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Quasi una fantasia

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T“\ er Versuch, den Walt Disney vor 16 Jahren in dem Film „Fantasia“ unternahm, war nicht eben neu. Vor und nach ihm haben Avantgardisten versucht, Musik optisch zu deuten. Es ist nicht viel dabei herausgekommen. Disney freilich ging damals aufs Ganze. Der Film war abendfüllend. Stokowsky dirigierte, das Philadelphia-Orchester spielte, und die Musik selbst war auch nicht von schlechten Eltern: Bach, Paul Dukas' „Zauberlehrling“, Tschaikowskys „Nußknackersuite“, Strawinskys „Frühlingsfeier“, Beethovens Fünfte, Ponchiellis „Stundentanz“, Mus-lorgskys „Nuit sur le Mont Chauve“, Schuberts „Ave Maria“ u. a. Dazu gab es nun auch allerhand zu sehen: Graphik, Farben, Szenchen, Bachanalien. Das Experiment mißlang. Es ist eben doch ein anderes, wenn Beethoven in den cis-moll-Triolen jener Sonate, opus 23, Nr. 2, der er den bezeichnenden Namen „Quasi una fantasia“ gab, das Mondlicht tropfen sah und spürte, und ein anderes, post festum den Schöpfungsakt zu zerlegen und mit dem Zirkel nachzuzeichnen, etwa, zu des erwähnten Mus-sorgskys „Nacht am kahlen Berg“ Magier und Teufel in gelbgrünem Lichte tanzen zu lassen.

Seltsam, daß Walt Disney gerade das einen Streich spielte, wovon er soviel hatte und — schon damals — soviel wußte: die Phantasie.

“Phantasie hatte er, der heute 54 Jahre alte Farmers-söhn aus Chikago, als Journalist und zeichnerischer Autodidakt(l).

In den zwanziger Jahren fabuliert er lustig drauflos, ohne Geld, nur von Gattin und Bruder moralisch gestützt. Wir dürfen in diese Zeit Oswald, das Kaninchen, und die vorerst gat nicht sehr gefragte Mickymaus datieren. (Ihr folgten, schon mit Farbe und Musik, die „Silly Symphonies“ und der ganze bezaubernde Zoo der Wölfe und Schweinchen, Enteriche, Frösche und Hunde.)

Daß so selten daran gedacht wird, welche Kampfansage, ja welche Revolution schon diese erste Schaffensepoche Walt Disneys bedeutet hat. Man denke nur: in den Jahren, da von drei Seiten her (der epochemachenden, „typenbildenden“ Großaufnahmen des atemraubenden Stummfilmausklanges, den Ruhmesgipfeln Chaplins und der Garbo und den ersten Fanfaren weltumfassender kommerzieller Publicity) ein Startum, eine menschliche Vergottung hochgezüchtet wurde, wie sie die Geschichte vordem nicht kennt, proklamiert Walt Disney das kleine, scheue Mäuslein zum Weltstar Nr. 1 und erreicht, daß mindestens so viele Schokoladen und Stoffpuppen die Etikette Mickymaus tragen wie Frisuren den Namen der „göttlichen“ Garbo, und Hüte, Schuhe und Spazierstöcke den des Goldrausch-, Cid- und Zirkus-Chaplin (der Kinderrummel um Jackie Coo-gan und Shirley Temple landete, um ganze Pferdelängen zurück, auf Platz). Der Mickymausrummel ist in der Tat ohne Beispiel. Er nimmt sich wie ein Protest, wie eine Verhöhnung des menschlichen Startums aus, das sich gerade um diese Zeit in wüsten Skandalaffären und sinnloser Verschwendung im Olymp von Beverly Hills austobt.

Uebrigens soll der Name Micky-Mouse (Micky = = Michel) nicht von Walt Disney, sondern von — seiner Frau (nach einer anderen Lesart: von Freunden) kreiert worden sein. Er selber, der Phantast, wollte sie Mortimer nennen. Es dürfte das einzige Mal sein, daß ein glücklicher Einfall (quasi una fantasia) nicht in ihm, sondern in seiner Umgebung entsprang.

Für den „Witz“ der Musik, die ihn ein einziges Mal (in der „Fantasia“) auf Irrwege führte, hat Disney bis heute ein besonderes Gespür. Es geht die Sage, daß er zu vielen seiner Kurzfilme die grotesken Tierstimmen selbst „sprach“. Kein Wunder daher, daß der Schlager vom „Big bad wolf“ auch die schmelzenden Melodien des „Singing fool“ an Popularität übertraf.

Ich erinnere mich, daß die Wiener „Sascha“ beziehungsweise „Tobis-Sascha“ in den dreißiger Jahren lange Zeit eine Reihe von Mickymausfilm-chen und Silly-Symphonien alljährlich zu einem abendfüllenden Weihnachtsprogramm komponierte und damit einen Riesenerfolg hatte. Eine der Silly-Symphonien — sie hieß, glaube ich, „Music Hall“ — mußte immer wieder neu eingesetzt werden. Es war eine Romeo-Julia-Geschichte, die In etnem mörderischen Kampf zwischen alter und neuer Musik gipfelte und mit einem typisch westlichen Kompromißfrieden endete. Bei dem musikalischen Kampf, einer raffinierten doppelbödigen Partitur, die dem „Ariadne“-Strauss Ehre gemacht hätte, richteten sich plötzlich die „Alten“, die Orgelpfeifen, schräg und pfefferten aus allen Rohren gegen die „Fans“, die mit schlanker Vierlingsflak antworteten.

