Stadt zur Liebe auf den ersten Blick werden. Die Geliebte ist zwar keine strahlende Jugendschönheit mehr, jedoch viel faszinierender im wissenden Charme um eine leidvolle Geschichte. Ihr Gesicht zeigt unter dem billigen Puder des Kommunismus mehrere Facetten: östlich, jüdisch, europäisch, russisch, orthodox, christlich, nostal-gisch oder monarchistisch: aß diese Wesenszüge vereint sie in sich, alle warten darauf, entdeckt zu werden. Melancholisch weht die Erinnerung an glanzvollere Zeiten über diese Stadt, immer noch lassen sich am Land Denkmäler finden, die den bemerkenswerten Augenblick in Erinnerung rufen, an dem Kaiserin Elisabeth von Österreich ihren Fuß auf ukrainische Erde setzte.

Immerhin hatten die Habsburger hier von Kaiser Karl VI., dem Vorgänger Maria Theresias, bis zum Ersten Weltkrieg 1916 geherrscht. Die alten Menschen, das lebende Gedächtnis der Ukraine, fühlen sich heute noch der österreichischen Mentalität verwandter als der russischen.

Das prächtige Opernhaus im Zen trum Lembergs beschwört das pulsierende Kulturleben der Vergangenheit herauf. Ein abendlicher Besuch von Eugen Onegin zerstört rasch falsche Illusionen. Im beinahe ausgestorbenen Opernsaal lauscht betagtes Publikum in der rotsamtenen Franko-Oper von Architekt Go- rgolewski einer müden Aufführung in verstaubten Kostümen. Lemberg bleibt die Geliebte, die verwöhnen will, und die Kost, die die Stadt zu bieten hat, ist sinnlich üppig. Feste zu feiern versteht man hier immer noch, der Wodka fließt, und die Trinkreden überbieten einander em Witz und Länge. Mit fortgeschrittener Stunde tritt die slawische Seele lautstark zutage. Selbst junge Ukrainer beherrschen noch textsicher alte Volkslieder, mächtig, melancholisch und sentimental werden Nächte durchgesungen. Auch auf langen Reisen und in Zugabteilen schützt dieser traditionelle Zeitvertreib vor Langeweile und sorgt für Nationalgefühl. Die Morgen nach diesen anstrengenden, durchzechten, langen Nächten sind kräftigend: der neue Tag beginnt mit einem mehrgängigen Mahl, erst auf prallgefiillten Magen folgt süßer Kaffee.

Herrscht auch überall Elend, Gastfreundschaft und Speis und Trank begegnet man immer, Großzügigkeit ist Ehrensache. Die sanitäre Infrastruktur ist jedoch schlecht: Die Zeiten, zu denen es in Lemberg Fließwasser gibt, beschränken sich auf die Zeit zwischen sechs und neun Uhr morgens oder abends, und auch das ist nicht sicher.

LUFT DES FIN DE SIECLE

Auch die Straßen zeichnen sich durch fantasievollen Belag aus: Eierschalen, Papiere, alte Ersatzteile die Stadt lebt und bekennt sich zum Abfall, den sie produziert. Trotzdem bleibt Lemberg eine Begegnung mit dem alten Adel und der vornehmen Stimmung Bad Ischls oder Karlsbads. Die durchgrünte Allee vor der Oper atmet die dekadente Luft des fin de siecle, viele Menschen pro-menieren, parlieren oder sitzen in der Sonne, fern der Hektik westlicher Großstädte, lebende Relikte einer stehengebliebenen Zeit. Alte Männer spielen Schach, ein Frau auf der Straße Ziehharmonika. Armut und Rückständigkeit gehören ebenso zum Stadtbild.

Wirklich dekadent verprassen hingegen westliche Touristen im Hotel George ihre Dollar. Bereits 20 lassen den Westler zum Kupone (Millionär) werden. Bei einer Inflationsrate von 1.650 Prozent nach Fischer Welt Almanach gewinnt der Dollar mit jedem Tag. Die Ukrainer selbst allerdings haben hart zu kämpfen: 126.000 Kupone beträgt ein Monatsstipendiüm für einen Studenten, 5.000 zahlt er für einen Liter Milch, 2.000 für einen Laib Brot. Will er sich eine Hose kaufen, muß er mindestens 50.000 Kupone auf die Seite legen, Westgüter sind kaum zu zahlen. Ein ausgebildeter Architekt etwa kann mit rund 60 Dollar Monatslohn rechnen. Daß jemals einer Seiner Entwürfe realisiert wird, ist allerdings Utopie.

Nach wie vor sind dieselben Männer maßgebend, die es schon zu kommunistischen Zeiten waren. Im Büro des Hauptarchitekten von Truskowetz, einem aus dem Boden gestampften Kurort, blicken Lenins Augen noch auf die Mitarbeiter herab. An Aufträgen mangelt es hier jedoch nicht.

Angesichts dieser Zukunftsperspektiven fliehen die meisten Jugendlichen in den Alkohol. Zu Besuchern distanziert freundlich, mit schwachen Fremdsprachenkenntnissen, machen sie immer noch einen verängstigten Eindruck. Freiwillige Mitarbeiter für die Sommermonate in einem Büro zu finden, ist schwierig: immer noch zählt Disziplin und Leistungsbereitschaft nicht zu den Stärken der neuen Generation. Gelöst und lustig macht erst der Wodka. Mit der richtigen Menge kommt das Singen, folgen Fröhlichkeit und Tanz. Jeden Morgen liegen Glasscherben und leere, zerbrochene Flaschen auf dem unebenen Creh- steig: Relikte der letzten Nacht, Wegweiser in die Zukunft?

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