Krähe - © Illustration: iStock/ THEPALMER (Bildbearbeitung: RainerMesserklinger)

Radka Denemarková: Im Land der Blauelstern und Krähen

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Literarisches Engagement, poetische Sprache und originelle Form: Radka Denemarkovás monumentaler ChinaRoman „Stunden aus Blei“.

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Literarisches Engagement, poetische Sprache und originelle Form: Radka Denemarkovás monumentaler ChinaRoman „Stunden aus Blei“.

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Die Blauelster ist kleiner als die bei uns bekannte Elster. Ihr Gesang ist rauer, ein Krächzen mehr. Sie wirkt gedrungener, aber auch schöner, mit ihren langen, tiefblau leuchtenden Schwanzfedern. Radka Denemarková liebt Vögel als motivische Tiere. In ihrem letzten Roman ließ sie einen kommentierenden Chor der Schwalben unheilschwanger durch die Geschichte flattern. In ihrem neuen Roman „Stunden aus Blei“ stellt sie die Blauelster den schwarzen Krähen gegenüber.

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„In Peking hat sich die schwarze Krähe eingenistet und verbreitet. Sie ist blind; sie wurde einer Gehirnwäsche mit vollkommen richtigen und widersprüchlichen Antworten unterzogen. Der Krieg zwischen der schwarzen Krähe und der Blauelster ist bereits im Gange.“ Die Blauelster ist eine Verkörperung der „unruhigen Seelen der Toten“. Und es ist ausgerechnet eine blinde schwarze Krähe, die der Blauelster die menschlichen Augen auspickt.

Totalitärer Polizeistaat

Unruhige Seelen gibt es in Denemarkovás monumentalem China-Roman viele. Eine davon ist eine chinesische Studentin, die einen kritischen Artikel über die politische Führung schreibt, verschwindet und ermordet wird. Radka Denemarková hat so eine Studentin gekannt. Sie selbst war mehrmals in China, wurde auf Literaturfestivals eingeladen, das Interesse an Tschechien ist gerade bei systemkritischen Intellektuellen groß, Václav Havel gilt vielen als Held, erzählt Denemarková dem internationalen Radiosender Czech Radio. Sie trifft auf ihren Chinareisen Künstler, Schriftsteller, Oppositionelle und ist schockiert von dem nur an der Oberfläche wunderschönen, harmonischen Land, das in Wahrheit ein brutaler, totalitärer Polizeistaat ist. Seit sie sich 2017 selbst kritisch über Menschenrechtsverletzungen in China äußerte, hat die 1968 geborene tschechische Autorin Einreiseverbot. Man kann davon ausgehen, dass „Stunden aus Blei“ dieses in Stein gemeißelt hat.

Eine tschechische Schriftstellerin ist auch die zentrale Figur in „Stunden aus Blei“. Rund um sie sind lose andere Figuren gruppiert: der oppositionelle Freund, der überwacht und verfolgt wird, ein Programmierer, den es wegen des Geldes nach China verschlägt, ein Diplomat und seine Frau. Die spektakulärste Figur ist der tausendjährige Kater Pommerantsch. Er hat die wichtigsten Stationen der Weltgeschichte erlebt und hat zum aktuellen China genauso eine Meinung wie zu Freud und Hitler. Die ironische Stimme der Weisheit ist ausgerechnet jene einer Katze. Möglicherweise werde sie einen Schelmenroman schreiben, scherzt die Schriftstellerin, als sie Pommerantsch zum ersten Mal mehr unbewusst als bewusst aus den Augenwinkeln wahrnimmt. Und es ist in der Tat Pommerantsch, der die bleiernen Stunden etwas erträglicher macht und für Leichtigkeit sorgt. Er wird zum Begleiter der Schriftstellerin, womit die Last der Chronistin auf mehrere Schultern verteilt wird.

Wie ein Setzkasten

Denemarková spürt den Stunden aus Blei nach, die auf ihren unterschiedlichen Protagonisten liegen, den großen Krisen, die sie durchleben. Die fröhlichen Seiten des Lebens interessierten die Schriftstellerin literarisch noch nie. In „Ein herrlicher Flecken Erde“ zeigte sie, dass das Martyrium für die Überlebenden des Holocaust auch nach der Rückkehr oft nicht vorbei war, ihr letzter, großartiger Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ ist eine bitterböse und verstörende, poetisch vorgetragene Bestandsaufnahme der Gewalt an Frauen.