O du hellsichtiger, o du prophetischer Walt Disney I Was wußten wir gewöhnliche Sterbliche damals von West-Ost-Konflikten, von Jazz als Programm und von — „Stalinorgeln“! Die Silly Symphonie ahnte es, gleichsam eine Phantasie, quasi una fantasia.

W^ell, sagte die Produktion süßsauer zu Walt Disneys Erfolgen; sie nahm ihn ab 1929 auch sonst blutig ernst, denn von da an datiert der Aufbau der selbständigen Walt-Disney-Produktion, die heute in ihrer Kapitalfundierung und Arbeitsorganisation in der Welt nicht ihresgleichen hat. Well, die Leute sind sonderbar Mit den Tieren magst du Glück gehabt haben, Walt. Aber — gibt es so etwas wie gezeichnete Menschen-, Fabelstars: neben Clark Gable und der Crawford? Nein.

Walt Disney sagte: Ja. Und drehte 1935 bis 1937 den abendfüllenden „Schneewittchen“-Film. Er wurde ein Welterfolg, größer noch als die Mickymaus. Zur selben Zeit, da über Europa schon die Schatten kommenden Unheils lagen und — u. a. für Oesterreich — die bedeutungsvolle Premiere für Jahre hinausschoben, beginnt ein neues Kapitel der Filmgeschichte, Walt Disneys zweite Schaffensepoche, nicht mehr gleichsam eine Phantasie, sondern die Phantasie, das Märchen schlechtweg.

Q/““TTneewittchen, Pinocchio, Bambi, Alice im 3^'rl Wunderland, Cinderella, Dumbo. Peter Pan. Es ist eine glückliche Zeit für Walt Disny. Und für uns. Die Ideen stürzen auf ihn ein. Längst ist die Bruchbude in Burbank eine kleine Filmstadt geworden, seit 1940 stehen 20 Gebäude dort und arbeiten tausend Angestellte. Nur das wenigste führt er mehr aus, das besorgt jetzt ein Heer von eingearbeiteten Zeichnern. Schöpfer aber, Inspirator, bleibt er selbst.

Hört man von der fabrikmäßigen Herstellung der Filme, von der Präzisionsmaschine dieser unerschöpflichen Phantasie, ist man fürs erste ernüchtert.

Zu Unrecht. Denn in diesem Manne und seinem Werk geht vielleicht zum ersten Male die modernste Technik und Organisation, viel deutlicher noch als im Phänomen Film überhaupt, eine legitime Ehe mit

jenen geheimnisvollen schöpferischen Kräften ein, die wir bisher der Kunst allein zugewiesen haben. Daher muten auch fast alle Märchen- und Fabelwesen Walt Disneys technisiert, modernisiert, motorisiert an. Der Dichter des Jahrhunderts sitzt nicht mehr frierend im Dachstübchen, „über seiner Mütze nur die Sterne“; er steht am Konstruktionstisch. Bedeutet das eine Einschränkung? Nur bedingt. Denn was für blühende Inspirationen entspringen diesem Zirkel! Ist es nicht eine Königsidee, den blutrünstigen Stier durch den Duft der Rose lammfromm, frommer als den Matador, zu machen — oder dem plumpsten, gewichtigsten Tier, dem Elefanten, Flügel zu leihen? Welche Flügel? Ratet!

Die Flügel, die den Menschen über alle Erdenschwere, über alles Alte und Neue, über alle Giganten der Technik erheben.

Ach, immer nur der Wille, der Geist, das Geschöpf. Und sein Traum, geträumt in der größten Traumfabrik, von Burbank.

Gleichsam ein Flug ins Atomzeitaltcr. Quasi una fantasia.

TJs gibt reine Spielfilme Walt Disneys: „Robin Hood“. Es gibt Mischformen von Spiel- und Dokumentarfilm (soeben sehen wir in Wien „20.000 Meilen unter dem Meer“!), und es gibt — seit 1946: „Das Lied des Südens“ — auch ein kurioses Nebeneinander von Zeichenfabelwesen und realen Gestalten. Sie kündigten überdeutlich das Ende der Märchenepoche Walt Disneys an.

Ueber Nacht brach die dritte Epoche an. Naturwissenschaftliche Kurzfilme hatten sie angekündigt. Trotzdem hielt die Welt den Atem an, als „Die Wüste lebt“ und „Wunder der Prärie“ sich in so vollendet ausgeprägtem Dockumentarfilmstil präsentierten. War das derselbe Mann, der Saiten interpretiert, Grimm korrigiert und selber den Kopf voll tausend tollen Sachen hatte? Hier war nichts mehr von Illusion und Phantasie, hier war die höchste Realität, das Abbild der Natur.

T udwig Gesek zitiert in seinen „Gestalten der Film-kunst“ einen Ausspruch Disneys: „Wir machen Filme, nicht Kunst. Das Wort Kunst darf in meinem Studio nicht einmal gehört werden. Wenn einer dort .künstlerisch' wird, dann erschlagen wir ihn “

Eine Pose des Künstlers, der nicht will, aber doch muß? Vielleicht. Vielleicht aber noch mehr: eine tiefe Selbsterkenntnis. Und vielleicht sogar: ein Wegweiser für den ganzen Film.

Walt Disney ist den Weg vom Spiel der Fabel zum Wunder der Wirklichkeit gegangen. Wird der Film den gleichen Weg gehen: von der Illusion zur Realität, vom Spiel zum Dokument, von der Kunst zum--Film?

“\ 7ielleicht erschlagen wir wirklich einmal den “ Mann, der noch einmal „Kunst“ sagt, wenn er Film sagen will?

Vielleicht gibt es dann bessere Kunst — und bessere Filme?

Vielleicht, vielleicht--

Aber vielleicht ist auch das nur ein Traum,

quasi una fantasia.

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