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Radikale Geister

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Den unverkennbaren Zug und Drang unserer Zeit zum biographischen Detail, zum Blick hinter die Kulissen ins Privatleben bedeutender Persönlichkeiten befriedigen unzählige Publikationen, vom Zeitungsartikel im Dreigroschenblatt über die „enthüllenden” Reportagen in den Wochenillustrierten bis zum dicken 1000-Seiten- Wälzer der Romanbiographie.

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Den unverkennbaren Zug und Drang unserer Zeit zum biographischen Detail, zum Blick hinter die Kulissen ins Privatleben bedeutender Persönlichkeiten befriedigen unzählige Publikationen, vom Zeitungsartikel im Dreigroschenblatt über die „enthüllenden” Reportagen in den Wochenillustrierten bis zum dicken 1000-Seiten- Wälzer der Romanbiographie.

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Von diesem „Trend” profitieren sicher auch „Rowohlts Monographie n”, obwohl sie keineswegs auf Sensationen angelegt sind, sondern, fast ausnahmslos, solid-zuverlässige Texte mit einem reichen, die private Sphäre kaum einmal verletzenden Bildmaterial vereinen. Bisher sind 60 dieser Taschenbücher erschienen, jeder Band enthält 70 Abbildun-

gen und hat einen Umfang von 170 bis 180 Seiten. Der Preis beträgt 2.50 DM. Kurt Kusenberg ist der Herausgeber dieser Reihe mit dem Untertitel „Große Persönlichkeiten in Selbstzeugnissen und Dokumenten”. (Nach den zuletzt erschienenen, die im folgenden angezeigt werden sollen, tritt der einzelne Autor, der das Manuskript verfaßt hat, stärker hervor, obwohl er natürlich auch Selbstzeugnisse zitiert und Bildmaterial vorlegt.) Die Reihe der Persönlichkeiten, die bisher behandelt wurden, ist außerordentlich bunt. Sie umfaßt Franz von Assisi und den Apostel Paulus ebenso wie Heinrich von Kleist, Franz Schubert, Kierkegaard und Paul Klee. Besonders verdienstvoll ist der jeden Band beschließende bibliographische Teil mit Angaben über Editionen, Übersetzungen, Literatur über den Betreffenden, einer Zeittafel und Zeugnissen berühmter Männer — Künstler und Kritiker — über den Dargestellten.

Die Monographie über LEV TOLSTOJ hat Janko L a v r i n verfaßt, der eine umfassende Kenntnis der russischen Literatur- und Geistesgeschichte besitzt, einschließlich der sozialrevolutionären Strömungen im 19. Jahrhundert, und der seinem Gegenstand sachlich-kühl gegenübersteht. Die Kämpfe dieses zwiespältigen und vielschichtigen Künstlers, Sozialphilosophen, Lebensreformators und Verkünders einer neuen Heilslehre werden in allen Phasen eindringlich und dramatisch geschildert. Tolstojs Frau, der ebenso unglücklichen wie eigenwillig-unbequemen Sophia Andrejewna, läßt Lavrin volle Gerechtigkeit widerfahren, wie uns scheinen will: manchmal allzusehr auf Kosten von Lev Nikolajewitsch. Im Ganzen: eine vorzügliche Einführung in Tolstojs problematisches Werk, das immer wieder radikale Geister faszinieren wird.

Leben und Werk von DAVID HERBERT LAWRENCE, dem Autor des skandalumwitterten Romans „Lady Chatter- ley”, hat Richard Aldington dargestellt, der sich an vielen Stellen seines Textes als Freund und Bewunderer von Lawrence bekennt. Mehr als 30 Jahre nach des Dichters Tod (Lawrence ist be-

reits 1930 mit 45 Jahren gestorben) sei wenigstens in England die Auseinandersetzung um Lawrences Geltung endgültig positiv entschieden. Trotzdem muß der Biograph seinen Helden immer wieder in Schutz nehmen, der einer der unausstehlichsten und undankbarsten Männer gewesen zu sein scheint, von dem die neuere Literaturgeschichte zu berichten weiß. Dem Arbeiterstand entstammend, hat D. H. Lawrence an der englischen Zivilisation, besonders an ihrer Geschlechtsmoral, radikale Kritik geübt und selbst eine Art Neo-Vitalismus propagiert. Dieser Teil seines Werkes kann heute wohl kaum noch sehr interessieren (höchstens den Kulturhistoriker), dagegen vermag der Dichter Lawrence durch seine intensiven Naturschilderungen auch heute noch zu fesseln. — Das konstatiert man zum Beispiel auch in dem — gleichfalls vor kurzem bei Rowohlt erschienenen — Eheroman „Auf verbotenen Pfaden”. — Ein interessantes Detail: Wie Tolstoj war Lawrence mit einer Deutschen verheiratet, einer gewissen Frida von Richthofen, die seinetwillen Mann und Kinder verließ, die ihn „managte” und zuletzt, wie Tolstojs Frau, mit ihrem Mann tödlich verfeindet war.

