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Randbemerkungen zur woche

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NICHT NUR NACH PARTEIPOLITISCHEN MASS-STÄBEN kann das Wahlergebnis des

22. Februar richtig eingeschätzt werden. In keinem der acht seit 1919 verzeichneten Wahlgänge für die gesetzgebende Körperschaft der Republik ist die sich vollziehende strukturelle Veränderung im sozialen Organismus so deutlich geworden wie in dieser letzten Wahl. Die großen Städte wachsen, das Ackerland verliert. Bezeichnend ist, daß in den stark industrialisierten Tiroler vfahl-kreisen die Zahl der zu den Urnen Berufenen in der kurzen Frist von dreieinhalb Jahren um 20.000 (8,4%) gestiegen ist, der Wahlkreis Graz und Umgehung diesmal gegenüber 1949 um rund 10.000 mehr Wähler zählte; den Gipfel erstieg der Wahlkreis Linz und Umgebung, der um fast 16.000 (11,2%) seine Wähler vermehrte. Von den Wiener Wahlkreisen vermochten nur die an det Donau — Wien-Nordost und -Südost — eine sechs- bis fast siebenprozentige Erhöhung gegenüber den 1 bis 2% der meisten übrigen Wiener Distrikte zu gewinnen, eine Zunahme der Ostbezirke, in der kritische Beobachter weniger eine soziale Kausalität als ein sorgfältig und mit Bedacht gepflegtes bevölkerungspolitisches Interesse erblicken wollen. In denselben dreieinhalb Jahren, in denen die verstädterten Bereiche wuchsen — nicht aus einem normalen Bevölkerungszuwachs —, vermochten beispielsweise die Oststeiermark und das Mühlviertel, beide typisch agrarische Landschaften, ihre Wählerziflern nur um 3 beziehungsweise 3,2% und das Viertel unter dem Manharts-berg, eine der Hauptkornkammern Oesterreichs überhaupt nur um 1,9% zu heben. Die sichtbar sich vollziehende Abwanderung von der Scholle bedeutet in der Folge nicht nur eine soziologische Veränderung des Standortes der Menschen, sondern häufig genug politische Umschichtung nach dem Wegsinken ihrer konservativen Umgebung. Die VP hat dies jetzt stark zu spüren bekommen. Die sehr ernsten sozialen Ursachen haben so manchen Verlust der Volkspartei in dem sonntägigen Wahlgang mitbestimmt. Und dieser Zusammenhang hat nicht nur parteipolitisches Gewicht. Eine allzu wahre Warnung sagt: „Das leere Bauernhaus ist eine ebenso große Gefahr für unser Volk wie die leeren Wiegen.“ Die neugewählten Gesetzgeber haben allen Grund, wenn sie der allgemeinen Wohlfahrt dienen wollen, sich nach diesem strengen Wort zu lichten.

AUSGEKÄMPFT IST DIE GROSSE SCHLACHT um die Stimmen von mehr als vier Millionen österreichischer Wähler. Der zur allgemeinen Freude nur sehr spärlich verwendete Leimkübel wandert in die Ecke, die Plakatkrieger aller Couleurs ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus. Sie haben es alle zusammen verdient... Wobei nur die Frage offen ist, ob ihr Verdienst in dem Eifer besteht, mit dem sie sich der Sache ihrer Partei verschrieben haben oder auch in der Aufgeschlossenheit gegenüber den nicht zu überhörenden Appellen zur Zurückhaltung und Schonung des Stadt- und Landschaftsbildes. Nun erinnern nur mehr die Plakate auf den offiziellen Anschlagwänden an die geschlagene Schlacht. Aber auch diese nicht mehr lange. Inzersdorfer Eierteignudel, Nivea-Hautcreme und Corona-Feigenkatiee warten schon darauf, die „Rote Spinne“ und den ,£tempelraab“ sowie die wilden vom VdU losgelassenen Stiere abzulösen. Ihre Uhr ist abgelaufen. Bereits in den Morgenstunden des

23. Februar erschienen einem frühen Wanderer alle diese Schreck- und Warntiere einer fernen mythologischen Vergangenheit zu entstammen. So ist das Leben, so ist die Politik...

