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QUO VADIS ?

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Franz war ratlos ins Freie gegangen. Als er durch die Türe trat, überfiel ihn die Nacht. Die Nacht rauschte, ohne daß eine Spur von Wind sich erhoben hätte. Daß es so still war, machte sie so laut. An der Horizontlinie blitzte es verschüchtert auf. Dann ereignete sich eine silbrige Detonation. Heere platzten aufeinander, und in ihrer Mitte erstrahlte die blendend bleiche Unendlichkeit, der Mond. Plötzlich war alles begriffen, was bisher nur belebt gewesen war, es gab Figuren und Silhouetten. Die zerrissenen Bäume ächzten gen Himmel, und ganz nahe von Franz blickte ein Brunnen ihn schweigend an. Jahrhunderte schienen abgetan. „Schon wieder zurück?“ wurde Franz im Hause empfangen; denn dort waren nur ein paar Augenblicke üblicher Geschäftigkeit vergangen. Es knisterte im Kamin, die Kerzen knicksten höflich, der Schreibtisch wünschte einen schönen guten Abend. Frieden lag über den Geräten. Frieden: den Menschen auf Erden; selig, die nicht sehen und doch glauben, daß Gott Sohn Mensch geworden ist.

Franz durchmaß unruhig den Raum. Wer kann für wahr nehmen, daß Gott, der Allmächtige, gezwungen war, die von ihm geschaffene Menschheit selbst am Kreuz zu erlösen? Und wir, die Menschen, seien geschaffen nach seinem Vorbild? Alles an uns, auch das Mephistophelische? Der Verrat Judas — eine qualvolle Konstruktion. Ich glaube das alles nicht, ich kann es nicht glauben, so, wie man sagt: glauben heißt für wahr halten. Ich halte es nicht für wahr, ich nehme es nur an. Denn ich habe Furcht davor, ein Ungläubiger zu sein. Wäre es aber besser, ich wäre unredlich und sagte, ich könne das alles Wort für Wort glauben? Gehöre ich denn noch zur Kirche, wenn ich das sage? Es treibt mich hin und her, es treibt mich hinaus und herein, es läßt mich nicht ruhen Unendlicher Absturz.

„Das ist auch einer von denen“, sagte verächtlich der Capo. Mit einigen zwanzig Priestern zusammen war Franz abgeholt worden, als in dieser grellen Nacht der Morgen aufstand, um als Tag zu leben. Unabsehbare Scharen von Vögeln wisperten in den Zweigen, sie wagten noch nicht, sich zu erheben; das Licht zitterte scheu hinter den Bergen, und kühl war die Erde bis an die Stirn hinan. Sie marschierten Stunden, während Franz sich verwunderte, daß er nicht müde wurde, sie wurden wie Kolli verladen, niemand kümmerte sich darum, ob sie Platz hatten, oder hungrig waren, oder gar Atemluft brauchen. Am Nachmittag ging es weiter durch immer öderes Land zu Fuß, endlich wurden sie übergeben. Wer schrieb den Lieferschein für dieses Menschenmaterial? Keiner, es war geliefert —, aus. Die Nacht konnte kommen. Tiefe, klare Nacht. Die in die Scheune floß, darin sie eingeschlossen waren.

Da waren alte und da waren junge Männer, aufrechte und erschrockene, große und kleine. Keiner seufzte. Warum auch verzweifeln, wenn nichts zu zweifeln war? Ihnen widerfuhr eine Gnade, nur Franz geschah ein Gericht. Es kam der Aufseher ins Dunkel herein, stieß mit dem Stiefel gegen die Liegenden, lachte über das Geräusch eines knackenden Kiefers und leuchtete sie ab; fast als ersten sah er Franz ins Gesicht. Verwundert sagte er: „Was treibst du hier?“ Er holte ihn näher heran, schüttelte den Kopf: „Dich kenn ich doch, alter Saufkumpan! Es ist schon ein paar Jahre her — aber was tust du bei denen da?“ Er wisse es nicht, mußte Franz antworten. Freundschaftlich schlug ihm der andere auf die Schulter: „Wart nur, wir kriegen das schon.“

Damit schlenderte er hinaus, aber dabei blieb es auch. Man stieß sie, man quälte sie, man spie sie an. Der und jener brach zusammen, er wurde bestraft; und mancher kam nicht mehr wieder. Die Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit war ungeheuer. Wir werden denen ihren Herrgott schon austreiben, sagten die Wachen, Er soll ihnen helfen, wenn Er kann. Nachts schluchzten sie im Dunkeln, die Jüngeren. Als ein alter Mann zu reden begann, tröstend und voll Glauben, brach Licht an, die Wachen stürmten herein und schlugen wild auf sie ein. Franz sah sie sich winden, ihn traf kein Hieb. Dann wurde dumpfe Ruhe. Beim Antreten am darauffolgenden Morgen erklärte der Kommandeur: wer von den Lumpenkerlen sich an die Front melden wolle, der habe jetzt Gelegenheit. Aus Anlaß seines Geburtstages habe der oberste Feldherr diese Bestimmung getroffen. „Freund", raunte der Aufseher Franz zu, „das ist dein Fall.“

Die Strenge ließ etwas nach, abends durfte geredet werden. Der alte Priester von damals sprach jetzt wieder. „Es ist eine Zeit der Not“, sagte er, „es gibt darum keine feste Regel. Wer sich melden will, kann es ohne Belastung seines Gewissens tun. Vielleicht wird er gerettet. Was ihm bestimmt ist, das trifft ihn dort wie hier. Aber was ihn hier ereilt, das packt ihn ohne sein Zutun — was ihm draußen widerfährt, das hat er selbst gewollt. Aus Not gewollt, ich wiederhole es. Möge jeder sich entscheiden.“ Keiner ließ sich einschreiben. „Na, und du, Franz?" sagte der Aufseher wieder freundlich, nachdem er ihn so lange kaum mehr gekannt hatte, „Die da, die müssen leiden, weil es ihnen so recht ist. Aber du, du wärst doch ein guter Soldat. Also ich schreibe dich auf, nächste Woche bist du draußen.“ Er mache das schon selber, wandte Franz ein. Mürrisch ging der Helfer weg. Am nächsten Morgen wurde Franz von der Grabarbeit in den Steinbruch geschickt.

