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QUERSCHNITTE

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Zu spät: die Straßenbahn klingelt, ruckt, fährt an und entschwindet in der Ferne.

Der Fahrgast, den sie nicht mitnahm, x hat fahrplanmäßige drei Minuten Zeit. Drei Minuten sind zu kurz, um eine Zeitung zu lesen. Zu lang, um die Auslage eines Hutgeschäftes sinnend zu betrachten. Was tun? Ein Zeitungsstand ist da, vollgepfropft, überschwemmt mit Journalen, Magazinen und Gazetten. Und Illustrierten. Das Auge findet Beschäftigung, für drei Minuten.

Gleichgültig überfliegt es die Kolonnen des Gedruckten. Bleibt dann auf dem Titelbild einer deutschen Illustrierten haften. Registriert das Großphoto eines Frauenkopfes: geschwungene Brauen, gerade Nase, große Augen; genaue Proportionen und, das ist nicht zu leugnen, Schönheit. Findige Psychologen haben schon vor Jahrzehnten ein Verfahren ausgeheckt, um in menschlichen Gesichtern den „Typus" zu finden: sie photographieren ganze Kompanien, Mädchenschulklassen, Jahrgänge junger Männer, kopieren die Negative übereinander, so lange, 'bis das allen Gesiihtem Gemeinsame klar hervortritt. Der Erfolg ist: ein vollkommen schönes, vollkommen ausdrucksloses Gesicht. Denn der Typus ist immer schön — immer nichtssagend. '

Der Blick registriert 57 Illustrierte. Deutsche, amerikanische, österreichische, französische, italienische. Und von 46 sieht, lächelt, träumt,' lacht ein Ftauen-

gesicht herab: schöne Typen. Der österreichische, französische, deutsche, amerikanische, der Italienische Typ. Das ist ein wenig unheimlich. Tauchen die leeren Marmorköpfe klassischer Pallas Athenen aus den Zeiten auf? Oder sind's gut frisierte Sukkuben? Und wie, wenn man nun die Bilder dieser Typen nochmals übereinander legte und photographierte — was erhielte man? Einen Übertyp? Oder?

Die Straßenbahn biegt um die Kurve. Schluß. Aus. Zurück bleibt der Zeitungsstand. Und 46 schöne Gesichter sind vergessen, ehe das Abfahrtssignal ertönt.

Der vergessene „Jedermann“

Wer die Broschüre der Österreichischen Bundesbahnen über die Fahrpreisermäßigungen durchliest, begreift, wieso Statistiker feststellen konnten, daß nui; 20 Prozent aller Reisenden in Österreich die vollen Fahrpreise bezahlen. Da verzeichnet das Heft Ermäßigungen für bestimmte Berufsgruppen, wie Arbeiter, Artisten, Musiker, Künstler, Kleingärtner, da gibt es Ermäßigungen für Blinde, Schwerkriegsbeschädigte, Hilfsbedürftige, arme Kinder; da gibt es Ermäßigungen für Mitglieder bestimmter Touristenvereine. Daneben gewährt die Bundesbahn Ermäßigungen, die jedermann in Anspruch nehmen kann: Sonn- und Feiertagsrückfahrkarten bis zu 250 km, Sechstagerückfahrkarten, ebenfalls bis zu 250 km gültig, Ruiidreisebillette für Fahrten über 400 beziehungsweise 800 km, die zwei

Monate gültig sind und 24 Unterbrechungen ermöglichen.

Und doch ist in diesem langen Verzeichnis eine besondere Gruppe von Reisenden nicht berücksichtigt: die Ausländer. Verschämt verstecken sie sich unter den Fahrpreisermäßigungen für „Jedermann". Auch sie können natürlich die genannten Rückfahrkarten in Anspruch nehmen — aber auch sie natürlich nur für höchstens sechs Tage — und 250 km. Bis 1938 bemühte sich Österreich, Fremde nicht nur ins Land zu bringen, sondern sie auch festzuhalten. Ein Mittel, um dies zu erreichen, war, ihnen eine Ermäßigung auf den Bundesbahnen erst zu gewähren, wenn sie eine bestimmte Zeit im Lande verblieben waren. Natürlich konnte man auch beliebig lange Strecken fahren und war nicht auf 250 km beschränkt. Andere Länder haben ein ausgedehntes Netz von Fahrpreisermäßigungen für Fremde. Die Deutschen Bundesbahnen gewähren zum Beispiel 50 Prozent nach einem bestimmten Aufenthalt. Die Schweiz kennt Rückfahrkarten für alle Strecken, gültig zehn Tage und jeweils verlängerbar. Berühmt waren die 70prozentigen Fahrpreisermäßigungen, die Italien Hochzeits- ieisenden nach Rom gewährte.

