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Randhemerkungen zur woche

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KEINE DROHENDE AXT AM OPERN RING: das ist die gute Nachricht dieser Woche für alle Wiener, die ihre Stadt lieben. Zuerst war es nur eine inoffizielle Meldung, die allerdings bald durch Stadtrat Thaller ihre Bestätigung fand. Nicht nur 35 Ringstraßenbäumen wurde in letzter Minute das Leben geschenkt, sondern auch ein nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Wiener Stadtbild an einer exponierten Stelle verhindert. Daß die Einsicht und die Liebe zu Wien über die Einflüsterungen kaltschnäuziger Experten die Oberhand behalten haben, darüber darf man sich schon freuen. In der Freude stellt man auch alle Rechthabereien, wer das Projekt zu Fall gebracht hat, zurück. Fest steht auf jeden Fall, daß es der starke Widerstand in der Oeffentlichkeit war, der die „Blase“ vor der Oper zum Platzen gebracht hat. Ein Widerstand, der nicht nur gerade von unserem Blatt durch einen Leitaufsatz geweckt und von einer Fraktion im Gemeinderat vertreten wurde. Wir glauben nicht fehl zu gehen in der Ansicht, daß es auch int Lager der Rathausmajorität Menschen gibt, die vor einer Devastation der Ringstraße, die mit der Axt am Opernring — immer wieder muß dies betont sein — nur ihren Anfang genommen hätte, zitrückscheuen. Nun, da Säge und Holzhacke im Winkel bleiben, sind wir auch dem Bürgermeister der Bundeshauptstadt nicht mehr gram, daß er seinerzeit unseren „Offenen Brief nicht beantwortet hat. Diese Antwort ist uns wertvoller. Doch halt — die ganze Angelegenheit hat noch einen Haken. Er liegt in der Sistierung des Projektes bis zur Verkehrsenquete im Herbst. Will man dann vielleicht die nun zum Glück geplatzte Blase wieder steigen lassen — sie vielleicht gar mit neuen „zwingenden Argumenten“ ausstatten? Das darf nicht geschehen. Die Wiener und alle, die ihre Stadt lieben, werden wachsam sein, jenen aber, denen noch immer grüne Bäume ihre grauen Reißbretttheorien vom modernen' Verkehr stören, sei in Erinnerung gerufen, daß der Volksmund nicht umsonst schlechte, stümperhafte Arbeit „mit der Holzhacke gemacht“ nennt ...

ÖSTERREICHISCHE STAATSBÜRGERSCHAFT VON VOLKSDEUTSCHEN NICHT GEFRAGT -so meinen Pressestimmen aus der deutschen Bundesrepublik. Man erwarte „Hilfe aus Deutschland“. Nun, über den Umfang der Einbürgerungen hätte man nur unsere statistischen Nachrichten zur Hand zu nehmen brauchen; über die soziale Betreuung frage man einmal bei der Allgemeinen Invalidenversicherungs-Anstalt in Wien an, die ja einen erheblichen Teil ihres kostspieligen Ermittlungsverfahrens wegen der sozialen Rechte der Volksdeutschen führt — und dies mit Erfolg, und keineswegs mit entsprechender finanzieller Unterstützung der Länder, aus denen wir unsere neuen Bürger empfingen. Linz hat in dem einen Jahrfünft, das budgetär das schwierigste war, 1945 bis 3950, von 30.366 Personen in Lagern den Belag auf I5.7S9 senken können; innerhalb eines Jahres, 3949/50, sank die Zahl der Volksdeutschen um rund 25 Prozent. So viele sind nicht, wie man gleich einwenden wird, ausgewandert, sondern sie haben sich — und mit Erfolg — in den Arbeitsprozeß eingegliedert. Sie haben Industrien aufgebaut, die zu unseren besten Devisenbringern gehet en, und es wäre noch weit mehr auf diesem Gebiete zu leisten gewesen, hätte ncht das Besatzungsstatut uns fortlaufend Prügel vor die Beine geworfen. In Attnang-Puchheim hat sich ein Unternehmen aus Südböhmen seßhaft gemacht, das einen Begriff der Bleistifterzeugung darstellt. Sogleich hat eine bestimmte Seite darin eine Aggression erblickt, als ob man mit Bleistiftspitzen töten könnte. Einen „Lastenausgleich“ gemäß den Planungen der westdeutschen Behörden zu statuieren — also zusätzliche materielle Leistungen für Scliäden, die Volksdeutschen außerhalb Oesterreichs erwuchsen — wie ein westdeutsches Blatt (in Fulda) fordert —, scheitert ganz einfach daran, daß dort in einem Gebiet Maßnahmen getroffen werden, das einer bei uns recht maßgebenden Besatzungsbehörde entzogen ist. Wir hätten mit rein optisch-demonstrativen Maßnahmen nur deren Mißtreuen genährt und jene allgemeine Entspannung verzögert, die eine Hoffnung aller ist, die unsere Bürger wurden, sie werden wollen oder anderweits die Früchte einer entgifteten Politik genießen möchten — und werden.

