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Quoten und ihre wahre Bedeutung

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Bekanntlich kommen zu den Lesungen der ganz bedeutenden Dichter immer ganz wenig Leute. Publikum und noch dazu sichtbares und greifbares Publikum zu haben, ist für den wahren Meister, für die literarische Kapazität, die von vornherein der Zeitlosigkeit zugedacht ist, stets ein wenig peinlich, weil die Leute, die zur Lesung kommen, normalsterblich, wie sie sind, automatisch ungeniert annehmen, daß ihnen das Salbungsvolle und Seelenabgepreßte, das sie zu hören bekommen werden, nicht zu hoch, hermetisch, konzeptionell und jenseits ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten ist, daß ihre eigene bloße Anwesenheit - und unverhohlene Schaulustigkeit - nicht unweigerlich einer Verunheiligung gleichkommt, obwohl sie doch untertags Angestellte, Tageszeitungsabonnenten, zwi-schenmenschlichkeitslüstern, bauchdirigiert oder auf Kur oder in Pension sind und als Traumberuf Bundesbeamter angeben: So weit ist es in diesem Land mit der Phantasie gekommen, und wohl nicht nur in diesem Land und wohl nicht nur mit der Phantasie ...

Der wahre Meister, der wahre Hohepriester des geistigen Prozesses eines ich, wird er daher nicht unterlassen, allfällige Spurenelemente von Publikum sofort aufs wüsteste zu beschimpfen und zu verunglimpfen, mindestens aber zu mißachten, geringzuschätzen und zu ignorieren und allein mit seinem stechenden Blick einen tiefen Graben zwischen sich und den Irdischen zu ziehen.

Wenn man aber guter Dinge mit seinem neuen Buch unter dem Arm ans Pult tritt und plötzlich feststellen muß, daß der ganze Saal mit Publikum vollgestopft ist und sich noch Menschen an die Wände pressen und am Gang drängen, die dafür womöglich noch Eintrittsgeld bezahlt haben, muß man nachdenklich werden und sich fragen, wo da der Fehler liegt, was da karrieretechnisch schiefgelaufen ist. Im Grund ist man damit auf Jahre hinaus erledigt, und die Kritiker, Literaturwissenschaftler und einflußreichen Szeneexperten werden sich für einen solchen Affront gehörig zu revanchieren wissen: Von Verunglimpfung und Mißachtung bis zu Geringschätzung und Ignoranz muß man mit allem rechnen.

Wenn einmal der ganze Saal voll ist, haben Beteuerungen, es handle sich beim Publikumsmagnetismus um ein bedauerliches Mißverständnis, ebenso wenig Sinn wie Grabungsarbeiten oder offensive Publikumsbeschimpfungen: Dann kommen beim nächsten Mal nur noch mehr Masochisten. Vielleicht wird man auch mit einem Berufssympath-ler verwechselt, ganz sicher wird man nicht für einen seriösen Großschriftsteller mit Ohrenleiden und Weltfremdheit gehalten. Jedenfalls sollte man keinen Text vortragen, der mit dem Satz beginnt: Bekanntlich kommen ,zu den Lesungen der ganz bedeutenden Dichter immer ganz wenig Leute.

Ich kann mich gut erinnern, daß ich in den Anfangsjahren meiner Laufbahn, zumindest was die Publikumsauslastung meiner' Lesungen betroffen hat, auf einem sehr verheißungsvollen negativen Weg gewesen bin. Zu meinem ersten öffentlichen Auftritt im Klagenfurter Universitätsclub - ich war knapp über zwanzig und las einen Text über den geistigen Prozeß eines ich in meinem Alter sowie über Ohrenleiden - kamen mein Vater, meine Mutter und meine damalige Freundin; rückwirkend betrachtet hätte man als Veranstaltungsort also durchaus auch unser Wohnzimmer wählen können. Mein Vater ist gleich beim ersten 'Text eingeschlafen, obwohl er selbst eine der Hauptfiguren darin war, meine Mutter sagte, in Wirklichkeit ist das alles anders gewesen, meine Freundin hat mich kurz darauf verlassen und sich mit einem Eishockeyspieler liiert, und ich durfte mir also tatsächlich noch wie ein junger Kafka vorkommen.

Es hat alles sein Gutes: Umso weniger Leute kommen, desto weniger Leute wissen, wie wenige Leute gekommen sind. Nur schade, daß auch kein Wissenschaftler anwesend war, der meine Familie mit der sprichwörtlichen kleinen, qualifizierten Minderheit verwechseln - und mir im übrigen die gähnende Leere und schicke Quarantäne hätte gutschreiben und mit einem Stipendium hätte quittieren können. Ich stamme aus einer Zeit, in der man literarisch eigentlich nur als uneheliches Fließbandarbeiterkind, Rauernopfer oder Tanzenberggequälter wirklich eine Chance auf Marktanteile hatte.

Keine hundert Lesungen später oder fünfzehn Jahre nach diesem ersten postpubertären Privatissimum warteten im Wiener 'Tabakmuseum über dreihundert mir völlig unbekannte und mit mir weder verwandte noch verschwägerte Personen und eine Fernsehkamera des ORF auf den Vortrag aus meinem neuerschienenen Ruch „Alles Irre unterwegs”. Die Fernsehkamera, ohnehin eine profane Maschine sondergleichen, wurde nicht von der Kulturredaktion, sondern von der Seitenblickeredaktion ausgeschickt, was für mich eine arge Demütigung war.

Gelesen habe aus meinem neuen Ruch allerdings nicht ich selbst, sondern der Burg-schauspieler Robert Meyer, und es könnte sein, habe ich mir mitten im Publikum versteckt gedacht, daß der eine oder andere der dreihundert mysteriösen Fremdlinge nicht wegen mir, sondern wegen Robert Meyer gekommen ist, und es besteht also doch noch Hoffnung, daß ich einmal ein verkanntes Genie werde. Meyer las meinen Essay über das Rauchen, wo der manisch-panisch paffende Icherzähler nicht nur seine Weltangst und Daseinsverdrossenheit, sondern auch seinen Luftmangel, seine chronischen Atemnotattacken, sein operationsimmun verkrümmtes Nasenseptum, seine beklemmenden Rachenbeschwerden und das hartgesottene

Halsnasenohrenarztachselzucken bespricht, sozusagen den körperlichen Prozeß eines ich, der so oder so ins Verderben führt. Eben deswegen hätte ich an diesem 'Tag beim besten Willen auch gar nicht persönlich lesen können. Im Gegenteil war diesmal ich der obligate Störenfried im Publikum, der dauernd krächzt und röchelt und husten muß. Ich bin mehrmals angezischt worden.

Nach dem Vortrag erwischte eine Dame aus dem Publikum Meyer Tor dem Tabakmuseum (im Tabakmuseum selbst gilt kurioserweise Bauchverbot), sie gratulierte ihm zu dem trefflichen Text und sagte ihm: Ich habe mir gleich gedacht, daß sie autobiographisch schreiben!

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