Ein Fünftel der Österreichischen Bevölkerung lebt vom Fremdenverkehr. Welche Schädigungen eintreten, wenn er einmal nachläßt, davon geben die Klagen des heurigen Sommers Zeugnis. Kein reelles Mittel, um Fremde ins Land zu bringen, sollte außer acht gelassen werden. Die Gewährung von besonderen Fahrpreisermäßigungen für Ausländer wäre ein solches.

folgung und Schande gaben; sie war die Aufforderung, Böses von den Menschen zu erleiden, „weil man ein Christ ist“. Es ist der Weg, ähnlich wie Christus zu leiden. „Denn so litt Christus, er litt, weil er die Wahrheit war und nichts anderes sein wollte, als was er war, die Wahrheit selber."

Damit war eine Existenzform wiedergefunden, die nicht zerstört werden kann. Die von Kierkegaard verkündete christliche Revolution mußte in umgekehrter Richtung verlaufen wie die atheistische; sie blieb ein im wesentlichen verborgener Vorgang, der vordrang von Einsamkeit zu Einsamkeit, und doch ist sie eine bedeutende Kraft der neueren Geschichte, mag sie nun im Sinne ihres Erweckers oder in einem ihm entgegengesetzten Sinne sich ausgewirkt haben; auch die Gegenbewegung kann ja die radikal religiöse Fragestellung des Ursprungs nicht verleugnen. Zu den merkwürdigsten Etappen dieser Umwälzung gehört der Widerhall, den sie in Spanien gefunden hat. Unamuno liebte es, Kierkegaard seinen Bruder zu nennen — el hermano Kierkegaard —; es ist doch nur die Konsequenz solcher Entdeckungen und Erfahrungen, wenn der Baske bekennt: „Ich dachte, daß für einen wahrhaften Christen — wenn im bürgerlichen Leben so etwas wie ein wahrhafter Christ möglich ist — die ganze politische Frage, oder was es sonst sein mag, vom Standpunkte des individuellen Interesses an der ewigen Seligkeit, an der Ewigkeit betrachtet, behandelt und gelöst werden müsse. Und wenn das Vaterland dabei zugrunde geht? Das Vaterland eines Christen ist nicht von dieser Welt. Ein Christ muß das Vaterland der Wahrheit opfern." Ist das nicht die Stimme des Las Casas? Die Bedeutung des Dichters Unamuno, eines Tragikers von Geburt, die schwere Problematik des Denkers •— der kein eigentlicher Denker war — kann hier nicht erörtert werden. Seine geistesgeschichtliche Bedeutung liegt darin, daß er die Botschaft des Karmel in die Welt, an Stellen getragen hat, wo sie fast unbekannt oder vergessen war, in einer Stunde, da nur diese Stimme vorbereitend antworten konnte. Der schwermütige Däne war dem Karmel im Grunde nahe; er wußte von der „allerletzten" Steigerung des Leidens: „im bittersten Augenblick von dem Allerletzten verlassen zu werden — von Gott". Uber diese Erfahrung noch hinaus reicht das Gebet Unamunos: „Christus, unser Christus, warum hast Du uns verlassen?" Das ist Gebet, Ausdruck unbe-

sieglichen Glaubens. Denn der uns verlassen hat, muß ja sein: er ist als der Einzige, den wir anrufen in beispielloser Not — wie der Vater ist über dem verlassenen Sohn, gegenwärtig in der Abwesenheit.

Aber es geht hier um das „individuelle" Heil: um das Ich vor Christus, das vor Ihm, indem es in ihn hinüber- stiiibt, indem es sich in die Nacht seines Todes senkt, unwiderleglicher Zeuge wird des Absoluten in Zeit und Ge schichte. Es geht nicht um die Geschichte als Ganzes: um das verzweifelte Sichhin- durchkämpfen des Gottesreiches durch eine bis in die Abgründe aufgewühlte Flut: des Gottesreiches, in dem das Heil aller geborgen ist; in das alle gerufen sind. Und also müßte sich mit der Kraft der christlichen Person, der Person überhaupt, eine andere verbinden: es ist die des uns geoffenbarten Geschichtsbildes. In dem Bilde vom Acker, auf den der Feind das Unkraut sät, auf dem der Herr beides wachsen läßt bis zur Ernte, ist Antwort und Frage: ein furchtbares Ringen geschieht zwischen Weizen und Unkraut um das Licht, um die Kraft der Erde, aber der Herr reißt nicht aus; über