„Stunden aus Blei“ funktioniert wie ein Setzkasten, mit verschiedenen Kästchen, in denen sich die Protagonisten befinden. Je nachdem wie man die Kästchen rundherum besetzt, sprich, wie man die Protagonisten miteinander interagieren lässt, welche Ausschnitte aus ihrem Leben man zeigt, entsteht eine andere Wirkung, erkennt man persönliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede, aber auch größere, politische Strukturen.

Daraus ergibt sich zwar ein Bild aus vielen kleinen Einzelbildern, doch der Zusammenhang bleibt lose, ein roter Faden wird verweigert, ein großes politisches Narrativ negiert. Namen bekommen nur die wenigsten ihrer Figuren. Individuelle Psychologie spielt keine Rolle, diese Figuren sind exem-plarisch zu lesen und auch die Familien sind Abbilder des Staates und umgekehrt, das wird wiederum an der tschechischen Familie des Programmierers vorgeführt und von einer Katze entlarvt: „Die Katzenpfötchen hinterlassen eine Botschaft im Schnee. Alles im Land leitet sich von Familienbeziehungen her. Der Staat wiederholt lediglich das Verhaltensmuster, das Familienparadigma.“ Nur die Tochter des Programmierers bekommt einen Namen: Olivie, ein Hoffnungsschimmer in der sonst an Hoffnung armen Gegenwart.

Seit sie sich 2017 kritisch über Menschenrechtsverletzungen in China äußerte, hat die tschechische Autorin Einreiseverbot.

„Stunden aus Blei“ verbirgt an keiner Stelle, dass es ein durch und durch politisch engagiertes Buch ist. Dass Radka Denemarková ein so unverhohlen vorgetragenes literarisches Engagement in eine so poetische Sprache und eine so originelle Form überführen kann, macht sie zu einer der spannendsten Gegenwartsautorinnen überhaupt.

Tschechien ist heute ein Land im Herzen Europas, politisch erfreulich unauffällig, die bewegte Vergangenheit von vielen vergessen. Doch in Wahrheit ist die Samtene Revolution noch nicht lange her, im November 2022 werden es 33 Jahre sein. Dass eine tschechische Autorin, die den Kommunismus noch selbst erlebt hat, mit ihm gelebt hat, eine andere, wohl spannendere Perspektive auf China als viele ihrer europäischen Kollegen hat, aus dem Paradox heraus, dass die Gemeinsamkeiten der kommunistischen (Schein-)Systeme größer waren, ist ein Grund, weshalb „Stunden aus Blei“ so hellsichtig und lesenswert ist.

Das macht den Roman, an dem Denemarková fünf Jahre gearbeitet hat und den sie als ihr Lebenswerk bezeichnet, zu einem sehr persönlichen Buch: „Kann man gleichzeitig leben und schreiben? / Das Leben greift mit seinen eigenen Themen an. / Worte, die einen in Europa von allen Seiten bestürmen, bedeuten hier nichts. / Worte, die hier auf eine Miniaturwaage gelegt werden, bedeuten Leben oder Tod.“ Doch Denemarková macht es sich nicht so einfach, aus der Perspektive der Europäerin und des im eigenen Land überwundenen Kommunismus China zu kritisieren. Ihre Kritik geht tiefer und betrifft den Kapitalismus und europäische Formen der Menschenverachtung gleichermaßen. Patriarchale Strukturen, Rassismus, Gewalt an Frauen ist nicht an ein politisches System gekoppelt.

Konzentriert komponiert

Es braucht ein bisschen, bis der fast 900 Seiten schwere Roman so richtig zündet, bis genug Kästchen des Setzkastens sichtbar sind, um sich zu orientieren. Doch allein sprachlich zieht einen der Text von Anfang an in den Bann. Es ist erstaunlich, wie Denemarková es schafft, einen Text dieser Länge Wort für Wort so konzentriert zu komponieren. Auch optisch ist das bei Hoffmann und Campe erschienene, von Eva Profousová übersetzte Schwergewicht, mit der eleganten Blauelster auf dem roten Cover, eindrucksvoll. Noch treffender allerdings ist das Cover der tschechischen Originalausgabe (erschienen schon vor drei Jahren und 2019 mit dem renommierten Literaturpreis Magnesia Litera ausgezeichnet): Hier geht der Fuß der Blauelster in ein chinesisches Schriftzeichen über: Sheng, das Zeichen für Leben. Doch die chinesischen Zeichen sind vieldeutig – wer weiß also, was die Elster mit ihrem Fuß in Wahrheit aufs Papier malt.

Stunden aus Blei - © Foto: Hoffmann und Campe
© Foto: Hoffmann und Campe
Literatur

Stunden aus Blei

Roman von Radka Denemarková
Übersetzt von Eva Profousová
Hoffmann und Campe 2022
880 S., geb., € 32,95

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