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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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AUF DER BRÜCKE ZWISCHEN OST UND WEST steht in Oesterreich das Institut für osteuropäische Geschichte und Südostforschung der Wiener Universität. Es beging in diesen Tagen seine Fünfzigjahrfeier. Namen bekannter Wissenschaftler klingen auf, wenn von Südostforschung bei uns die Rede ist: Franz Miklosich, Vafroslav Jagic, Konstantin Jirecek, Hans Uebersberger, Carl Patsch, Alois Hajek, Martin Winkler, Hans Koch und Heinrich Felix Schmid, der jetzt das Institut leitet. Hoffentlich werden die Festgäste aus Belgien, Dänemark, England, Frankreich, der Bundesrepublik, aus der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, der Sowjetunion, Jugoslawien, Italien und den Vereinigten Staaten sich nicht genauer in der Bibliothek erkundigt haben, die zu den größten Fachbüchereien Europas mit ihren 45.000 Bänden und 176 Zeitschriften zählt. Die Gäste würden nämlich erfahren, daß es weder eine geschulte Bibliothekskrpff noch eine Kanzleikraff gibt, dafj ein Teil der 22.000 Karteikarten noch in Pappschachteln aufbewahrt werden muß und daß der Sachaufwand — Amts- und Kanzleierfordernisse — beschämend gering dotiert ist. Ganze 34 Schilling monatlich hat der Jubilar, das Institut für osteuropäische Geschichte und Südostforschung, zur Verfügung, und diesbezüglich weniger Grund, zu jubilieren.

ES WIRD KEIN WEIN SEIN — UND WIR WERDEN AUCH NOCH SEIN... Müssen die Wiener bald ein altes Heurigenlied mit diesem variierten Text singen? Wenn der Rückgang der Weinbauflächen in demselben Tempo, wie bisher fortgeht, kann es bald soweit sein. Allein in Grinzig betrug der Verlust im Jahre 1957 drei Hektar. Derzeit ist eine Friedhofserweiterung im Gang, die acht bis neun Weingärten das Leben kostet. Insgesamt hat der Weinbau im 19. Bezirk-seit 1945 nicht weniger als zehn Hektar eingebüßt. Das Ortsbild Grin-zings als Weinhauerdorf ist bedroht. Noch viel größer ist der Bodenverlust des Gartenbaues. Die „Furche“ stand oft allein auf weiter Flur, wenn sie die Gefahren einer rücksichtslosen Verbauung gerade der alten dorfähnlichen Siedlungen am nordwestlichen Stadtrand aufzeigte. Leider zeigt oft die Gemeinde Wien hier aus politischen Gründen eine Rücksichtslosigkeit, die an die unrühmlich bekannte „Gründerzeit“ erinnert. (Zerstörung der Hohen Warte und des Hungerberges!) Nun hat sich eine offizielle Stimme gemeldet. Der Präsident der Wiener Landwirtschaffskammer, Ministerialrat Dr. Hengl, fordert für Wien ein Grundverkehr s-g e s e f z, wie es für Niederösterreich besteht, um der weiteren Zweckentfremdung von Kulturland, vor allem von Spezialkulfurflächen, einen Riegel vorzuschieben. Eine weitere Zurückdrängung des Weinbaues im 19. Bezirk, vor allem in Grinzing, Sievering, Nufjdorf und Kahlenbergerdorf, würde das gewohnte Bild dieser berühmten Orte völlig vernichten und wäre, abgesehen vom Versiegen des köstlichen Produkts, sowohl vom Standpunkt des Landschaffs- und Heimatschutzes als auch von dem des Fremdenverkehrs eine Katastrophe. Vielleicht gelingt es dem allmächtigen Fremdenverkehr, das zu retten, was Natur und Heimatliebe bisher allein nicht bewahren konnten.

