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Psalmus hungaricus

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IN DEN LAGERN, den behelfsmäßig hergerichteten Heimen, bei den karitativen Hilfsstellen und vor dem Konsulat der Vereinigten Staaten warten nach wie vor viele Flüchtlinge auf Weiterführung. Die Sorge hat die Gesichter der Ungarn gekerbt, ihr Blick geht ins Leere. — Wie ganz anders eine Stunde südlich von Wien, in der alten Thermenstadt Baden! Wenn man das Kurhotel „Esplanade“ nächst dem Strandbad betritt, glaubt man in Ungarn zu sein — freilich in einem freien, ganz von Sorgen befreiten. Diese Musiker, Schauspieler, Sänger und Tänzer der verschiedenen Orchester, Bühnen und des Rundfunks haben in der Tat das große Los gezogen. Sie wohnen kostenlos in wirklich anheimelnden Räumen, werden gut verpflegt, und besonders Hungrige können gegen eine bloße Unterschrift im nahen Milchkiosk noch Zusatzverpflegung empfangen. Ferner bekommt jeder ein monatliches Taschengeld von 400 S und erhält, ehe er die Bühne betritt, eine Bekleidungshilfe von 5000 bis 6000 S. Den Künstlern stehen sämtliche benötigten Probesäle zur Verfügung. Der Sprachkurs wird „mitgeliefert".

WER SOLL DAS BEZAHLEN, WER KAT SOVIEL GELD? Als nach der Unterdrückung der ungarischen Revolution die Zahl der Hilfe heischenden Künstler größer war, als vorauszusehen, leitete die Wiener Monatsschrift „Forum" eine Aktion für die geflüchteten Intellektuellen ein. Um die Jahreswende schalteten sich die Rockefeller- und die Ford-Stiftungen ein. Im Februar überwies die Ford-Stiftung dem „Kongreß für die Freiheit der Kultur" in Paris

80.000 Dollar. Auf dieser Grundlage wurde das erste der sogenannten „Special projects", eben jenes in Baden, verwirklicht. Ein zweites „Special project" ist eben im Studium; es wird geflüchteten Schriftstellern, die einen Roman unter der Feder haben, Malern, Bildhauern, aber auch wissenschaftlichen Forschern mit einer Ueberbrückungshilfe von 1200 bis 1800 S ein einigermaßen geruhsames -Schaffen ermöglichen; die Stipendiaten liefern jeweils ihre Arbeits- lįedchtfl damit ein UeberįJick für die Aktions-

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IN DER ARENASTRASSE 2, nahe am Berghang, liegt ein großer Saalbau. Dort kommen wir gerade in die Pause einer Orchesterprobe des „Szabad Magyar Filharmonikus Zenekar“, des Freien Ungarischen Philharmonischen Orchesters. Den Raum — er gehört zum Kursalon — hat die Kurdirektion der Stadt Baden, die ja eine historische musikalische Tradition hat, zur Verfügung gestellt. Ueber Anregung des Generalsekretärs des „Kongresses für die Freiheit der Kultur“, des bekannten Musikschriftstellers und Komponisten Nicolas Nabokov (Paris) wurde in Wien eine Prüfungs- und Beratungskommission für das Orchester gegründet, der außer dem ungarischen Dirigenten Zoltän

Rozsnyai die Herren Professor Karl Böhm, der Komponist Gottfried von Einem, der Musikkritiker der „Furche“, Professor Dr. Helmut A. Fiechtner, der Vorstand der Wiener Philharmoniker, der ungarische Generalmusikdirektor Ede Zathureczky und Kapellmeister Wolfgang Gabriel angehören. Dieses Fachgremium hörte sich die einzelnen Musiker und das Orchestęr wiederholt an und wird dem Orchester auch in den folgenden Monaten beratend zur Seite stehen. Eben kommt der Dirigent Rozsnyay vorüber. Wir fragen ihn, was auf den Proben gegenwärtig studiert wird. „Beethoven, die vierte Symphonie", antwortet er, „dann zwei Werke von Mozart, die Symphonie in E mit dem Paukenschlag von Haydn, drei Werke von Bach und ein Concerto grosso von Corelli."