DIE SOUVERÄNITÄTSERKLÄRUNG DER BONNER BUNDESREPUBLIK am 5. Mai 3955 vollzog sich in einer gespannten innenpolitischen Situation, was nicht nur dadurch zum Ausdruck kam, daß Kanzler, Regierung, Bundestag und Hochkommissare (die sich in wenigen Stunden in Botschafter verwandelten) sich zu den festgesetzten Stunden nicht zusammenfinden konnten, da die einzelnen Parteifraktionen noch erbittert um dieses und jenes rangen. Bundeskanzler Adenauer hat vielleicht nie so sichtbar den Widerstand zu spüren bekommen, die tiefe Kluft, die heute Westdeutschland zerreißt, nicht nur in Bayern, wo der Kampf um die konfessionellen Schulen zwischen der Regierungskoalition und der in der Opposition stehenden CSU zu einem Kulturkampf sich auszuweiten droht. Zwischen der in den letzten Jahren riesig angewachsenen wirtschaftlichen Macht und der seit Generationen im Schwund begriffeneu geistigen, sittlichen und religiösen Substanz besteht ein Mißverhältnis, das nunmehr augenfällig in Erscheinung treten muß, da die Souveränität Westdeutschlands auch äußerlich ein Gewicht an Macht und Potenz zusichert, das sehr bald weltpolitisch sich auswirken wird Es sind die Engländer, die als erste beunruhigt reagieren und in Presse, öffentlichen Reden und im Funk die englische Bevölkerung aufmerksam machen auf die weltpolitischen Probleme, die mit dem Wiedererwachen dieses Giganten gegeben sind. — Der Bonner Kanzler kennt nun seit vielen

Jahren sowohl die inucren Sentiments und Ressentiments deutscher Kreise, Gruppen und Kräfte, die zur „Machtübernahme“ drängen, und sich nicht nur in Niedersachsen recht offen auf das Hjtlersche Vorbild berufen, sondern auch die Ressentiments und Empfindsamkeiten des Westens. Die Größe der staatsmännischen Leistung Konrad Adenauers besteht nicht zuletzt darin, daß dieser rheinische Bürgermeister und Kommunalpolitiker in den Jahrzehnten seines Aufstieges zum Wcltpolitiker und führenden deutschen Staatsmann es gelernt hat, mit großer Umsicht und Vorsicht diese nicht ungefährlichen inneren und äußeren Strömungen und Tendenzen in Rechnung zu stellen. Wenn gelegentlich von seiner Härte und seiner gewissen Enge gesprochen wird, dann sollte doch gerade bei diesem gegebenen Anlaß, der Sou--veränitätserklärung der deutschen Bundesrepublik, festgehalten werden: Dr. Adenauer hat es verstanden, ein ungeheures Mißtrauen des Westens gegenüber den „deutschen Ungewißheiten“ in jahrelanger planvoller Arbeit zu überwinden; das ist eine staatsmännische Leistung ersten Ranges; sie wird in eben dem Moment weltpolitisch und vielleicht weltgeschichtlich ihr ganzes Gewicht entfalten, in dem sich Bonn anschickt, unter der Führung dieses Mannes die fälligen Kontakte mit Moskau aufzunehmen. Dafür ist eben jetzt der Zeitpunkt gekommen. Nach dem Abschluß in Oesterreich, um Oesterreich.