KEINE ANGST, WALTER POLLAK! möchte der Verfasser unseres Leitaulsatzes „Ein Probegalopp?“ („Furche“, 7. Februar) gerne seinem freundschaftlichen Kritiker und Leitartikler in den „Oberösterreichischen Nachrichten' (10. Februar) zurufen; er denkt nicht daran, „die kleine Gruppe derer, die — es gibt ihrer in allen politischen Lagern — um das gegenseitige Gespräch bemüht sind, zu verlassen“; er bleibt schon auf jener sehr zu Recht als „schwereren, Geduld und Verstehen verlangenden Straße“. Uebrigens glaubt et sich keiner „Abweichung“ von diesem Kurs schuldig, wenn er, wie es nur seine journalistische Pflicht war, vor gewissen politischen Wegen gleichsam eine Warnungstafel aufgestellt hat mit der Anschrift „Achtung, abschüssige Strecke — nur mit guten Bremsen zu befahren!“ Wir sprechen vom Wiederauftreten des „nationalliberalen Lagers“ in der österreichischen Innenpolitik und im besonderen von det Abgabe seiuet Visitenkarte bei den vergangenen Hochschulwahlen. Zur Klarstellung: alle die angemeldeten Bedenken entsprangen nicht kleinlichem Parteigeist oder chronischer Voreingenommenheit. Für sie ist in den Spalten dieses Blattes kein Raum, wohl aber iür die Sotge um die Zukunft dieses Staates und seines Volkes, det wir uns vor allem verpflichtet wissen. Da bekannt ist, daß der Kritiker zu anderen Zeiten und unter besonderen Umständen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für die Mission Oesterreichs eingetteten ist, haben wir wohl gerade in diesem Punkt mit ihm eine tadellose Gesprächsbasis. Eben darum geht es, ob jenes dritte, wir haben es genannt „historische Sorge der österreichischen Innenpolitik“, auch wirklich ein österreichisches ist — oder wird. Es wäre zu leichtgläubig, immer nur aui die Bekenntnisse der Lippen zu vertrauen, wenn es — man erspare die Autzählung — leider eine Reihe von Beispielen gibt, daß das Herz da und dort dabei nicht mitmacht. Das ist auch der Unterschied zwischen der symbolischen Kornblume und den anderen mehr oder weniger sinnigen Blumen auf dem von den Jungen 1945 gewiß umgegraben geglaubtem „Blumenbeet unserer Politik“. Letztere sind in unserem Heimatboden fest verwurzelt, von der Lieblingsblume Bismarcks aber geht die alte Mär um, daß sie größer und schöner blühe — drüben, dort wo eben nach der Meinung einiger Leute alles größer und schöner ist... Und über allem flattert fröhlich die Europafahne ... (Uebrigens lehrt gerade die gegenwärtige Krise der deutschen FDP, welchen Gefahren eine Partei ausgesetzt ist, wenn sie nach einer bestimmten Richtung hin die Tore allzubreit aufmacht...) Das alles heißt aber nicht, daß die Hoffnung aufgogeben oder gar eine Absage ausgesprochen wurde, auch in jenem dritten Lager Gesprächspartner zu suchen und zu finden. Ansatzpunkte, schwache, sehr einsame Ansatzpunkte wurden namentlich genannt und sogar der ehrliche Wunsch ausgesprochen, daß sie es sind, die mithelfen, jenem Lager „zu einem erfreulicheren Profil“ zu verhellen. (Daß dieser Wunsch ganz etwas anderes meint als gewisse Taktiker des „Antimarxismus“ und Fürsprecher einer „Bürgerblockpolifik“, braucht kaum einer Erwähnung.) Zurückgewiesen, in aller Freundschaft und Freundlichkeit, muß zu guter Letzt die Interpretation des Appells zu einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber der Existenznot unserer jungen Akademiker werden. Mit „materieller Pression“, mit Kaufen durch Postenvergebung hat es wohl nichts zu tan, wenn man — wieder einmal — darauf zu sprechen kommt, daß man die Langmut der in einem schweren Existenzkampf stehenden geistigen Arbeiter nicht überschätzen darf. In anderen Ländern hat eine solche Achtlosigkeit die Verzweifelten der extremen Linken in die Arme getrieben, in Oesterreich geht — wieder eine ,'Tradition“ — in Krisenzeiten der Drall in die entgegengesetzte Richtung. Uebertreibungen? Zu starke Akzente? Niemandem als dem Verfasser des „Probegalopps?“ wäre es lieber, wenn seine Analyse durch die Entwicklung der nächsten Jahre korrigiert würde. Berufliche Eitelkeit beinahe wäre es aber, zu hoffen, daß gerade solche Auslührungen, solche „journalistische Warnungstafeln“ mithelfen, daß der Karrer., In dem wir alle sitzen, nichts ins Schlittern kommt.

WAS OSTERREICH EBEN GLÜCKLICH HINTER SICH HAT, das steht der Deutschen Bundesrepublik noch bevor: voraussichtlich im Spätsommer findet hier die Wahl einer neuen Volksvertretung statt. Zur Zeit erhitzen sich allerdings bereits die Gemüter über den neuen Wahlgesetzentwurf, der zwar mit dem Proporzionalsystem bricht, aber auch nicht kurz entschlossen zum Einserwahlsystem hinüberwechselt, sondern eine nicht unkomplizierte Mischform sein soll. Nach dem Entwurf sollen 484 Abgeordnete gewählt werden, 242 direkt in Einmannwahlkreisen, die andere Hälfte nach dem Verhältniswahlsystem. Jeder Wähler hat eine Haupt- und eine Nebenstimme. Die Nebenstimme kann er einem „artverwandten“ Kandidaten geben, wenn er vermutet, daß sein Kandidat nicht die Mehrheit findet. Direkt gewählt sind dann die Kandidaten, die in den Wahlkreisen die größte Summe von Haupt- und Nebenstimmen aufzuweisen haben. Diese Wahlart soll ermöglichen, daß ein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht; aber der Wähler kann auch den falschen Artverwandten wählen und hilft dadurch dem Gegenkandidaten. Ueber den Begriff der Artverwandtschaft herrscht keine Klarheit, wahrscheinlich sind die Parteien artverwandt, die Koalitionen bilden. Da diese aber nicht in allen Ländern gleich sind, soll allem bisher Verlautbarten nach einzig die Artverwandt-schafl im Bunde zählen. Dagegen wehren sich die Föderalisten genau so wie die Sozialisten. Letztere sehen sich durch so eine Wahl' Ordnung isoliert. Und schon geht das Wort vom „Koalitionssicherungsgesetz' um und macht böses Blut. Und aus dem christlichdemokratischen Lager kommen Stimmen, die kein Hehl daraus machen, daß sie dem klaren unanfechtbaren Persönlichkei tswahlsystem (kleine Wahlkreise und Stichwahlen) den Vorzug gegenüber dem vorliegenden Entwurf geben. Auf jeden Fall: ein Wahlrechtskampf zeichnet sich am Horizont der Bundesrepublik ab, die auch sonst gewiß nicht über politische Windstille zu klagen hat...

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