„Sollen diese Stücke das Programm auf der geplanten Tournee bilden?“ „Nein, keineswegs! Wir wollen Werke ungarischer Komponisten spielen, also von Liszt bis zu Bartok und Kodäly, und fügen in jedes Konzert, das in einem europäischen Staate stattfindet, ein Werk aus dem Schaffenskreis dieses Gastlandes. Jetzt werden Sie die Haffner-Symphonie von Mozart und die Symphonie mit dem Paukenschlag von Haydn hören — das ist ein Teil der Stücke, die im deutschen Sprachraum in das ungarische Programm des Orchesters eingebaut werden.“

Es ist wirklich erstaunlich — wenn es sich auch um gewiegte Musiker handelt —, wie die Mozart-Symphonie, die erst zum zweiten Male probiert wird, klingt. Zweifellos würde das Orchester, das gegenwärtig etwa 55 Mann zählt und später auf 85 Personen verstärkt werden soll, mit der Pflege der neueren Musik Ungarns und der anderen europäischen Länder eine überaus bedeutsame Aufgabe zu erfüllen haben. Rein künstlerisch und auch kulturpolitisch. Denn es ist offensichtlich, daß in allen Ländern, wo diese musikalische Gemeinschaft auf das Podium tritt, der Name Ungarn, den eine nur allzu schnellebige, zur Selbstberuhigung neigende Zeit wegwischen möchte, erneut aufklingen wird. Die einzelnen Musiker des Orchesters, das mit viel Ambition bei der Sache ist (jeden Tag wird ein umfangreicher Probenzettel ans SchWarze Brett im Hotel geheftet), stammen aus dem Ungarischen Philharmonischen Orchester, den Orchestern der Staatsoper, dem Staatsorchester, dem des Rundfunks, der Hochschule für Musik, der Franz-Liszt-Musikschule und anderer öffentlichen Institutionen. Auf die Straße klingt uns, als wir gehen, das Menuett der Haydn-Sym- phonie nach.

SEINE KLÄNGE sind noch im Ohr, als der Wagen vor dem Hause Helenenstraße 39 hält. Dort üben — man sieht die Gestalten an den Fenstern der Gasthofveranda vorüberhuschen — Mitglieder des Balletts. Eine freilich vorerst noch kleine Gruppe — neun Personen sind es. Gerade tanzen drei Mädchen und drei Männer ein Stück aus der „Verkauften Braut“ von Smetana. Später folgt die Zirkusszene aus der gleichen Oper. Sogleich offenbaren sich die Stärken des Ensembles: Temperament, das aus dem Folkloristischen seine Kräfte zieht, und die Begabung für das Mimische, speziell im Tragikomischen. Es ist vielleicht ganz gut, daß die Kostüme noch in Arbeit sind. So lenkt die Buntheit der Gewänder nicht ab.

Eine kurze Frage an die schwarzhaarige Elisabeth, ob sie Heimweh habe. „Manchmal, sehr", sagt sie stockend und blickt zu Boden. Dann aber aufschauend: „Wir wollen nichts als arbeiten. Und zeigen, daß wir das Vertrauen, das man uns entgegenbringt, verdienen!“

DAS VERTRAUEN für die 120 Künstler und die 30 Angehörigen hat — wie schon eingangs angedeutet — sehr reale Auswirkungen. Die Rockefeller Foundation hat auf Grund ihrer

Erhebungen 70.000 Dollar beigestellt, das International Rescue Committee hat auf Vorschlag seines österreichischen Direktors weitere