Erschöpft und zitternd kam er abends in die Scheune, er sah die Hand vor den Augen nicht mehr. „Kannst du nicht grüßen, Hund?“ schrie ihn eine Stimme an, und eine Peitsche schlug über sein Gesicht. Er wankte weiter, einer sprach ihn drinnen an, aber er verstand nichts. Er sank auf seine Pritsche. Alles war besser als dieses Dasein, er mußte hier heraus. Wofür litt er denn? Die hier blieben, die wußten es. Sie litten für den Glauben, er aber? Für wen sollte er zeugen? Unter solchen wirren Gedanken mähte schon die Sense des Schlafes seinen Sinn dahin. Mit blutigen Striemen und schmerzenden Gliedern wurde er im Morgendämmern von der schrillen Pfeife geweckt. Hinaus in den Steinbruch, Blasen auf den Händen, zerschunden, zerkratzt. „Ich nehme dich ins Revier“, sagte der Aufseher leise zu ihm, „Und dann gehst du hinüber und schreibst dich für die Front ein." — Und er schob ihn weg.

Franz lag auf einer Pritsche allein, fast ein Mensch. Die Sonne schaukelte vor seinem Fenster wie ein Kind im Wind, der Mittag wuchs aus der Erde, der Abend schwebte nieder und fuhr wieder zum Himmel auf. Das alles hatte er schon lange nicht mehr verspürt, lange, unermeßlich lange, wohl an drei Wochen. Er war allein, niemand quälte ihn, keiner schrie auf ihn ein. Morgen würde er sich melden, die Freiheit gewinnen. War er dem Krieg aufbehalten worden, so behielt ihn der Krieg auf. Nicht alle Soldaten fielen, Millionen kamen zurück. Du wirst mir gnädig sein, o Gott, sagte er vor sich hin, ohne Tränen weinend. Innen liefen die Schmetzensperlen in ihm ab, sie hatten nicht mehr die Kraft, aus den Augen zu treten. Was ist aus dir geworden, Franz! Du hast es so leicht, dich zu retten. Daß du dabei den Glauben verrätst, den Glauben der ändern, denen sie dich zugezählt haben, das nimmt dir keiner krumm. Der alte Priester hat gesagt, daß es Not ist; Not ist; und was willst du noch, da du ohnehin das nicht zu glauben vermagst, was er und seinesgleichen von dir fordern? Hier verkommst du, hier gehst du zugrunde und keiner merkt etwas. Du stirbst nicht als Bekenner, sondern als unbeachtetes Opfer anonymer Kräfte. Wenn du aber wirklich einen Glauben hast, so kannst du ihn draußen bewähren, und eines Tages vielleicht laut in die Welt rufen. Hier versinkst du als Einsamer im Sumpf, alles bleibt stumm. Geh fort, es ruft dir keiner nach.

Nirgends ein Bild, mit dem er hätte Zwiesprache halten können. Er schloß die Augen. Vor seinem innern Blick erschien ein oft gesehener Umriß: eine zarte Krone, ein liebliches Antlitz, das heilige Kind. Nichts anderes war mehr. Wo eigentlich, in weiter Ferne, oder ganz nahe, unhörbar laut geflüstert wurde, wußte er nicht. Fest schlossen sich seine Finger zusammen, er gehörte sich wieder. Die Not, die ihn verließ, gab ihm Kraft, sie zu vergessen. Er wußte: war er ein Ungläubiger, so doch ein Gläubiger. Und für das, was er nicht glauben konnte, wollte er Zeugnis ablegen vor den Gegnern. Womit er sich herumschlug, das ging nur ihn an. Er mußte das tödliche Mißverständnis auf sich nehmen.

Als er in die Scheune zurückkehrte, trat ihm der Aufseher in den Weg: „Elf haben sich gemeldet, mit dir ist das Dutzend voll."

„Elf von uns?"

„Ach was, nein, vom Bunker drüben. Von den schwarzen Brüdern keiner.“

„Ich bleibe auch. Versteh’ — ich kann doch nicht als der einzige Weggehen.“

„Aber du bist keiner von ihnen. Ich kenn dich. Du glaubst doch nicht den Unsinn, den sie verbreiten: daß Gott hätte sterben müssen, damit wir komische Menschen leben können. So einen armseligen Allmächtigen möchte ich sehen. Nein, unser Gott ist dafür zu groß.“

„Ja, Gott ist groß,“ sagte Franz, „er ist zu uns auf die Erde gekommen.“ War es nicht so? Er war bereit, für diese unge- glaubte Wahrheit zu sterben, langsam umzukommen, stumm zu versinken.

„Dir ist auch nicht zu helfen,“ murrte der Aufseher und ließ ihn stehen. Vom zweiten Hof her hörte man peitschende Stimmen und Stampfen, dazwischen Pfiffe. Strafexerzieren. Auf, nieder. Auf, nieder. Auf!

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