„Algerien, blutrote Blüte Frankreichs “, so beginnt die Lebensgeschichte von ALBERT CAMUS, wie sie Morvan Lebesque niedergeschriebet hat, wohl gleichfalls ein gebürtiger Algerier wie Camus. (Bei dieser Gelegenheit: Es wäre erwünscht, wenn der Verlag auch seine Autoren, wenn auch nur mil zehn Zeilen, vorstellen würde.) Alberi Camus, 1913 geboren und am 4. Jännei 1960 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, nachdem er knapp drei Jahre vorher den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, hinterließ ein schmales, aber bedeutsames und explosives Werk, das Lebesque zu deuten versucht. Eindringlicher gelingt ihm die Schilderung des Menschen Camus, eines ernsten, schweigsamen, ungemein gewissenhaften und freundlichen Mannes, der die Leiden seiner engeren Heimat durchlitt wie woh. wenige, ohne dabei der Verpflichtung gegenüber dem einzelnen Menschen une der Menschheit sich enthoben zu fühlen Lebesque schildert dieses Leben mit seinen Schwierigkeiten, Freundschaften une Gefährdungen mit heißem Herzen, etw: die Freundschaft mit Gérard Philipe, dei fast gleichzeitig mit Camus starh, seir Engagement in der französischen Widerstandsbewegung, im Frankreich nach 1945 und nach dem Ausbruch des Algerienkrieges, seine Arbeit als Redakteur de: „Combat”, wo alle, die ihm begegneten, „selbst wenn sie seine Bücher nicht gelesen hatten, genau spürten, wer Camus war, und sich durch den Umgang mit ihm gestärkt und bereichert empfanden”. Das gehaltvolle Büchlein enthält viele „harte” Bilder: Photos von Kämpfen, Folterungen, Todeszellen, die die harte Zeit spiegeln, in der Camus sein tapferes, uneigennütziges Leben lebte

Luft von anderen Planeten weht aus dem Bändchen, das dem Leben und dem Werk JEAN COCTEAUS gewidmet ist, André F r a i g n e a u ist der Autor, der mit dem Dichter dreißig Jahre lang in Freundschaft verbunden war. Fraigneau geht es vor allem darum, Cocteau vom Odium eines Dilettanten auf allen Gebieten zu befreien. Cocteau schrieb bekanntlich Romane, Essays und Theaterstücke, er zeichnete, malte und führte Regie, seit 1945 trat er auch immer häufiger in der Öffentlichkeit auf: als Redner, Vorsitzender in verschiedenen Preisgerichten und als Interpret eigener Dichtungen. Sein jüngstes Werk ist die Ausmalung der Kapelle von Villefranche. Auch Cocteau war, so meint sein Biograph, ein Engagierter, und zwar für die Kunst — und damit auch für das Leben. Hierfür ist der Ausspruch Cocteaus charakteristisch: „Jeder Mensch trägt eine Nacht in sich, und die Arbeit des Künstlers besteht darin, diese Nacht ans Tageslicht zu bringen.” Die romantische Schau, der dionysische Rausch sind ihm fremd. Cocteaus Kunstideal ist — das hat er immer wieder deklariert — durchaus das klassische. Doch hat das mit dem ominösen „Art pour Art” nichts zu tun. Hierfür gibt es zahlreiche Zeugnisse von dem frühen „Brief an Maritain” bis zu dem späteren Sammelband „Die Schwierigkeit zu sein”, der wiederholt zitiert wird.

Der jüngste der radikalen Geister aus der Rowohlt-Reihe ist der frühverstorbene Deutsche WOLFGANG BORCHERT, Jahrgang 1921. Er wurde als Sohn eines Volksschullehrers in Hamburg geboren und teilte das Schicksal seiner Generation, mit der sich der Staat sehr frühzeitig zu befassen begann, jener Staat, zu dem Wolfgang Borchert bald in Opposition geriet. Der kluge und distanzierte Text von Peter Rühm köpf ist in die folgenden Kapitel gegliedert, die zugleich einen guten Plan des ausgezeichneten Büchleins geben: Die Eltern — Ein exzentrischer junger Mann — Kaum ein Frühtalent — „Ich muß steigen, um zu fallen” — Der Komödiant — Narr und Neinsager — Zelle 9 — „Unser empfindliches deutsches Rilke-Herz” — Kabarettistisches Zwischenspiel — „Wegen Zersetzung der

Wehrkraft” — Revision der Leitbilder — Die Heimkehr — Im Zeichen der Krankheit — Beckmann, der romantische Rebell — Unerwartete Resonanz — Die neue Harmonielehre — Gespräche in der Schweiz — Der Tod zu Basel. Es geht Rühmkopf darum, an die Stelle des vagen Borchert-Mythus, der sich bald nach dem frühen und tragischen Tod des Dichters gebildet hat, ein klares, gültiges Bild zu setzen und zu zeigen, daß Wolfgang Borchert keineswegs mit dem Helden seines

Heimkehrerstückes identisch ist. Dieses Stück — es hieß „Draußen vor der Tür”— wurde 1947 innerhalb von acht Tagen niedergeschrieben, und der Autor meinte, daß kein Publikum es sehen und kein Theater es spielen werde. Es hat seinen Verfasser weltberühmt gemacht als Prototyp eines radikalen Verneiners. Aber gerade hier setzt Rühmkopfs kritische Berichtigung an — und das ist sein Verdienst.

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