DER KAMPF GEGEN DEN HUNGER ist, wie der in Wien zu Gast weilende Generaldirektor der FAO (Food and Agriculfure Organisafion of the UN, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisafion der Vereinten Nationen) erklärte, zugleich ein Kampf für den Frieden der Welt. Es wäre, so erklärte Mr. Ranjan Sen im Rahmen einer Pressekonferenz, vordringlich, die Nah-rungsmiitelerzeugung zu vergrößern' Heute ist die Lage so, dafj ein Viertel der Menschheit im Ueberfluß lebt, während die restlichen drei Viertel hungern. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich auszumalen, wie die Lage in vierzig Jahren ist, wenn die Weifbevölkerung fünf bis sieben Milliarden zählen wird. Oeslerreich ist an der, Tätigkeif der FAO besonders interessiert. Seit sie 1945 gegründet wurde, empfing unser Land wertvolle Hilfe durch die FAO. Es wurde unter anderen nützliche Einrichtungen, die nach den Zerstörungen der Kriegsjahre doppelt und dreifach wogen, die Bundesanstalt für Virusseuchenbekämpfung in Wien mit Hilfe der Fachleute der FAO errichtet und Ausrüstungsmaterial im Werfe von einer Million Schilling kostenlos beigestellt. Vorher erhielten wir während der drei Jahre zwischen 1953 und 1956 von der FAO kostenlos Impfstoffe, und durch eine Reihe von Stipendien wurden Oesferreichern Studienaufenthalte im Ausland ermöglicht. Ranjan Sen, ein Inder, in vielfacher diplomatischer Verwendung gestanden, wird weiter Oesterreich bereisen. Er sieht In den Fortschritten der heimischen Landwirfschaft ein ermutigendes, weltweites Beispiel. *

DIE WAHLEN IN BELGIEN UND SCHWEDEN.Belgien zieht seit der Eröffnung der Weltausstellung in Brüssel in besonderem Mafje die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit an sich: Es ist eines der wenigen Länder, die allein durch Demonstrationen friedsamer Art immer wieder auffallen, wie etwa durch die Ballonflüge und Tiefseexperimenfe des Professors Picard. Innere Erhitzung tritt nur vorübergehend, im Wahlkampf ein, der seit Jahren ein gewisses Kulturkampfgepräge trägt, da in,ihm nicht außenpolitische Fragen, sondern die Schule im Vordergrund stehen, und einige andere Probleme, die seit Jahren Streitobjekt zwischen den wohl-organisierfen Katholiken und der Christlichsozialen Partei einerseits, den Sozialisten und Liberalen anderseits sind. Nun haben die Wahlen am letzten Sonntag den Christlichsozialen, die bereits 1950 bis 1954 die absolute Mehrheit hatten, dieselbe zurückgebracht. An die Stelle der sozialistisch-liberalen Koalitionsregierung wird nun eine Koalitionsregierung unter christ-lichsozialer Führung treten. Beobachter dieses „Rechtsruckes“ meinen, dafj von Paris her der Schatten de Gaulles über diesen Wahlen lag. Wie immer dem sei: die inneren Verhältnisse und damit auch die Spannungen und das politische Gefälle in Belgien sind sehr ungleich den Lebensfragen der um Existenz und Neugestaltung ringenden französischen Nafion, so dafj aus diesen Wahlen nicht allzu weitgehende Folgerungen gezogen werden dürfen. Gleichzeitig gelang es bekanntlich in Schweden den Sozialdemokraten, ihre Regierung durch einen Wahlsieg zu stärken. SPOe konnte also in Stockholm, die OeVP in Brüssel gratulieren. Symptom des Sich-Einpendelns eines europäischen innerpolifischen Gleichgewichtes, zumindest im Rahmen seiner freieren Hälfte ... *

