Rafael Chirbes und die Wonnen des Schauens

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Der spanische Dichter bereiste für eine Zeitung 15 Jahre lang die mediterrane Welt und schrieb über Städte und Kulturen.

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Der spanische Dichter bereiste für eine Zeitung 15 Jahre lang die mediterrane Welt und schrieb über Städte und Kulturen.

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Meine wachsende Faszination für das Mittelmeer entsprang nicht dem Staunen über Unerwartetes, sondern der schrittweisen Entdeckung geologischer Schichten meines eigenen Seins, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte oder die ich für immer verschwunden glaubte - eine Ausgrabung also."

Der 1949 in Valencia am Mittelmeer geborene spanische Autor Rafael Chirbes lebte jahrelang im rauen spanischen Landesinneren, in Madrid, Avila, Leon und Salamanca. Dann reiste er in alle Himmelsrichtungen dieser Erde. Hochmütig, wie er selbst in seinem neuen Buch "Am Mittelmeer" zugibt, verschmähte er seine Herkunft, die lebensprühende drittgrößte Stadt Spaniens, Valencia.

Bis er von einer Zeitschrift den Auftrag erhielt, die Städte und Kulturen am Mittelmeer zu beschreiben. Er hatte natürlich den Klassiker über den einstigen Mittelpunkt der Alten Welt gelesen: Fernand Braudels Buch "Das Mittelmeer", erstmals erschienen 1949. Als er sich aufmachte, um in einem Zeitraum von 15 Jahren West und Ost, den Norden und den Süden der mediterranen Welt zu erkunden, war das Buch des großen französischen Historikers sein ständiger Begleiter.

Chirbes' Sammlung von Eindrücken und Gedanken fordert den Leser zur aktiven Teilnahme auf, ob er ihn nach Kairo oder Genua, Venedig oder Istanbul, auf die dem tunesischen Festland vorgelagerte Insel Djerba oder nach Rom mitnimmt. An einem dieser Orte war fast jeder. So kann er vergleichen, was für ihn wichtig war und wie ein Schriftsteller auf die Herausforderung des Schauens reagiert. Wer von Fernweh geplagt ist und noch manches zu sehen ersehnt, wird in diesem ungewöhnlichen Buch Hinweise finden für eine neue Art des Reisens. So spricht Chirbes von dem Schlüsselmoment, der eine Reise erst lohnend macht. Wer packt schon gern Koffer ein und aus, schleppt Fotoausrüstung, wartet in überfüllten Flughäfen geduldig auf sein Gepäck, das womöglich nicht ankommt?

Die Rechtfertigung für solches Tun liegt, so Chirbes, in Augenblicken des reinen Daseins, des ruhigen Schauens, in einfachen Begegnungen. Sie wurden ihm reich zuteil auf Kreta, nicht in den "entehrten Ruinen von Knossos", sondern beim Anblick von Fischern, "die sich nach getaner Arbeit zwischen ihren Netzen lagerten oder sich auf die Planken ihrer bunt bemalten Boote setzten, in kleinen Gruppen schwatzten oder vor sich hin dösten und das letzte Licht alles in naher Räumlichkeit hervortreten ließ." Augenblicke, in denen man die Zeit anhalten möchte.

Chirbes ist kein Schwärmer. Er vermittelt auf leichte Art Bildung, gleichsam nebenher, wenn er über die alten Kreter schreibt: "Die Bewohner dieser langgestreckten Insel hatten den Pharaonen die feine Lebensart beigebracht und verächtlich auf die Athener herabgesehen, die sie für Ziegenhirten hielten." Ohne Arroganz analysiert er die heutigen menschlichen Zugvögel aus Nord- und Mitteleuropa, die jeden Winter in Benidorm an Spaniens Küste einfallen, der einzigen Stadt der Muße mit intensivem Winterleben. Vier Millionen suchen dort die laute Gleichförmigkeit. Im Spätkapitalismus kann sich der britische Fabrikarbeiter wie sein norwegischer Kollege mit nachgeschickter Rente leicht einen Aufenthalt in einem der riesigen menschlichen Bienenkörbe von Benidorm mieten und der Sonne huldigen, während bei uns Nieselregen oder Schneegestöber Winterdepressionen hervorrufen.

"Es gibt keine privilegierten Reservate, in die man sich retten könnte: Die Stadt stellt ein Kontinuum dar, in dem alles von dieser beruhigenden Gleichförmigkeit ist, die böse Überraschungen ausschließt, weshalb es vom gemeinen Volk Europas als Vorhof des Paradieses erkannt wird." Die "Intranszendenz", dieses Nicht-mehr-Wollen als Sonne, Bier und Fernsehen, ist aber nicht die ganze Wahrheit des heutigen Mittelmeerraums. Chirbes beweist dies am Beispiel Genuas, dem einstigen Tor zur Welt, heute mehr Kulisse als Realität, einer Stadt, in der man "mit Wonne Geschichte erleben kann", ebenso an Venedig, wohin man fährt, "um zu finden, was man im Innersten zu sein glaubt": schön. Die mediterranen Konstanten Licht, Luft und Wasser entdeckt der Autor auch in Alexandria und Kairo, der größten und kosmopolitischsten Stadt der arabischen Welt, oder in Lyon, wo man vom Norden in den Süden umsteigt, aber natürlich auch in die umgekehrte Richtung. Der Weitgereiste ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Heute lebt Chirbes bei Valencia am Mittelmeer: "Auch ich erkannte mich als Sohn jener naturhaften, deftigen Üppigkeit, die man sich im vergeistigten und trockenen Winter von Kastilien, im dürren Schatten heiliger Reliquienschreine und Grabstätten kaum vorzustellen vermochte."

Am Mittelmeer Von Rafael Chirbes, Antje Kunstmann Verlag, München 2001 220 Seiten, geb., öS 239,-/e 16,77

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