das Ganze spannt sich, sichtbar-unsichtbar,'der Bogen des Gerichts: sichtbar den Gläubigen, unsichtbar denen, die nicht glauben. Der Gläubige, der fragt, warum der Herr nicht aufreißt; der darauf hofft, der den Herrn bittet, es zu tun, versteht den Herrn nicht. Ja, glaubt er noch in Wahrheit? Ist er nicht schon vom Nichtglauben überwältigt? Und damit ergreifen wir das Anliegen Kierkegaards wieder: die essentiell christliche Antwort

Aber wir müssen sie suchen auf dem Feld der Geschichte. Es ist die Furcht vor dem, der kommt: die entsetzliche Furcht, daß er die Ernte nicht finden werde, die er gesät. Es ist das Wissen von der irdischen Unauflösbarkeit des Geheimnisses. Denn wenn das Zeichen der Schnitter am Himmel flammt, so wird es den Anschein haben, daß der Acker überwältigt ist vom Feinde: und doch werden die Schnitter reiche Garben binden. Wie kann das geschehen? Und hat es nicht etwas Furchtbares, Weizen sein zu müssen, erwählt zu sein unter denen, die es nicht sind?

Es ist das Problem der Elisabeth von Dijon, wie es Urs von Bathasar dargestellt hat (Hegner, Olten). Die Antwort ist, unter Berufung auf Römer 9—11, daß „die biblische Erwählung, so persönlich und bestimmt sie sein mag, doch immer eine soziale und stellvertretende ist". Der Apostel erinnert die Römer an die Worte des Isaias: „Ich werde gefunden von denen, die' mich nicht suchten; ich werde denen offenbar, die nicht nach mir fragten."

Damit entfällt eine jede Möglichkeit des Richtens und Scheidens in der Zeit; wir können und sollen wohl den Geist, der Christus bekennt, von dem Geiste

unterscheiden, der ihn leugnet; den Menschen nicht. Wissen wir doch nicht einmal, ob die Ihn Bekennenden Bewunderer oder Nachfolger sind, ob in ihnen die Wahrheit Leben ist. Und damit ahnen wir diejenige Kraft, die diese Zeit entscheiden wird in der Perspektive der Ewigkeit: es ist das Opfer des Gläubigen für die Nicht-Glaubenden, sein einsames Einstehen für die unteilbare Welt und Menschheit in der ihm überantworteten Zeit. Erich Przy wara hat (Besinnung, Nürnberg 1951, sechstes Heft) ein Beispiel dargestellt, das sich zum Symbol erhebt; es ist Simone Weil (1909 bis 1943), die auf Taufe und Ordenskleid verzichtete, um sich von den Nicht- Glaubenden nicht zu scheiden, unter die sie sich gerufen wußte, „verschwindend unter ihnen ,auf daß sie sich zeigen, so wie sie sind, und ohne sich zu verkleiden für mich Denn wenn ich sie nicht liebe, so wie sie sind, sind nicht sie es, die ich liebe, und meine Liebe ist nicht wahrhaftig". Sie hatte erkannt, daß das Böse „der Schatten des Guten" ist; da im Streben nach dem konkret Guten, dem Guten im Geschichtlichen, das Böse nicht vermieden werden kann, so muß man das Böse „auf sich konzentrieren". Simone Weil gab sich in die Wüste. Aber es ist nur die Wüste, die Johannes vom Kreuz im Kerker der Ordensbrüder zu Toledo erlitt: die er gerade für seine Brüder erlitt.

Wir ahnen eine Zeit als Möglichkeit, da der Strom der Kirche unter die Erde tritt; der Strom ist das Leben der Welt; aber die nur werden ihn erspüren und finden, die die Agonie der Dürre dieser Welt erduldet haben. Wir wissen durch-

aus nicht, ob eine solche Zeit noch fern oder schon sehr nahe ist; wir wissen nur, daß Geschichte nicht enden wird, ehe diese äußerste Not sich erfüllt. Christ sein in der Geschichte aber heißt: sich auf das Ende bereiten und zugleich die Zeit „auszukaufen“, die ist, leben in der Gegenwart des Kommenden, unter dem Zeichen des Ärgernisses, mit dem Erniedrigten, der einst als Erhöhter alle an sich ziehen wird: im täglichen, stündlichen Gericht Seines Lebens.

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