Raffiniertes Schicksalsgeflecht

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Michael Cunningham schrieb eine höchst komplizierte Geschichte mit überraschendem Ende.

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Michael Cunningham schrieb eine höchst komplizierte Geschichte mit überraschendem Ende.

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Drei Geschichten, ein roter Faden, so könnte man die hintergründige Konstruktion von Michael Cunninghams Roman "Die Stunden" zusammenfassen. Dass der rote Faden nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, sondern eine Kombination aus Stimmungen und Gefühlen darstellt, macht den Reiz dieses Buches aus. Es ist der Reiz des Lebens, der alle drei Personen erfasst hat, der Wunsch, hinter die Kulissen zu sehen. Ihre Antriebskräfte beziehen sie nicht unbedingt aus den tristen Lebensumständen, die es zu überwinden gäbe. Gerade weil Cunninghams Romanfiguren glücklich sind, fragen sie nach dem Warum. Denn es ist nur der Wohlstand, der die Menschen in Sicherheit wiegt, ein Wohlstand und ein Frieden, der trügerisch scheint: "Denn der Himmel allein weiß, warum man es so liebt, wieso man es so sieht, so erdenkend, es um sich gründend, es umstürzend, es jeden Augenblick neu erschaffend ... In den Augen der Leute, in dem Schwung, Schritt und Gang, in dem Brüllen und Tosen, den Kutschen und Automobilen, Omnibussen, Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Sandwichmännern; den Blaskapellen; den Drehorgeln; in der Glorie und dem Klingeln und dem seltsam hohen Singen eines Aeroplans da oben war, was sie liebte; Leben; London; dieser Juni-Augenblick."

Im Mittelpunkt des Geflechts von Cunningham steht die Dichterin Virginia Woolf, die erschöpft und seelisch ausgezehrt abseits von London in Richmond lebt und dort an einer Geschichte schreibt, der Geschichte über Mrs. Dalloway. Der Arbeitstitel für diesen Roman heißt "Die Stunden" und die Dichterin kämpft um diese Geschichte, ringt sich die Sätze ab, will der heimeligen Atmosphäre entfliehen. Sie hört Stimmen. Jeden Morgen hofft sie, die Düsternis zu durchdringen, durch verschüttete Gänge vorzustoßen und ihr Gold zu finden. Die Bausteine für ihre Geschichte, von der wir anfangs nur fast beliebig scheinende Sätze kennenlernen: "Mrs. Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen."

Am Beginn der zwanziger Jahre bedeutet die Flucht nur den Versuch, den Zug nach London zu erreichen. Jahre später wird es der Stein im Pelzmantel, der Weg zum Fluss und der Gang ins Wasser sein. Die geglückte Flucht ist der Tod.

Für eine andere zentrale Figur, für Laura Brown, gibt es freilich noch eine andere Form der Flucht. Sie fährt mit ihrem Auto in die nächste Stadt und mietet sich in einem Hotel ein, um dort die Geschichte von Mrs. Dalloway zu lesen. Laura Brown ist mit ihren unbestimmbaren Sehnsüchten und ihren Problemen eine Verwandte von Virginia Woolf. Natürlich hat sich das Inventar in Laura Browns Leben im Vergleich zur Dichterin verändert, denn Laura wohnt 1948 in Los Angeles, hat einen ehemals gefeierten Kriegshelden geheiratet, einen Sohn des Ortes namens Richi, der sie verehrt und vergöttert. Laura ist mit dem zweiten Kind schwanger. "Sie fragt sich, wenn sie einen Einkaufswagen durch den Supermarkt schiebt oder sich die Haare machen lässt, ob die anderen Frauen nicht auch alle mehr oder weniger derselben Meinung sind: Hier ist die Geistesleuchte, die Frau voller Gram, die Frau, deren Freuden nicht von dieser Welt sind, die lieber anderswo wäre, die sich damit abgefunden hat, einfache und völlig dümmliche Tätigkeiten zu verrichten, Tomaten zu prüfen, unter der Trockenhaube zu sitzen, weil das ihre Kunst und ihre Pflicht ist." Diese existentielle Unzufriedenheit ist jedoch nicht nur eine Angelegenheit von Frauen, die auf Herd und Kinder beschränkt bleiben.

Clarissa Vaughan lebt im New York der späten neunziger Jahre und wird von ihrem an Aids erkrankten Freund und Lyriker Richard Mrs. Dalloway gerufen. Die Faszination der Großstadt London ist längst durch die New-York-Phobie abgelöst worden, als Zentrum der Künstler, des Geldes und eines freien Lebens abseits der Konventionen. Wovon Laura Brown noch nicht einmal zu denken wagt, der schüchterne Kuss für ihre Freundin Kitty, der Ahnungen wach werden läßt, dass es auch eine andere Liebe geben könnte, ist bei Clarissa längst Realität, denn sie lebt mit ihrer Freundin bereits 18 Jahre zusammen. Trotz New York, trotz lesbischer Beziehung und trotz Aids haftet auch der Gegenwartsgeschichte rund um Clarissa etwas Altmodisches an, etwas Behäbiges, und dies ist wohltuend in einer hektischen Zeit.

Für die drei Personen in Cunninghams Roman ist Leben ein Abschiednehmen und jeder Tag mit der Illusion verbunden, dass sie glücklicher wären, wenn sie ihre Umgebung verlassen würden. So auch Clarissa, die mit diesem Gefühl lebt: "mehr als glücklich. Sie wird sie selbst sein." Allein bereits das Spielen mit dieser Möglichkeit, das Wissen, "dass sie sich mit Leichtigkeit von diesem Leben verabschieden könnte", gibt dem Leben einen Sinn.

Richard spielt nicht nur mit dieser Möglichkeit des Endes, sondern setzt seinem Leben an dem Tag ein Ende, an dem er mit einem renommierten Preis ausgezeichnet werden soll. Diesen Tag bereitet Clarissa in diesem Buch vor, sie organisiert die Party, kauft die Blumen. Am Ende dieses Tages liegt Richard vor seinem Wohnhaus mit zertrümmertem Schädel auf dem Pflaster und die vier Frauen, die trauern, machen nicht nur mit ihren Gesprächen den überraschenden Endpunkt dieses roten Fadens sichtbar: "Und es gibt nur diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es uns wider aller Wahrscheinlichkeit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben."

Doch die Überraschung, das Ende des roten Fadens sei nicht verraten, soll den Lesern nicht genommen werden. Denn mit seinem Schluss zwingt sie der Autor, das Buch nochmals zu rekapitulieren, zwingt, nachzuschlagen und vielleicht Passagen wieder zu lesen, zwingt zum Innehalten, und vielleicht ist für den einen oder anderen die Auseinandersetzung mit diesem Stück Literatur eine jener überschäumenden Stunden, von der die vier Frauen am Schluss sprechen.

Die Stunden. Roman von Michael Cunningham. Luchterhand Verlag, München 2000. 295 Seiten, geb., öS 291,-/e 21,15

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