10.000 Dollar, das Schweizer Hilfskomitee für die Freiheitskämpfer Ungarns 20.000 Schweizer Franken und der Kongreß für die Freiheit der Kultur ebenfalls einen sehr namhaften Betrag gespendet. Das lOO.OOO-Dollar-Programm sieht eine lOOtägige Trainingszeit (eingeteilt in zwei Hälften zu je 50 Tagen) und eine hunderttägige Tournee vor. Ihr erstes Ziel ist Westeuropa. In diesem Zeitabschnitt werden die Künstler -bereits über eigene Einkünfte verfügen. Uebri- gens ist — mit Schweizer Hilfe und Initiative — die Herstellung einer Langspielplatte zugunsten ungarischer Flüchtlinge vorgesehen. Acht Prozent des Bruttoerlöses gehören den Künstlern. Diese Platte bringt zehn Minuten Geschichte der ungarischen Revolution (von Sprechern des ungarischen Rundfunks), vielleicht schon untermalt vom „Psalmus hungaricus“ von Kodäly. Auf der anderen Seite der Platte werden Stücke von Liszt bis Bartok zu finden sein. Wir hatten auch Gelegenheit, in den Entwurf zum Drehbuch des Filmes „Der wunderhare Mandarin" (Text M. Lengyel, Musik Bartok) zu blicken. In dem Hotel ist es überhaupt wie in einem Künstlerklub: in einem anderen Räume, den wir betreten, hängen Karikaturen voll Witz Und Schmiß; und 'fein Stück weiter'' hübsche Figuririen sowfe ftühfiewbiTdmodelle. Ahe'r' äüch eine kleine Photoausstellung fehlt nicht. In ihren Bildern freilich steigt das tragische Schicksal der Revolution mit unwiderstehlicher Gewalt über die Figurinen und Karikaturen.

NOCH EIN BLICK ZU DEN SPRACHKURSEN. Dort ist gerade Englisch an der, Reihe. In der letzten Bank sitzen die Kinder. Ihnen fällt das Lernen freilich nicht schwer. Der ganze Unterricht (man übt die Nennung der Uhrzeiten) spielt sich englisch ab. Nebenbei (zumindest für uns Oesterreicher): wir hören aus diesem Englisch keinen ungarischen Akzent heraus. Und nun ein Besuch in der Schneiderei. Schönes blaues Tuch für ein Kostüm zu „Romeo und Julia“ liegt auf dem Tisch. Und dann weiter, zur letzten Einkehrstelle: zu den Schauspielern, die gerade eine Tragikomödie von Lajos Zilahy, „Der Musikclown“, proben. Es ist ganz gut, daß man nicht alles versteht (gesprochen wird in ungarischer Sprache) — um so mehr würdigt man die wiederum, wie beim Ballett, lebhafte und ausdrucksvolle Mimik, besonders an den Uebergängen zwischen ernst und heiter. Wie Direktor Juhacz, der dreißig Jahre dem Nationaltheater in Budapest angehörte, uns erzählte, hat er bereits zwei Pantomimen und drei Sprechstücke im Spielplan. Es ist der Musik leichter, anzukommen", sagt Direktor Juhäcz, „aber ich glaube, daß die Pantomimen, denen ein Prolog in der entsprechenden Landessprache voraüsgeht, auch international bestehen können. Inzwischen heißt es freilich lernen, lernen! Besonders Sprachen. Als ginge man als Kind wieder in die Schule. Es ist freilich die harte Schule des Lebens, die uns immer wieder nachsitzen läßt. Vielleicht ganz gut. Man besinnt sich auf die Kraft, die auf die Stunde wartet, wo sie Menschen aufrichten soll. Man weiß hinter dem Vorhang sehr gut von unserem Dasein. Nichts war und ist vergebens." Und während die Stimmen der Schauspieler, die den Saal verlassen, immer leiser werden, spricht ein einsamer Mann neben uns Verse: „Dem Vaterland, unwandelbar, o Ungar, bleib getreu ..." Die Worte des zur Nationalhymne gewordenen Aufrufes von Michael Vörösmarty von 1836 ...

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