„VIVE LA FRANCE“ AUF ARABISCH. Fast könnte man glauben, jene wenigen hätten recht, die immer behaupten, die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien sei keine wahre Volksbewegung, und der von der sogenannten Befreiungsarmee, der FNL, gegen die Franzosen geführte Krieg eher als eine von außen her gesteuerte Kefle terroristischer Gewalttaten zu bezeichnen. Was ich mit dem ersten Tag der französisch-nationalistischen Erhebung in Algerien gezeigt hat, ist in der Tat erstaunlich. Große Teile der muselmanischen Bevölkerung schienen von den hochgehenden Wogen des französischen Patriotismus mitgerissen, und dies nicht nur in den vorwiegend französischen Städten oder in Reichweite französischer Garnisonen; selbst aus den entlegensten Gebirgs-dörfern, wo von französisch-gelenkten Kundgebungen oder französischem Schutz gegen Racheaktionen der FNL keine Rede sein konnte, strömten die Leute in Scharen herab, um nach vielstündigem Marsch dem nächst erreichbaren französischen Kommandanten ihre Begeisterung für „l'Algerie francaise“ zum Ausdruckh'Czu bringen. Dieses Phänomen ist nur so zu erklären, dafj die Algerier nichtfranzösischen Stammes nach allen Enttäuschungen, die ihnen die französischen Politiker der Reihe nach bereifet haben, jetzt zum erstenmal das Ziel ihrer Wünsche nähergerückt sehen. Sie vertrauen, anders aber nicht weniger als die französischen Nationalisten, auf General de Gaulle. Von ihm, und ihm allein, erwarten sie die Erfüllung der Zusagen, die sie vor vierzehn Jahren aus seiner Deklaration von Brazzaville herausgelesen haben: Volle Autonomie für Algerien, und die uneingeschränkte Gleichberechtigung aller seiner Bewohner, ohne Rücksicht auf Abstammung, Muttersprache oder religiöses Bekenntnis. So und nur so ist ihr „Vive la France, vive l'Algerie francaise“ zu verstehen.

SINGAPUR WIRD SELBSTÄNDIG. Unbeirrt durch die besorgniserregende Entwicklung im Nahen Osten, in Französisch-Nordafrika, und jetzt sogar in unmittelbarer Nähe, in Frankreich selbst, verfolgt Großbritannien weiter die Politik, die es 1947 mit seinem Rückzug aus Indien eingeleitet hat. Noch vor den- Sommerferien soll das Parlament von Wesfminster ein Gesetz verabschieden, welches die Unabhängigkeit der clfen Kronkolonie Singapur statuiert, unter wenigen, für das neue Staatswesen sicherlich annehmbaren Bedingungen. So soll der dorfige Luft- und Flottenstützpunkt den britischen Streitkräften wie bisher zur Verfügung stehen, und der Rechtsschutz aller nationalen, rassenmäßigen oder religiösen Minderheiten gewährleistet bleiben. Ebenso soll auch in Hinkunff Singapurs Landesverteidigung und die Betreuung seiner auswärtigen Angelegenheiten zu den britischen Agenden gehören, für seine innere Sicherheit aber ist eine Dreiteilung der Verantwortlichkeit zwischen der zur Selbständigkeit gelangten Kronkolonie, Großbritannien und der Malaiischen Föderation vorgesehen. Letztere Bestimmung kennzeichnet bereits den Weg, den Singapur zweifellos und mit tunlichster Beschleunigung gehen wird — zu dem schon aus wirtschaftlichen Gründen beiderseits gebotenen Anschluß an den Bund der malaiischen Staaten. Aber von der 1,250.000 Kopfs zählenden Bevölkerung Singapurs sind rund 900.000 Chinesen und der Rest nur zu einem Drittel malaiischen Stammes. Das bedeutet, daß das schon jefzf im Mittelstand der Malaiischen Föderation weit überwiegende chinesische Element mit dem Anschluß zur numerisch und auch wirtschaftlich stärksten GrupDe in der Gesamfbevölkerung des Bundes avancieren würde.

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