BERN HAT SEIN „SUDETEN“PROBLEM. Ist es denkbar, daß in der ethnisch, sprachlich und kulturell so vorbildlichen und ausgeglichenen Schweiz ein Problem existiert, das auch nur im entferntesten mit dem „Sudeten“problem verglichen werden könnte? Doch, es gibt so etwas in der Schweiz. Es ist das Problem des „Jura bernois“. Der Kanton Bern hat nach dem Wiener Kongreß einen territorialen Zuwachs erhalten: das Gebiet des Jura, das bis dahin zum Fürstbistum Basel gehört hatte. Bei der großen Rolle, die die Tradition in den Schweizer Kantonen spielt, war das Zusammenwachsen der zu 90 Prozent französischsprachigen Jurassier mit den „berndütsch“ sprechenden Einwohnern des alten Kautonteils keine einfache Aufgabe: auch die Gegensätze'zwischen den jurassischen Katholiken und Wiedertäufern einerseits und den Angehörigen der bernischen reformierten

Landeskirche anderseits waren nicht von einem Tag auf den anderen, ja auch nicht von einem Jahrzehnt auf das andere zu überwinden. Man ist überrascht, zu erfahren, daß erst seit 1950, also seit vier Jahren, die französische Sprache, die im allgemeinen die Muttersprache der Jurassier ist, im Staatsrat und Großen Rat des Kantons Bern, der Regierung und dem Parlament des Kantons, offiziell gebraucht werden darf; toleriert wurde sie freilich auch zuvor, da die überwiegende Mehrheit der Jurassier das Deutsche gar nicht beherrscht. Daß es folgerichtig auch Spracheudebatten bezüglich offizieller Formulare usw. gab, wird der wohl verstehen, der ähnliches im alten Oesterreich erlebt hat. Vor vier Jahren hat Bern die jurassische Volksgruppe als solche anerkannt. Heute hat der Jura — im Rahmen des Kantons Bern — eine eigene Fahne, die neben der bernischen Fahne ausgehängt werden darf: heute sind zwei Mitglieder der bernischen Kantonalregierung Jurassier. Ist der Vergleich mit der Tschechoslowakei von 1937 möglich, wo es auch drei sudetendeutsche Minister in der Prager Regierung gegeben hat? Es gibt jurassische „Aktivisten“, die den Kanton Bern bejahen und in seinem Rahmen die notwendigen Verbcsserungen steuerlicher, Verkehrs- und verwaltungstechnischer Art für den Jura zu erzielen bemüht sind. Es gibt aber auch eine jurassische Separatisten“ bewegung, die unter Hinweis auf die Grundverschiedenheit von Tradition und Menschentypus eine Loslösung des Jura aus dem Kanton Bern und die Schaffung eines neuen Schweizer Kantons Jura anstrebt. Die Berner bemühen sich, den jurassischen Separatismus vor allem mit dem Argument zu erledigen, daß ein eigener Kauton Jura nicht lebensfähig wäre: die „Freien Jurassier“ entgegnen dem, daß es viel kleinere und wirtschaftlich problematischere Kantone innerhalb der Eidgenossenschaft gebe, als es ein Kauton Jura wäre — und daß sich bei gutem Willen „freuudeidgenössisch“ eine Lösung Im Rahmen der föderalistischen Struktur der Schweiz finden lassen müßte. Das verfassungsrechtliche Mittel der „freien lurassier“ besteht in der Durchsetzung eines Volksbegehrens auf ganzstaatlicher Grundlage; aber es ist a priori sehr fraglich, ob die an dem Problem nicht direkt interessierten Kantone in einer Volksabstimmung genug Stimmen zugunsten eines Kantons Jura aufbrächten. Soweit man überhaupt eine Prognose stellen kann, würde eine solche Abstimmung vielleicht in der französischsprachigen „Suisse romande“, der „welschen Schweiz“, im Sinne der Separatisten ausfallen, kaum aber in den alemannischen Kantonen.

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